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Die Frau im Aufzug
Ich stehe vor dem Aufzug. Mein Blick fällt auf die Anzeige, aber der Lift kommt einfach nicht. Die Aufzugstür bleibt verschlossen und ich sehe in die Augen einer starken und gutherzigen Frau. Ich denke in ihr jemanden zu erkennen, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe, jemanden, der verletzt wurde, geschwächt, aber dann ist es doch wieder weg, wie ein Windhauch, der nur für kurze Zeit meine Wange gestreift hat. Endlich ist der Aufzug da. Die schweren Türen öffnen sich und eine Menschenmenge strömt heraus. Ich betrete ihn langsam und drehe meinen Rücken der Wand zu. Die Türen beginnen schon sich zu schließen, als ich plötzlich eine junge Frau hastig durch die Eingangshalle auf den Lift zu rennen sehe. Schon ist mein Fuß zwischen die Türen geschnellt und die Frau stürmt herein. Hektisch drückt sie auf einen der Knöpfe und sieht ängstlich zwischen den sich schließenden Aufzugstüren hindurch. Während sich der Aufzug langsam in Bewegung setzt, sehe ich die Frau an, die ihren Kopf dem Boden zugewendet hat. Sie keucht noch ein wenig von dem Lauf, aber ihr Atem scheint sich zu beruhigen. Mein Blick gleitet forschend über das Mädchen, das nicht viel älter als meine 16 jährige Nichte aussieht. Ihre Haare sind zerwühlt und die obersten Knöpfe ihrer Bluse sind offen. Als meine Blicke über sie streifen, blickt sie zu mir auf. Ihre Augen zeigen Angst und Trauer. Ich versuche den Blick von ihr zu lösen, aber diese tiefblauen Augen halten mich in ihrem Bann. Plötzlich macht der Lift einen heftigen Ruck und die junge Frau fällt zu Boden. Ein paar Sekunden sehe ich sie nur benommen an, aber nach kurzer Zeit komme ich wieder zu mir. Das Mädchen, das auch etwas geschockt war, richtet sich langsam wieder auf. Wir scheinen im Lift festzustecken, aber ich habe es nicht eilig. Ich lehne mich gegen die Seitenwand des Liftes und blicke die junge Frau, die sich nun mir gegenüber hingestellt hat, an. Ihre Augen haben einen Schleier an sich, der mich an etwas erinnert. Ich sehe genauer hin und plötzlich sehe ich es wieder. Es sind nur ein paar kurze Szenen, die mich an das erinnern, was damals geschehen ist. Ich bin mir sicher, dass es etwas zwischen uns gibt. Ein Band, vielleicht ein vergleichbares Schicksal. Es scheint als würde ich mich selbst in ihr wieder sehen. Das Mädchen in mir, die ängstliche junge Frau, der das Schrecklichste widerfahren ist, was einer Frau passieren kann. Ich erinnere mich nun wieder an die Stunde, in der all das geschehen ist, was mein Leben für immer veränderte. Ich kann noch heute genau den Raum beschreiben, der die Grabstätte meines naiven Kinderglaubens an das Gute im Menschen war. Es gab keine Fenster, die Wände waren kahl und nur ein kleines Klappbett stand in der Mitte des kleinen Raumes. Es gab keinen Fluchtweg und ich war zu schwach um mich in irgendeiner Weise zu wehren. Ich werde es nie vergessen können, wie er damals auf mich zu kam und mich ruinierte. Der Mann, der meine Familie für immer zerstörte, er, der es mit einem kühlen Lächeln tat.
Ich wache wieder aus meinen Gedanken auf und merke, dass die junge Frau weint. Zuerst fließt nur eine winzige Träne ihre Wange hinab, aber kurz darauf ist ihr Gesicht überflutet. Sie schluchzt und schluchzt. Obwohl ich die Frau nicht kenne fühle ich mich schuldig und doch mit ihr verbunden. Ich beginne nun heftig mitzuschluchzen und auch bei mir fließen Tränen. Wir sehen uns lange an und es scheint als hätte auch sie unsere Zusammengehörigkeit erkannt. Es scheint eine geheimnisvolle Spannung zwischen uns beiden zu geben und dann erkenne ich mich plötzlich wieder. Ich kann es einfach nicht glauben, doch es scheint mir, als würde ich in einen Spiegel blicken. Doch in dem Spiegel ist mein altes Ich. Das verzweifelte, unsichere, traurige Mädchen.
Meine Erinnerungen ziehen mich nun immer mehr in ihren Bann. Ich muss an meine Mutter denken. Meine Mutter, die damals nichts davon wissen wollte, die meinte, dass ich mir das einbilde. Ich erinnere mich noch an ihre Worte. Ihr Freund sei nicht „so Einer“! Aber ich wusste was passiert war. Für mich war das Schlimmste jedoch, dass mir meine Mutter nicht vertraut hatte. Ab diesem Zeitpunkt versperrte ich meine Schlafzimmertür und wich ihm aus. Jede Nacht wachte ich schweißgebadet auf, jedes Klopfen, jedes Rascheln ließ mich zusammenzucken. Ich konnte mit niemandem mehr reden und unterdrückte einfach jede Art von Gefühlen. Mit fünfundzwanzig Jahren wurde ich schließlich für labil erklärt und verbrachte somit fünf Jahre meines Lebens in einer Psychiatrischen Anstalt. Anfangs konnte und wollte ich mich nicht öffnen, aber nach und nach halfen mir die Ärzte und meine große Schwester, die dem Freund meiner Mutter damals ausgekommen war, über diese Barriere hinweg. Nach langem gemeinsamem Arbeiten lernte ich damit umzugehen. Trotzdem konnte ich die Verbindung zu meiner Mutter nie wieder aufbauen, denn die Einzige, die mir in dieser Zeit Hoffnung gab, war meine Schwester. Ohne sie, wäre ich an diesem schrecklichen Erlebnis wohl zugrunde gegangen.
Ich sehe wieder die junge Frau an. Sie hat ihren Blick zu Boden gewendet gehabt, doch auch sie sieht mir jetzt wieder direkt in die Augen. Wieder ist diese Vertrautheit, dieser Spiegel in die Vergangenheit da. Nun habe ich einen Entschluss gefasst.
Plötzlich macht es einen Ruck. Auf den ersten Schreck folgt ein erleichtertes Aufatmen von uns beiden. Der Aufzug ist wieder in Bewegung und fährt langsam seinem Ziel entgegen. Gleichzeitig strecken die junge Frau und ich unsere Hände aus. Mit einem festen, vertrauten Griff drücke ich ihre Hand ganz fest und sage zu ihr, und in einer gewissen Weise auch zu dem Mädchen von damals: „Wir haben beide Schreckliches durchgemacht. Mir wurde erst nach Jahren der Qualen geholfen. Ich will, dass du nicht so lange warten mußt. Ich will dir helfen, damit du dieses schreckliche Erlebnis überstehen kannst. Lass es uns gemeinsam durchstehen!“ Die junge Frau nickt mir zu und ein kleines, dankbares Lächeln huscht über ihre Lippen.
Als sich die Aufzugstüren öffnen, treten wir beide, mutig und gestärkt in die Zukunft hinaus.