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Die Frau im Sommerkleid
Die Frau im Sommerkleid
Die Bremsen eines eintreffenden Eilzuges quietschen. Die Bahnhofsdurchsage verkündet, dass sich der Zug aus Stuttgart um eine halbe Stunde verspäten wird. Reisende steigen aus Zügen aus, begrüßen Freunde, Verwandte, Bekannte. Eilen zu den Taxiständen und zur Straßenbahn. Ein junges Paar hält sich minutenlang in den Armen, ehe sie in einen ICE einsteigt. Er läuft die Fensterreihen entlang um sie noch einmal zu sehen. Wirft ihr eine Kusshand zu, als er sie entdeckt. Ein alter Mann mit ungepflegtem, wirrem Haar und einer orangefarbenen Jacke sammelt herumliegenden Müll ein. Ein paar Junkies drücken sich vor der Bahnhofstoilette herum. Warten auf den nächsten Schuss. Geschäftsmänner mit schwarzen Aktentaschen und dunkelblauen Nadelstreifenanzügen eilen durch die Menge, diskutieren laut und gehetzt über ihre Handys mit Sekretärinnen, Geschäftspartnern, Vorgesetzten. Eine Frau ruft ihrem sechsjährigen Sohn, der eine rote Schirmkappe trägt, hinterher als er sich von ihrer Hand losreißt. Menschen trängen sich vor einem Kiosk. Kaufen Zigaretten oder die neueste Ausgabe der Zeitung.
Die tausend Einzelgeräusche der Menge vereinen sich zu einem nie abklingenden, monotonen Laut. Die Luft ist heiß, abgestanden, klebrig.
Und mitten drin steht das Mädchen im Sommerkleid. Vielmehr eine junge Frau, doch der einfache, figurunbetonte Schnitt des geblümten Stoffes verbirgt die weiblichen Rundungen ihres Körpers. Unter ihrem ländlich wirkenden Strohhut kringeln sich feuerrote Locken widerspenstig in alle Richtungen. Ihr von Sommersprossen übersätes Gesicht ist blass. Die grünen Augen stechen mit einer besonderen Intensität hervor.
Still steht sie da, vereinsamt, als habe sie niemanden, der auf sie warte und als wüsste sie nicht, wohin. Die Blicke der Vorrübereilenden scheinen zu sagen: “Was willst du hier? Hier in einer Großstadt! Geh zurück aufs Land!“
Und steht sie auch noch so unbeweglich da, ihre Augen wandern rastlos umher, als suchten sie einen Halt, etwas Greifbares, Beständiges. Plötzlich bleiben ihre Augen an etwas hängen. An jemandem. Ein kleiner Junge mit einer roten Schirmkappe. Er steht zwischen all den an ihm vorbeidrängenden Erwachsenen weinend auf dem Bahnsteig. Genauso allein und verlassen wie die Junge Frau im Sommerkleid. Lange sieht sie ihn an. Als erkenne sie ihre eigene Verlassenheit, ihre eigenen Ängste in ihm. Da hört der Kleine auf zu weinen. Er hat ihren Blick bemerkt, erwidert ihn. Sie geht auf ihn zu. Langsam, unentschlossen zuerst, dann jedoch schneller, energischer. Als sie bei ihm angelangt ist, kniet sie sich, ungeachtet des schmutzigen Bodens, vor ihn nieder, lächelt ihn an und fragt sanft: „Hast du deine Mama verloren?“ Durch einen Tränenschleier nickt er zögernd.
„Wie heißt du denn?“ fragt sie und als er weiter schweigt, fügt sie hinzu: Ich heiße Annemarie, aber sag ruhig Anne, das ist einfacher.“
„Lukas“, antwortet da der kleine Junge mit einem Schniefen. Nur Lukas, sonst nichts. Und als sie ihn fragt, ob sie ihm helfen solle, seine Mutter zu suchen und ihre Hand ausstreckt, da legt er schon fast vertrauensvoll seine kleine Hand in die ihre. Und als die beiden, Hand in Hand, den Bahnsteig entlanggehen, sind sie nicht mehr alleine gegenüber der großen, anonymen Menge.
Minutenlang streifen die beiden umher. Da taucht eine Frau aus der Menge auf und schließt den kleinen Jungen in ihre Arme. „Endlich hab’ ich dich gefunden!“
Dann erst bemerkt sie die Frau in dem Sommerkleid und das Kind erzählt eifrig und mit hoher Stimme, dass sie ihm geholfen habe. Die Mutter bedankt sich und heißt ihren Sohn, das selbe zu tun.
Mit kindlicher Zuneigung umarmt das Kind die Frau. Dann drückt es ihr eine Blume in die Hand, die die Frau zuvor gar nicht bemerkt hatte. Und schon sind Mutter und Kind in der Masse verschwunden.
Zurück bleibt die Frau im Sommerkleid, in ihrer Hand eine, von klebrigen Kinderfingern leicht zerdrückte, angewelkte Margarite.
Die Frau lächelt und verlässt das Bahnhofsgebäude. Immer noch allein, doch nicht mehr einsam.