Die Geisterbeschwörung
Die Geisterbeschwörung
"Verflixt, mein Tank ist bald leer", denke ich, "ich muss eine Tankstelle ansteuern". Ich fahre weiter und halte also Ausschau nach einer Zapfstelle. Nach wenigen Minuten leuchtet mir bereits eine blaue Aral-Tankstelle entgegen.
Ich fahre an die Zapfsäule, halte, steige aus und öffne den Tankdeckel, als ich einen älteren Mann sehe, mit langem ungepflegten Rauschebart bis zur Brust, faltenreich das Gesicht – er erweckt sofort den Eindruck eines Alkoholikers. Mir fällt auf, dass er jedem Auto, das die Tankstelle verlässt, irgend etwas hinterher schreit. Was genau, ist allerdings unverständlich.
Ich tanke, marschiere in den Kassenraum und begleiche meine Tankrechnung, gehe zu meinem Auto, steige ein, greife zum Gurt und will gerade den Motor anlassen, als ich einen Schrei hinter mir höre: "Hexen, Hexen, Hahnenfuß, fahr zur Hölle, Roß mit Ruß!"
Ich kurble das Fenster herunter und stecke den Kopf aus dem Auto: "Haben Sie was gesagt?" frage ich.
"Fahr zur Hölle, Du Todesritter der Straße!" schreit mich der Mann an. Ich weiß überhaupt nicht, wie mir geschieht.
"Was haben Sie denn gegen mich?" frage ich verdattert.
"Sie haben einen bösen Geist in sich", meint der Mann.
"Sind Sie da sicher?" frage ich zurück. "Woher wissen Sie das?"
"Das sehe ich an Ihrem Auspuff" antwortet er.
"Aha – sagen Sie mal, sind Sie ein Medizinmann oder ein Schamane und machen Sie das beruflich?"
"Ich bin hier, um die bösen Geister an dieser Tankstelle zu vertreiben" meint der Bärtige.
"Da wird Ihnen die Firma Aral aber sehr dankbar dafür sein", entgegne ich.
"Spotten Sie nicht", antwortet der Mann, "ich bin in göttlichem Auftrag unterwegs!"
"Nicht zu fassen!", sage ich, "dann sind wir ja quasi Kollegen!"
"Wieso sind wir Kollegen? Vertreiben Sie auch böse Geister?", fragt er zurück. "Wie heißen Sie überhaupt?"
"Gabriel", antworte ich nicht ganz wahrheitsgemäß.
"Und was machen Sie beruflich?" fragt mich der Mann.
"Ich bin Erzengel", sage ich.
"Sie wollen mich wohl verarschen?" meint der Geisterbeschwörer, "seit wann fährt ein Erzengel einen Mazda?"
"Ooch – das ist ganz einfach: Meine Flügel sind gerade in der Reinigung, denn die weißen Federn vergrauen mit der Zeit, Sie verstehen? Und irgend wie muss ich mich ja fortbewegen – das ist übrigens ein Leihwagen..."
"Nicht möglich", meint der Mann, "dass ich Sie einmal persönlich kennen lernen darf, das hätte ich mir nie träumen lassen!"
"Wie lange vertreiben Sie heute noch böse Geister?", frage ich.
"Ich muss noch solange arbeiten, bis ich den göttlichen Auftrag bekomme, nach Hause zu gehen", erzählt mir der Bärtige. "Sagen Sie mal, wer ist denn die Beifahrerin neben Ihnen?"
"Das ist die heilige Barbara" antworte ich. Diesmal etwas wahrheitsgemäßer, denn meine Frau heißt tatsächlich Barbara – dass sie nicht gerade heilig ist, muss ich ihm ja nicht auf die Nase binden...
"Ich glaub´s nicht", meint der Alte, "was heutzutage so alles auf den Strassen unterwegs ist..."
"Ach so", sage ich, "beinahe hätte ich vergessen, weswegen wir hergeschickt wurden!"
"Hergeschickt -?", wiederholt der Bärtige.
"Genau", sage ich, öffne das Handschuhfach und entnehme meinen Terminkalender, blättere etwas drin herum und lese laut vor: "Geisterbeschwörer heimschicken – viele Grüße, Gott."
"Dann mache ich jetzt Feierabend" sagt der Mann.
"Schönen Abend noch", meine ich und fahre los...