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Die Frucht meines Leibes
Wenn ich an die Zeit vor der Empfängnis zurückdenke, so scheint es mir, als wäre mein Leben in jenen Tagen ohne jegliche Bedeutung gewesen. Ich wachte und schlief, ich aß und trank, ich liebte und zürnte, und wenn ich auch viel gearbeitet hatte, so waren die Ergebnisse meiner Tätigkeiten doch stets immer nur etwas Ersetzbares gewesen, dessen Werthaltigkeit von der rasenden Zeit dahingerafft wurde. Wie beneidete ich die Frauen, die Kinder gebaren. In jenen Monaten, in denen sie schwanger gingen, glichen sie gottähnlichen Wesen. Leben wuchs in ihnen heran, und mit der Geburt erschufen sie eine neue, einzigartige Welt. Mir blieb dieses Glück über so viele Jahre versagt; allein der Gedanke daran wäre töricht gewesen.
Nun aber reift auch in mir ein neues Leben. So unmöglich es auch erscheinen mag, so wenig erkennbar es für andere auch ist, ich fühle es in mir. Es gedeiht überraschend schnell. Die Niederkunft wird schon bald sein, vielleicht schon in der kommenden Nacht. Längst habe ich die Existenz dieser undenkbaren Realität akzeptiert. Dennoch wage ich es nicht, Gott dafür zu danken; zu blasphemisch erscheint mir dieses Ansinnen.
Ich bemühe mich um die größte Sorge für die Frucht meines Leibes. Seit meiner Erkenntnis rauche ich nicht mehr. Ich esse viel Obst und Gemüse. Abends vermeide ich die geselligen Treffen bei einem Glas Rotwein. Es genügt mir vollauf, in meinem Bett zu liegen und die Wärme der nachmittäglichen Frühlingssonne auf meinem Gesicht zu spüren. Wenn ich die Augen schließe und meine faltigen Hände die beiderseitigen Schutzgitter umfassen, empfinde ich die wundervolle Symbiose bis in die letzte Faser meines Körpers. Mir ist dann beinahe, als könne ich das Leben in mir kraftvoll umarmen, es wärmen und liebkosen.
Meine Pfleger zeigen kein Verständnis für meine Situation. Unwissend, wie sie sind, kann ich es ihnen nicht einmal verdenken. Sie sind auf eine rührende Weise um mich besorgt, wenn ich auch den Ekel, den sie beim Anblick meiner zunehmenden äußerlichen Absonderlichkeiten empfinden, nicht hinwegleugnen kann.
Es begann vor drei Monaten. Nach meinem fruchtbringenden Traum litt ich an hohem Fieber, und wie die behandelnden Ärzte glaubte auch ich zunächst an eine Erkältung. Sie injizierten mir eine gelbliche Flüssigkeit, verschrieben mir mehr Tabletten als sonst üblich. In meinem Alter konnte eine solch fiebrige Erkrankung ernste Folgen haben. Als die Hitze in meinem Körper nach Tagen wieder auf Normaltemperatur sank, waren die Ärzte zufrieden.
Schon bald darauf begannen die erniedrigenden Anfälle von Übelkeit, die ich nicht zu kontrollieren vermochte. Einmal erbrach ich mich bei einem der täglichen Spaziergänge durch den heimeigenen Park. Dem begleitenden Pfleger gelang es, meinen nach vorn gebeugten Körper zu stabilisieren und mich vor einem Sturz zu bewahren. So besudelte ich meine Schuhe und den Kiesweg mit dem Halbverdauten, indessen andere Bewohner diese beschämende Szene aus angemessener Entfernung betrachteten. Ein anderes Mal übergab ich mich während des gemeinsamen Mittagessens im Speisesaal. Der Anblick des von Fettsträngen durchzogenen Bratens in seiner dunklen, sämigen Soße mit den kleinen weißen Bohnen darin erzeugte in mir einen tiefen Widerwillen. Als ich mich dann aber doch hungergetrieben überwand und etwas von der scheußlich anzusehenden Kost in den Mund führte, konnte ich nicht mehr an mich halten. Mir war, als kaute ich auf einem verdorbenen Stück Fleisch, in dem sich ein weißes Volk aus Maden und Larven zitternd wand. Ich erbrach mich auf meinen Teller. Die angespeichelte Masse klatschte zusammen mit dem bitteren Inhalt meines Magens zurück in die dampfende Abscheulichkeit vor mir, und es spritzte nach allen Seiten davon, auf mein Hemd, auf die Tischdecke, auf die Teller mir gegenüber und zu meinen Seiten. Einige meiner Tischnachbarn pressten die Hände vor den Mund und würgten. Zwei Pfleger rissen mich von meinem Stuhl und zerrten mich fluchend zum Krankenzimmer, während mir ein galliges Sekret aus der Nase tropfte und mein Magen wie zerrissen schmerzte.
Die Ärzte bemühten sich, so sehr sie konnten. Schließlich suchten sie gar nach bösartigen Wucherungen in mir, aber sie fanden nichts. Sie sagten, ich sei ihnen ein Rätsel. Also taten sie, was sie immer taten: sie verschrieben mir mehr Medikamente.
Tatsächlich ging es mir bald schon besser. Die eitlen Mediziner schrieben es ihrem Behandlungsgeschick zu. Ich aber spürte, daß es keinesfalls an den pharmazeutischen Verabreichungen lag. Es war nichts weiter als der Übergang von einem Stadium in ein anderes innerhalb eines überwältigenden Entwicklungsprozesses.
Wie hätte ich diesen vermessenen Studierten auch begreiflich machen können, was mir allmählich zur Gewißheit geworden war. Ich hatte empfangen. Die rationale Unmöglichkeit dieses Umstandes kümmerte mich nicht. In mir wuchs ein Leben heran, das sich zunehmend zu erkennen gab. Mein Ungeborenes und ich tanzten einen symbiotischen Walzer, der uns immer enger zusammenführte.
Zunächst machte es sich nur auf einer geistigen Ebene bemerkbar. Es ergriff Besitz von meinen Gedanken; erst nur verborgen in einer kleinen Nische, doch bald schon in einer periodisch wiederkehrenden gänzlichen Umarmung. In dem Maße, in dem es in mir heranreifte, reiften auch meine Gedanken. Ich erkannte die Sinnlosigkeit der Bestrebungen meines langen Lebens. Stets hatten mich Schuld und Sünde und der Wunsch nach Vergebung durch das Labyrinth meiner Jahre getrieben, und doch war ich nur an Mauern gestoßen. Jetzt endlich gewann ich die verzweifelt herbeigesehnte Wahrheit; der überlegene Geist meiner Frucht wies mir den Weg hinaus. Es gab keine Schuld, es gab auch keine Sünde. Sie erzeugten nur Angst und führten zu angepaßten und in Formen gepreßten Individuen, die sich schließlich halberstickt durch die Gossen einer verkommenen Gesellschaft schleppten, weil ihnen die Mächtigen durch ihre selbstgefällige Gesetzgebung und Anordnung von standeswahrenden Sanktionsmechanismen jede Luft zum Atmen raubten. Anarchie war der Weg, und so deutlich ich dies nun sah, so unverständlich war es mir, daß ich es in all den Jahren nie erkannt hatte. Ich trug keine Schuld, und noch viel weniger konnte man mich der Sünde bezichtigen. Meine traurige Senilität schwand dahin, und ich fühlte mich zum ersten Male in meinem Leben gänzlich frei.
Das Leben in mir gab mir zu verstehen, daß es eins werden wolle mit mir, und ich gierte von Tag zu Tag mehr nach diesem heiligen Augenblick, der die rostzerfressenen Eisenstäbe meines Käfigs endgültig dahinschmelzen würde.
So ertrug ich auch die aufgrund der zunehmenden physischen Präsenz meiner Frucht eintretenden Veränderungen und Schmerzen mit Demut. An manchen Tagen bildeten sich kleine Erhebungen auf meinem Körper und wanderten scheinbar ziellos umher, als bewegten sich blinde Käfer unter meiner Haut. Die wenigen mir noch verbliebenen Haare fielen aus. Gleichermaßen als Ersatz wuchsen mir an Armen und Körper borstendicke schwarze Haare. Es brannte wie Feuer, wenn sich meine Poren bis auf das Äußerste dehnten und sie in meiner betagten Phantasie schreienden Mündern glichen, aus denen winzige schwarze Zungen krochen. Meine Augen quollen aus ihren Höhlen hervor; ein steter Rinnsal aus klebrigen Tränen näßt seitdem meine Wangen. Die von der Gicht verunstalteten Hände streckten und krümmten sich ohne mein Zutun, ganz so, als sollte ihre jugendliche Geschmeidigkeit durch diese peinigende Prozedur zurückgebracht werden. Die Nägel meiner Finger färbten sich allmählich braun, bis sie schließlich faulig verformt abfielen und das rohe Fleisch darunter zum Vorschein kam. Nachdem ich mir wiederholt beim Einsetzen meines Gebisses die oberen Zähne in das nunmehr ungeschützte Gewebe meiner Finger gebohrt hatte, wurde ich vorsichtiger denn je im Umgang mit meinen leidgeprüften Händen, bis schließlich die Pfleger zur Vermeidung weiterer eitriger Entzündungen meine Fingerkuppen mit kleinen Gazepolstern und Pflastern abklebten.
Es erfüllt mich immer noch mit ehrfürchtigem Staunen, daß dies alles vor erst drei Monaten begonnen hat. Damals hatte ich den Traum; jedenfalls empfand ich ihn als solchen. Wie es auch geschehen sein mag, es ist geschehen. Ich werde gebären. Das ist die Wahrheit. Die einzige Wahrheit.
Ich träumte von einer Frau. Inmitten einer öden Landschaft, deren staubiger Boden sich nach allen Seiten hin endlos bis zu seiner Vereinigung mit dem Horizont erstreckte, trat sie auf mich zu. Sie war jung und so wunderschön, wie es nur ein Traum erlaubt. Ihre Haare hingen wie Samt auf ihren Rücken hinab. Ohne Scheu ließ sie ihren togaähnlichen Umhang zu Boden gleiten. Dann knöpfte sie mein Hemd auf und warf es achtlos fort. Sie preßte ihren makellosen Körper an mich und küßte mit ihren sinnlichen Lippen meinen Mund. Ich spürte ihre vollen Brüste und schloß die Augen. Mein Glied erigierte, was so viele Jahre nicht mehr geschehen war. Ihre Hände streichelten sanft über meinen Rücken, während sich etwas anderes zu ihnen gesellte, etwas Rauhes, Schuppiges, das entlang der Wirbelsäule auf meinen Nacken zukroch. Ich warf einen Blick unter den Augenlidern hervor und bemerkte einen armdicken schlingernden Schatten zu meiner Rechten. Aber ehe ich es noch genau erkennen konnte, schloß ich die Augen erneut und gab mich ganz dem mir so lange versagten ekstatischen Gefühl hin. Als die Frau ihre Lippen von den meinen löste, legte sie ihre Hände auf meine Wangen und gebot mir, die Augen geschlossen zu halten. Die Vorahnung von etwas Großem, das nun unausweichlich geschehen würde, ließ mich schwindeln. Die Frau hauchte mir ihren süßen Atem ins Gesicht. Mir wurde kalt. Einem widerhakenbewehrten Tentakel gleich bohrte sich etwas in meinen Nacken. Damals wußte ich noch nicht, was ich heute weiß: sie hatte mir ihren Samen eingeflößt. Bevor mein träumendes Bewußtsein von einer dunklen Ohnmacht umfangen wurde, hörte ich sie noch mit einer bebenden Stimme sagen, daß es nun endlich vollbracht sei.
Nun, es ist noch nicht gänzlich vollbracht. Erst in der Nacht wird das vollendet sein, was vor drei Monaten begann. Ich werde einen König zur Welt bringen. Ein Irrtum ist nicht möglich; unverkennbar fühle ich seine majestätische Kraft in mir.
Kaum kann ich ruhig liegen, da ich an die Niederkunft denke. Es erfüllt mich mit Stolz und unendlich viel Liebe, auch wenn ich weiß, daß die Frucht meines Leibes diese Liebe nicht erwidert. Der König ist der Liebe nicht fähig. Wieviel greifbarer spüre ich dagegen seinen grenzenlosen Haß, einen Haß, der so rein ist, daß ich vor Ehrfurcht auf die Knie sinken möchte.
Ich werde den morgigen Tag nicht mehr erblicken. Die Ankunft des Königs steht unzweifelhaft bevor. Ich muß weichen, damit er herrschen kann. In den letzten Monaten habe ich alles getan, ihm ein guter Vater zu sein. Jetzt kommt seine Zeit. Ich kann es kaum erwarten.