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Die Gefangenen

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11.11.2004
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Die Gefangenen

'Die führt sich auf wie ein Kerl', dachte Johanna, die an der Schulhofmauer lehnte und ihre Pausen-Cola trank. Tatsächlich war Julia ein burschikoses Mädchen. Julia stand mit einer Gruppe Mädchen und Jungs aus ihrer Klasse auf der gegenüberliegenden Seite des Schulhofs und ihr Lachen übertönte die Stimmen aller Schüler im Hof. Durch ihre feste, dunkle Stimme wirkte sie reifer als die anderen 15-jährigen Mädchen und sogar als einige der Jungs. Wie ein Kerl allerdings sah sie nicht aus, auch wenn sie nicht wirklich attraktiv, aber auf eine bestimmte Art doch hübsch war.

'Sie will um jeden Preis auffallen', war Johannas nächster Gedanke und sie wunderte sich, warum sich fast die ganze Klasse um diese Zicke scharte. Johanna stand allein neben dem Eingang der Schule, kein Mitschüler gesellte sich zu dem Mädchen, das immer etwas abwesend wirkte. Sie war eine gute Schülerin, eine sehr gute sogar. Als Streberin hätte sie sich allerdings selbst nie bezeichnet. Ihr fielen die Dinge halt einfach so zu. Naturtalent.

Julia ging in die gleiche Klasse wie Johanna, aber die beiden hatten in den vier Wochen seit sie zusammen die 9. Klasse des Johann-Wolfgang-von-Goethe-Gymnasiums besuchten, noch keine zehn Worte miteinander gewechselt. Julia, obwohl neu an der Schule, hatte sofort fast alle Klassenkameraden auf ihre Seite gezogen und war mit jedem befreundet. Mit jedem, außer mit Johanna. Die war einfach zu eigen, kümmerte sich hauptsächlich um ihre Bücher und Hefte, wusste zwar auf nahezu alle Fragen der Lehrer eine Antwort, machte sich jedoch bei ihren Mitschülern durch ihre unnahbare Art, von manchen als Arroganz betrachtet, nicht gerade beliebt.

Der Pausengong ertönte. Julia drehte sich fast zeitgleich mit dem Signal um und führte die Gruppe mit weit ausholenden Schritten zurück zum Schulhaus. Ihr Blick streifte Johanna, die abwartete, bis ihre Mitschüler vorbei waren.

'Komische Tusse', dachte Julia, 'Hübsch ist sie ja, aber warum redet sie mit keinem? Fühlt sich wohl als was besseres.' Johanna vermied den Blickkontakt zu ihren Klassenkameraden. Sie wollte nicht unnötig provozieren. Außer Julia hatte jedoch ohnehin keiner von ihr Notiz genommen.

Die nächste Stunde hatten sie Mathe und Julia fiel die Schulaufgabe ein, die nächste Woche anstand.

'Mann, ich kapier rein gar nichts von dem Zeug,' dachte sie erschrocken, während der Lehrer versuchte, die Neuntklässler in die tieferen Geheimnisse der Algebra einzuweihen.

'Das schaff ich nie, das bis nächste Woche zu raffen. Da kann ich mich noch so reinhängen.'

Julia fiel plötzlich das Mädchen ein, das da so unscheinbar an der Tür gelehnt hatte. Johanna war ihr Name, oder? Der Mathe-Champion der Klasse. Sie hatte bisher nicht viel mit ihr geredet. Wie sollte sie diesen überspannten Zwerg ansprechen?

Julia achtete die nächsten zwei Schulstunden besonders auf Johanna und war sich schließlich sicher. Die Kleine musste ihr helfen, egal wie. Wenn sie schon so früh im Jahr eine schlechte Arbeit ablieferte, würde sie das Jahr wohl kaum schaffen. Schon das Letzte war äußerst knapp gewesen und auf Veranlassung ihres Dads hatte sie die Schule wechseln müssen.

Irgendwie gingen die zwei Stunden trotz des ermüdenden Stoffs vorüber und als Erholung stand zur letzten Stunde noch Musik an. Sie hörten sich ein paar Rap-Songs an, redeten über die Texte und begannen ein Stück einzustudieren. Ihre Stimmung besserte sich sofort, denn das war ihr Ding. Gleich nach der Schule lief sie, energisch und hoch motiviert, auf Johanna zu.

Das Mädchen stand an der Bushaltestelle, etwas abseits der übrigen Schüler, natürlich über ein Buch gebeugt. Julia trat forsch auf sie zu und sprudelte sogleich auf die einen halben Kopf Kleinere los.

„Du musst mir unbedingt in Mathe helfen. Du weißt schon. Wegen der Klausur nächste Woche. Ich kapier da nämlich überhaupt nichts. Du bist doch ganz tough drauf – also in Mathe, ja. Ich meine, keiner kennt sich in dem Scheiß wirklich aus – außer dir. Also ich denke, du musst mir da helfen.“

Johanna kam kaum zum Überlegen, geschweige denn zum antworten. Noch nie hatte sie jemand so direkt und herausfordern angesprochen. Julia redete immer lauter auf Johanna ein, einige der Umstehenden drehten sich nach den beiden um. Schließlich ergriff die verängstigte Johanna die Flucht. Knapp vor dem gerade ankommenden Bus rannte sie über die Straße. Reifen quietschen, Autos hupen, sie macht sich gehetzt davon. Nur weg von dieser aggressiven Zicke. Johanna war völlig aus dem Häuschen, konnte keinen klaren Gedanken fassen und war froh, als sie endlich, erschöpft aber sicher, zu Hause ankam.

Julia stand noch eine ganze Weile verblüfft an der Haltestelle. Geistesabwesend verpasste sie sogar den abfahrenden Bus und musste schließlich ebenfalls zu Fuß nach Hause gehen.

'Was war denn das? Was ist denn in die Tusse gefahren? Wegen der blöden Kuh muss ich jetzt auch noch zu Fuß heim latschen. Na warte, morgen zeige ich's dir.', das waren ihre Gedanken während sie schlecht gelaunt nach Hause schlenderte.

*

Obwohl daheim wieder jede Menge Stress angesagt gewesen war, hatte Julia den Vorfall von gestern nicht vergessen. Während des Unterrichts war sie kaum in der Lage, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Die Wut auf Johanna kochte immer höher und endlich, in der Pause gelang es ihr, die Kontrahentin auf der Toilette zu stellen.

„Hör mal, was war denn das gestern?“ Johanna wich erschrocken zurück und erwartete eine Abreibung.

„Warum machst du die Fliege, wenn ich gerade mit dir quatsche? Hör zu, das gefällt mir nicht. Ich kann mir keinen Ausrutscher in Mathe leisten. Da steht zu viel auf dem Spiel. Also, wirst du mir helfen?“

Das klang ganz anders als eine Frage. Julia wurde immer lauter und fordernder, aber sie erreichte schließlich ohne Einsatz von Gewalt Johannas Einlenken.

„Und wie soll ich dir helfen?“, Johanna hatte eine gewaltigen Kloß im Hals, als sie dies fragte.

„Ich hab noch nie Nachhilfe gegeben. Und in der kurzen Zeit kann ich dir wohl kaum den Stoff von vier Wochen beibringen.“

„Red' keinen Quatsch. Du musst mich halt abschreiben lassen. Lass dir was einfallen. Du bist doch sonst so dreimal klug, du wirst schon 'ne Idee haben.“

Johanna war schleierhaft, wie sie das bewerkstelligen sollte, aber sie hatte noch einige Tage Zeit. Julias Blicke während der nächsten Tage verdeutlichten ihr immer mehr die Ernsthaftigkeit der Situation. Sie war noch nie in einer derart prekären Lage gewesen und traute sich auch nicht, irgendjemand um Hilfe zu bitten. Weder einen Ihrer Lehrer, zu denen sie eigentlich ein gutes Verhältnis hatte, noch ihre Mutter, die trotz ihrer meist hohen Ansprüche auch verständnisvoll gegenüber ihrer Jüngsten war und schon gar nicht einen ihrer Mitschüler. Es gab zwei oder drei zu denen sie wenigsten etwas Vertrauen hatte, mühsam aufgebaut im letzten Schuljahr, aber seit Johannas Ankunft in der Klassengemeinschaft, war sie sich über deren Freundschaft nicht mehr ganz so sicher.

Mit Intelligenz und Phantasie gelang es ihr schließlich doch, einen Plan auszuarbeiten. In der Tat – es gelang Julia von ihr abzuschreiben. Die Schulaufgabe wurde ein voller Erfolg, für beide Mädchen. Das wäre vielleicht eine Gelegenheit gewesen, Freundschaft zu schließen, aber Johannas nach wie vor unzugängliche Art und Julias offensives Temperament verhinderten das.

So nahm die Sache schließlich ihren Lauf. Johanna fühlte sich immer mehr von Julia unter Druck gesetzt, ihr beim Schulstoff zu helfen und Julia nutzte dies natürlich gerne aus und ging in ihren Forderungen immer weiter. Das begann mit dem Borgen von Büchern, die sie nicht mehr zurückgab und ging bis zum Ausleihen von Geld, das sie vergaß zurückzugeben.

Eines Tages, in der großen Pause, sprach sie Johanna mit knurrendem Magen an, „He, was isst'n du da?“ Ohne Zögern überließ Johanna ihren Pausensnack der Größeren und Kräftigeren. Einzig in Sport war ihr Julia ohne Zweifel überlegen. Das machte sie auch so gefährlich. Sie gab vor ihren Mitschülern oft an, „Ich mache Kick-boxen. Ist voll der geile Sport.“

Sie war wohl Mitglied in so einem Club, man munkelte, sie sei darin ziemlich gut. Die meisten fanden das cool und hatten fortan noch mehr Respekt vor ihr. Nur wenige, auch Johanna, hielten das nicht für den richtigen Sport für Mädchen. Aber das sagte Johanna natürlich nicht offen. Für sie war dies ein Beweis der Gefährlichkeit und grundsätzlichen Gewaltbereitschaft ihrer Gegnerin.

Sie begann zu überlegen, wie sie sich aus dieser bedrohlichen Lage befreien konnte. Dass sie ihr bisher keine Gewalt zugefügt hatte, lag wohl vor allem daran, dass Johanna bisher Julias Forderungen stets unverzüglich nachgekommen war. Mehr und mehr wuchs Johannas Wut. Vor allem auf ihre Mutter, die Lehrer und die wenigen Freunde, die offensichtlich von alldem nichts bemerkten. Aber auch auf sich selbst und ihre beschämende Wehrlosigkeit. Wegen ihrer vermeintlichen geistigen Überlegenheit, empörte sie sich umso mehr über die Dominanz nackter Gewalt, auch wenn es diese nur in Johannas Phantasie gab. Es war doch nur eine Frage der Zeit bis es zur Eskalation kommen würde.

*

„ … und so sagt Newton in seinem dritten Axiom: Kraft und Gegenkraft gehören immer zusammen; das bedeutet, wo eine Kraft wirkt, zum Beispiel Druck, da ist auch eine Gegenkraft, ein Gegendruck ...“

Aufmerksam lauschte Johanna den trockenen Ausführungen ihres Physiklehrers und plötzlich ging ihr ein Licht auf.

'Naja, sie ist vielleicht stärker als ich, aber ich bin doch viel intelligenter. Und wenn Herr Langenthaler sagt, Druck erzeugt Gegendruck, also quasi automatisch, dann müsste ich doch nur ...“

Sie setzte nun ihren ganzen Intellekt und auch eine gewisse perfide Raffinesse ein, die eigentlich gar nicht ihrem Naturell entsprach, um sich wirkungsvolle Maßnahmen zur Gegenwehr auszudenken.

Und sie begann sich zu wehren. Das war zunächst relativ harmlos, kaum erkennbar, am wenigsten für Julia selbst. Es waren viele kleine, aber insgesamt, so hoffte Johanna, schmerzhafte Nadelstiche, die sie ihr verpassen wollte.

Einmal riss sie ein paar Seiten aus Julias Schulatlas. Das würde mächtig Ärger geben, wenn sie die Bücher zurückgeben mussten.

Ein anderes Mal verschmierte sie eine wirklich gelungene Zeichnung Julias für den Kunstunterricht, die bereits auf dem Pult des Lehrers lag, mit knallrotem Filzstift. Sie produzierte die Schmiererei dabei so geschickt, dass es aussah, als wäre das Gekrakel von der jungen Künstlerin beabsichtigt gewesen, es passte allerdings kaum zum Gesamtwerk, worauf Julia eine Fünf in Kunst bekam.

So ging es mit den Nicklichkeiten immer weiter. Johanna fragte sich gar nicht, ob Julia nichts davon merkte, und falls ja, warum sie Johanna nicht verdächtigte. Stoisch wie ein Muli machte sie weiter, solange sie nicht erwischt wurde, war es gut.

'Die ist so bescheuert, die merkt das nicht mal', triumphierte Johanna, obwohl sich an ihrer Situation als solches nichts geändert hatte. Denn Julia ihrerseits setzte ihre Bemühungen, Johanna zu demütigen, ebenfalls fort und es gelang ihr weiterhin, unterhalb der Schwelle zur körperlichen Gewalt zu bleiben, da das kleinere Mädchen jedes mal, wie gewünscht, auf die Forderungen … gib mir mal deinen Füller … trägst du mir den Rucksack … lass mich von der Coke probieren ... ich brauche dringend fünf Euro … unverzüglich einging, was wiederum Julia verblüffte, war sie sich doch ihres Unrechts bewusst, aus Bequemlichkeit aber hielt sie daran fest.

Mobbende Jungs üben meist unverhohlen nackte Gewalt aus. Mädchen machen das oft viel subtiler, und damit manchmal schlimmer, weil es niemand bemerkt - meist nicht mal sie selbst.

Johannas Unzufriedenheit jedenfalls wuchs weiter, die Angst verwandelte sich langsam in Hass und dieser erzeugte Phantasien, die weit über das hinausgingen, was sie bisher an Abwehrmechanismen angewandt hatte. Diese hatten ja zu nichts geführt und so steigerte sie ihre Nadelstiche, fand über die Weihnachtsfeiertage sogar neue Tricks. Und so setzte sich das Spiel, das mittlerweile, hätte man es von außen betrachtet, wie die absurde Groteske eines Ping-Pong-Spieles aussah, im neuen Jahr unvermindert fort.

*

Dann kam der Tag als Stephan während einer langweiligen Reli-Stunde einen langen, intensiven Blick in Richtung Johanna sandte. Er war einer der wenigen in der Klasse, der auch Julia gegenüber eine gewisse Distanz zu üben schien. Keiner ihrer engen Kumpels, eher neutral, wenn nicht sogar desinteressiert. Johanna, die eines der hübschesten Mädchen in der Klasse war, war der schlaksige Kerl schon länger aufgefallen. Auch er war erst dieses Schuljahr in die Klasse eingetreten.

Irgendwann vor ein paar Tagen, in der Pause, war sie wieder mal alleine rumgestanden und hatte gelangweilt an ihrer Cola genuckelt, als sich Stephan zu ihr gesellte.

„Wie schmeckt die Coke?“

„Nicht übel.“

„Kaugummi?“ Er hatte ihr einen Wrigley's gereicht, den gelben, den sie besonders mochte. Woher hatte er das gewusst?

Sie hatte das Papier abgewickelt, den Gummi umständlich zwischen die Zähne geschoben und in einem plötzlichen Anfall von Selbstbewusstsein gemeint.

„Weißt du, du siehst aus wie Justin Bieber.“

Noch bevor sie den Satz beendet hatte, war sie rot angelaufen und erschrocken gewesen, über ihren eigenen Mut.

„Pfff“ hatte Stephan vulgo Justin gemacht, „wenn du meinst.“

Dann hatte er sich umgedreht und war davon geschlurft.

So endete ihr erster Versuch, Stephans Zuneigung zu gewinnen, wie die Melonen-Szene aus Dirty Dancing.

Nach diesem Debakel war sie dann schon vor den anderen ins Klassenzimmer gegangen und hatte aus lauter Frust über ihre eigene Blödheit den gelben Wrigley's in Julias Haarbürste geklebt, die auf ihrem Pult gelegen hatte. Um nicht gleich in Verdacht zu geraten, hatte sie das Zimmer nochmal in Richtung Klo verlassen.

Nun blickte der hochaufgeschossene, blonde Junge verträumt in Johannas Richtung. War die peinliche Szene vergessen?

'Bilde ich mir das ein? Oder meint der wirklich mich?', phantasierte sie vor sich hin. Reli war auch nicht gerade ihr Ding und auch ohne Zuhören würde sie in der nächsten Ex wieder eine Eins schreiben.

Sie sah weiter zu dem süßen Jungen, zwei Reihen schräg vor ihr. Der Pfarrer erzählte gerade was über Nächstenliebe und sie dachte nur.

'Oh Gott, wie passend.'

Justins Augenlider schienen sich langsam der Schwerkraft hinzugeben. Bevor sie vollständig zuklappten, rief ihn der Religionslehrer zurück in die Realität. Stephan wandte erschrocken den Kopf, Johanna fand das schade und dachte noch, 'kannst du mich bitte mal anquatschen!'

Sie war zu schüchtern, ihn ein zweites Mal anzusprechen, nachdem er auf ihren Justin-Bieber-Vergleich eher ablehnend reagiert hatte.

Ja, sie glaubte im Laufe der nächsten Wochen sogar zu bemerken, wie sich auch Julia immer mehr für Stephan interessierte und ihm offensichtlich schöne Augen machte. Das war nun wirklich zu viel.

'Dieses hässliche Luder, diese verdammte Schlampe, was will die von Stephan?'

Ihr Hass wuchs nun ins Unermessliche.

*

Nach den Osterferien, nach einem halben Jahr voller Demütigungen und Enttäuschungen, trafen die beiden Mädchen im Sportunterricht aufeinander. Es war irgendeine Übung am Seil verlangt, bei der Johanna und Julia sich gegenseitig Hilfestellung geben mussten. Unglücklicherweise sollte Johanna zuerst klettern und Julia sie sichern. Die Kleinere war sich sicher, sie würde, wenn sie es überhaupt schaffen sollte, das Seil ganz hochzuklettern, bald abstürzen und sich den Hals brechen. Vor allem war sie überzeugt, dass Julia sie nicht richtig sichern würde. Doch irgendwie schaffte sie bei ihrem ersten Versuch immerhin etwa zwei Meter, ein schier unglaublicher Kraftakt und sie gelangte auch ohne abzustürzen wieder herunter. Julias ermutigendes Lächeln interpretierte sie als hämisches Grinsen über ihren mehr als dürftigen Versuch.

„Na, nochmal – jetzt aber ganz nach oben“, rief ihr Julia fröhlich zu. Da auch die Lehrerin mitbekommen hatte, das die Schwächere der beiden Probleme beim Hochklettern hatte, forderte sie Johanna ebenfalls zu einem zweiten Versuch auf. Widerwillig und vor Angst und Wut zitternd, startete sie einen erneuten Anlauf. Diesmal scheiterte sie schon nach drei Armzügen. Als Julia und auch die blöde Sportlehrerin sie zu einem dritten Versuch zwangen, brodelten Hass und Panik in Johanna zu einer gefährlichen Mischung. Sie konnte sich hinterher nicht mehr erinnern, wie weit sie es in die Höhe geschafft hatte.

Wie durch einen Nebel bekam sie mit, wie Julia ihr tröstend auf die Schulter klopfte, das Seil nahm und sagte, „Ich zeig dir mal wie's geht, ja? Du sicherst, ok?“. Durch einen Schleier aus Tränen und Schweiß sah sie ihre verhasste Kontrahentin flink das Tau emporklettern.

'Die führt sich auf wie ein Kerl', hörte sie sich mit beschlagener Stimme flüstern, als Julia die Decke erreicht hatte und ebenso rasch, wie sie aufgestiegen war, wieder herunterkam. Sie war noch etwa fünf Meter über dem Boden, als Johanna in einem plötzlichen, ungeahnten Wut- und Kraftakt das Seil so heftig zur Seite zog, dass Julia die Balance verlor, das Tau loslassen musste und nach unten stürzte.

Es gab ein Klatschen, als wäre der fette Christoph, Stephans Banknachbar, mit voller Wucht gegen einen der Sandsäcke gerannt, wie sie im Geräteraum für die Boxstaffel hingen, als ihr Körper auf die blaue Gymnastikmatte knallte.

'Sie ist tot', schoss es Johanna sofort durch den Kopf und ihr wurde speiübel.

Aber Julia war nicht tot – Kickboxer sterben nicht so schnell. Mit unglaublichem Staunen im Gesicht, aber ohne zu schreien, rollte sich Julia zur Seite und betrachte ihren unnatürlich abstehenden Unterarm. Sie schrie nicht, sie jammerte nicht, sie sagte nichts.

Nur diese Augen, diese riesigen Augen, die nun direkt auf Johanna gerichtet waren und ein einziges Wort in die vor Schweiß wabernde Luft der Turnhalle schrieben:

– Wieso?

In Johanna drehte sich nun alles, sie hörte Schreie der anderen Schülerinnen und die Lehrerin, die irgendetwas rief wie, … lauf zum Lehrerzimmer … hol Frau Dr. Schuster … Notarzt …

Irgendjemand packte sie und schubste sie zur Seite. Schülerinnen liefen herbei und beugten sich über die am Boden Liegende, die immer noch keinen Laut von sich gab, obwohl der gebrochene Arm unglaublich schmerzen musste.

Niemand kümmerte sich um Johanna. Wie in Trance ging sie in Richtung Umkleidekabine. Sie hörte noch die trappelnden Schritte der herbeieilenden Mädchen, vernahm Stimmen, die sich zu einem unangenehmen Brausen verdichteten, dann wurde ihre schwarz vor Augen.

*

Am nächsten Tag erwachte sie in ihrem Bett. An die Spritze, die sie in einen 24-stündigen gnädigen Schlaf des Vergessens gebeamt hatte, konnte sie sich schon nicht mehr erinnern. Alles, was gestern vorgefallen war, war in den Tiefen ihres Gedächtnisses verschwunden.

Später, als sie aufgestanden war, erzählte ihr die Mutter in wenigen Worten und auf sehr schonende Weise, ohne einen Anflug von Vorwurf oder Schuldzuweisung, was vorgefallen war.

Die nächsten Tage verbrachte die kleine Johanna schweigend und fiebrig im Bett. Schuldgefühle plagten sie und am vierten Tag, einem Sonntag, stand sie das erste mal auf.

„Ich weiß, wie du dich fühlst“, sagte ihre Mutter, nachdem sie einander einige Minuten schweigend gegenüber gesessen waren.

„Du weißt gar nichts“, fuhr Johanna auf, dann wieder Schweigen.

Nach einigen weiteren Minuten, in denen Johannas Mutter sie mitfühlend interessiert beobachtet hatte, sagte Julia.

„Mama, es … es … Ich möchte …“

„Du möchtest Julia im Krankenhaus besuchen“ vollendete ihre Mutter den Satz, „Ich glaube, das würde Julia sehr freuen – und es würde auch Dir helfen. Wenn Du willst, begleite ich Dich.“

Während der Fahrt zur Klinik sprachen sie nur wenig, Johannas Herz schlug heftig, als sie endlich das große hässliche Gebäude betraten. Wie in allen Hospitälern der Welt, wurden sie von ekelerregendem Karbolgeruch empfangen. Johanna hasste Krankenhäuser, gerade wegen dieses erst recht krankmachenden Gestanks. Im zweiten Stock, vor Julias Zimmer zögerte Johanna, doch ihre Mutter klopfte, öffnete die Tür und schob ihre Tochter mit sanftem Druck ins Krankenzimmer.

Julia lag allein in einem, wie es Johanna schien, riesigen Bett. Ihr rechter Arm war von der Schulter bis zum Handgelenk eingegipst und ruhte auf einer eigens dafür vorgesehenen Ablage. Rechts neben dem Bett standen drei kleine Kinder, von ungefähr drei bis acht Jahren und blickten mit großen Augen auf das Mädchen in dem Riesenbett, das so gar nicht nach schwer verletzter Patientin aussah. Sie sprach fröhlich und schnell, wie es ihre Art war, auf einen Mann ein, der, ihr zugewandt, auf der Bettkante saß und von dem Johanna nur den Rücken sah.

Als sie das Geräusch der sich schließenden Tür vernahmen, unterbrachen die beiden ihre Unterhaltung und drehten sich zu den Eintretenden um. Johanna blickte beschämt zu Boden, aus den Augenwinkel sah sie Julia, ebenfalls nach unten blickend.

Der Mann, der auf Julias Bett gesessen hatte, schickte die drei Kleinen auf der anderen Seite des Bettes aus dem Zimmer. O je, das bedeutete nichts Gutes.

Dann ging er auf Johannas Mutter zu und küsste sie auf die Wange.

„Hallo Brigitte, schön dass ihr da seid.“

'Hallo wer?', dachte Johanna, woher kannte er den Namen ihrer Mutter, warum sprach er sie mit Du an – und dann küssen sie sich auch noch? Was war passiert in den letzten vier Tagen, als Johanna beinahe teilnahmslos in ihrem Zimmer vor sich hingedämmert hatte?

„Du bist also Johanna“, meinte er lächelnd an die Angesprochene gewandt, „Julia hat mir viel von dir erzählt. Sie ist ziemlich stolz und dankbar, dass du ihr immer bei den Schulaufgaben hilfst.“

Johannas Mutter, deren fragende Blicke erkennend, begann zu erklären:

„Weißt Du Julia, ihre zwei kleinen Brüder und ihre Schwester haben keine Mama mehr. Sie ist vor
zwei Jahren gestorben und Julia muss sich um ihre Geschwister kümmern. Ihr Papa muss natürlich weiterhin arbeiten. Er hat mir das alles erzählt, als ich Julia gleich nach dem Unglück im Krankenhaus besucht habe. Du warst ja völlig weggetreten, der Arzt meinte, ein Schock. Völlig normal und verständlich. Aber ich habe mir natürlich auch Sorgen um Deine Freundin gemacht.“

‚Was heißt da Freundin, das ist doch völlig absurd?‘, dachte Johanna.

„Du verstehst sicher, dass sich Julia nicht so um die Schule kümmern konnte, wie es nötig gewesen wäre. Deswegen hat sie dich immer wieder um Hilfe gebeten.“

‚Gebeten ist gut – gezwungen hat sie mich – erpresst.‘

Julias Vater setzte fort:

„Natürlich ist auch Julia nicht völlig unschuldig an der ganzen Situation. Julia hat uns in den vergangenen Tagen so gut wie alles erzählt. Um die Wahrheit zu sagen, sie hat dich natürlich gezwungen, sie bei den Schulaufgaben abschreiben zu lassen und was sonst noch so alles passiert ist. Eigentlich bin auch ich, als ihr Vater, mitverantwortlich. Ich hätte Julias Überlastung einfach früher erkennen müssen.“

Beide Mädchen hatten die Köpfe gesenkt und schwiegen.

„Dass sie sich dir gegenüber nicht immer fair verhalten hat, kann man unter diesen Umständen vielleicht verstehen, was meinst du?“, fragte Johannas Mutter.

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort, „Was passiert ist, ist schlimm. Ich meine nicht nur das Unglück in der Sporthalle. Aber so furchtbar das ganze auch war, es ist doch noch einmal recht glimpflich ausgegangen und ich glaube, wir alle können daraus lernen. Wir alle, auch wir als Eltern, waren zu sehr gefangen in einem Käfig aus Eigensinn und Selbstbezogenheit. Ich glaube und hoffe dass das jetzt eine gute Gelegenheit ist, diesen Käfig zu verlassen, diese Gefangenschaft zu beenden.“

Das war wieder mal ein typischer Satz aus dem Lehrbuch der Diplom-Psychologin Brigitte Kerbacher, dachte ihre Tochter. Wahrscheinlich hatte sie auch noch recht.

„Ich glaube wir lassen die zwei jungen Damen jetzt mal für ein paar Minuten allein. Ich bin sicher, die haben jetzt viele Dinge zu besprechen.“

Julias Vater nickte.

„Du hast Recht Brigitte“, gemeinsam verließen sie das Krankenzimmer.

Johanna hob den Kopf und sah Julia ihren Blick erwidern. Deren Augen hatten nichts böses oder abwehrendes, gar keine Wut oder gar Hass in sich. Sie meinte sogar, der Hauch eines Lächelns umspiele ihre Lippen.

Ein paar Minuten hing noch gefährliches Schweigen im Raum.

Dann Johanna: „Ich hasse Daily Soaps.“

„Warum?“

„Ich hasse Happy Ends.“

Wieder Schweigen. Weniger gefährlich.

Nun Julia: „Ganz schön viel Hass, oder?“

„Mmmh“

„Ich hasse Hass.“

Da war kein befreiendes lautes Lachen, kein kumpeliges Schulterklopfen, kein … war doch nicht so schlimm … passt schon … auch kein rührseliges Geheule und sich in die Arme fallen. So etwas hätte vielleicht einen Gletscher, einen Rieseneisberg, wie er sich zwischen den beiden über die kurze gemeinsame Zeit schon aufgebaut hatte, zertrümmern können.

Da war nur ein Leuchten in den Augen der beiden. Ein Leuchten, wie die stärker werdende Frühlingssonne, die den Garten draußen beleuchtete. Das würde das Eis langsam zum Schmelzen bringen.

Das brauchte allerdings viel Zeit.

Aber sie waren ja noch so jung. Sie hatten noch so viel Zeit.

So viel Zeit.

Ein ganzes Leben – Zeit.

 

Hallo Resi26,

wie beginne ich am besten. Hmm?
Nun gut, also - ich finde den Inhalt deiner Geschichte sehr gelungen, habe aber Schwierigkeiten mit der Form. Der Wechsel zwischen normaler Erzählform und Bericht empfinde ich persönlich als störend. Mir kommt fast vor, du wolltest alles, wirklich alles, in deine Geschichte packen und darum kommt vieles eher nur angerissen 'rüber (für mich). Auch das Ende finde ich letztendlich zu abgehackt. Gerade dann, wo du ansetzt, Erklärungen zu bringen, bleibst du welche schuldig. Was war wirklich passiert in den vier Tagen? (z.B.) Die kleinen Gegenaktionen Johannas finde ich für den Charakter, den du ihr vorher zuschreibst, ein wenig übertrieben, der Auszucker im Turnunterricht dafür ist absolut nachvollziehbar und passt zur Protagonistin Johanna.
Wie auch immer, insgesamt habe ich das unbestimmte Gefühl, eine Wahnsinnsgeschichte gelesen zu haben, die mir allerdings noch etwas ungeschliffen vorkommt. Ansonsten - Super Geschichte!
Trotz der Länge sehr gern gelesen.
lg
lev

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Resi26,

mag sein, dass die Geschichte bei gestreßten und gemobbten Schülern bei der Aktion Chillaxed gut ankommt, weil sie so ein versöhnliches Happy End hat. Aber mir - und das ist vielleicht nur meine Meinung - ist sie zum Schluss etwas zu honigsüß. Sie werden Freundinnen und deren alleinlebende Eltern kommen sich näher. Das wäre eine ganz gute Vorlage für ein Fernsehspiel, das in ARD oder ZDF läuft. Aber wie gesagt, das ist nur meine Meinung!
Ansonsten war die Geschichte spannend zu lesen.

Gruß
Leia4e

 

Hallo und vielen Dank für die Kommentare.

@Lev.

Das mit dem Berichtsstil siehts du vollkomen richtig, liegt vermutlich daran dass ich beruflich häufig fachliche Berichte erstellen muß. Muß lernen, mir das beim Geschichtenschreiben abzugewöhnen.

Das abgehackte Ende, ja. Ich hab die Geschichte ein paarmal überarbeitet, aber mir gefällt das auch noch nicht ganz. Noch nicht rund genug. Ich laß mir da noch was einfallen.

Bezüglich Johannas Verhalten, ich wollte darstellen, wie sie aufgrund des von ihr so empfundenen Mobbings durch Julia immer tiefer in einen Strudel von Angst, Ärger, Wut und Hass gerät. Sie versucht sich ihrerseit mit letztendlich wirkungslosen Mitteln zu wehren und einzig die Eskalation während des Sportuntertichts scheint dann endlich Wirkung zu zeigen, markiert allerdings auch die dramatische Wende und die Einsicht Johannas, dass auch sie möglicherwise Fehler gemacht hat. Das könnte man vielleicht noch vertiefen, aber dann wir die Geschichte noch länger. Mal sehen wie ich das hinkriege.

Wahnsinnsgeschichte … Super Geschichte!

Vielen, vielen Dank. Das freut mich besonders.

@Leia4e

Ich denke, das ja die Zielgruppe Schüler sind, sollte das vielleicht auch deren Ansprüchen entsprechen. Wenn das gelungen wäre, prima.

Ich bin natürlich weit davon entfernt irgendeine Soap entwickeln zu wollen. Insofern bin ich schon froh wenn Du meine Geschichte eher bei ARD und ZDG siehst, als bei RTL II oder SAT 1 :D

Aber wie ich oben schon erwähnt habe, möchte ich ohnehin noch etwas daran feilen, vielleicht fällt mir dann auch ein Ende ein, das nicht so honigsüß ist. Aber Happy End muß sein, schließlich soll ja eine positive Botschsaft transportiert werden.

Danke fürs Kommentieren und die insgesamt positive Bewertung.

 

Generalüberholung

Hab die Geschichte jetz nochmal überarbeitet. Ist jetzt leider (?) etwas länger geworden, aber ich hoffe sie hat an Substanz gewonnen :shy:

Ich habe vor allem versucht mehr Dialoge und Handlung reinzubringen. Auch das etwas kitschige Ende hab ich geändert. Ist immer noch eine Happy End, aber das muß bei der Geschichte so sein - no way :)

Soll ja auch die Botschaft des Projekts sein, oder?

Mal sehen ob sie noch jemand liest und wie sie jetzt gefällt.

R.

 
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Hallo Resi,

also der Schluss gefällt mir jetzt wesentlich besser.
Auch Johannas Aktionen gegen Julia - herausgerissene Buchseiten, verschmierte Zeichnung - finde ich besser als toten Käfer im Schulbrot (das hat mich zu sehr an Dschungelcamp erinnert) :D.
Gruß
Leia4e

 

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