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Die gelben Blumen
Eines Morgens klebten kleine gelbe Aufkleber in Form von Blumen an unserem Kühlschrank. Sie waren hauptsächlich an den Stellen angebracht, wo der Lack abgeblättert war oder jemand versehentlich mit einem Filzstift zitternde Striche hinterlassen hatte. Einige Blumen waren dazwischen verteilt, um dem Ganzen einen Eindruck von hingestreuter Zufälligkeit zu verleihen. Es waren Aufkleber, die wir sozusagen als Dankeschön für unsere Bestellung mit dem Büromaterial zugesandt bekamen. Ich hatte angenommen, wir hätten sie weggeworfen, aber irgend jemand schien sie heimlich für diesen Zweck gesammelt zu haben und ich ahnte – nein - ich wusste auch wer. Anja, die Ikone der Häuslichkeit, die dreimal die Woche unsere Buchhaltung erledigte. Sie hatte einen kleinen Platz am hinteren Ende des langen Schreibtisches, wo sie seit vier Jahren das Leben einer unscheinbaren aber respektierten Mitarbeiterin genoss. Peter hatte ihr einen gepolsterten Bürostuhl hingestellt und ein kleines Regal dahinter angebracht, wo sie ihre Ordner platzieren konnte. Den Stuhl tauschte sie nach einer Woche gegen ihren eigenen mit Federung aus, den sie von Zuhause mitgebracht hatte.
Anja - montags, mittwochs und freitags.
Wenn wir unseren Dienst antraten, saß sie bereits hinter dem flimmernden Bildschirm, neben ihr eine kleine Tüte mit einem trockenen Sesambrötchen, an dem sie hin und wieder so zaghaft knabberte, dass man denken konnte, sie wolle es nicht verletzen.
Nun brachte diese Veränderung, die -was es noch schwieriger machte- in bester Absicht geschah, eine neue Stimmung mit sich. Ich hörte förmlich, wie in den Köpfen der Kollegen sanfte Sätze formuliert wurden, die Anja in ihre Schranken weisen sollten. Sätze wie: Wir haben Ihnen bisher nichts gesagt, weil es nicht nötig war, aber verstehen Sie, wir haben oft wichtige Kunden zu Besuch, wie Sie wissen, und wenn jeder das Büroinventar nach seinem Geschmack schmückt, wird es schwierig....Also kurz gesagt, Ihre Blümchenaufkleber, die sehr nett gemeint sind, passen leider nicht in unser Büro. Aber was letztlich geschah, was wir anständigen, sensiblen Architekten über die Lippen brachten, waren nichts als schmeichelnde Worte, so als wollten wir auf das Messer, mit dem wir Anjas Herz durchstoßen würden, Honig schmieren. Selbst Peter, stolzer Inhaber dieses Lofts mit seinen großzügig verteilten Schreibtischen und den geschmackvollen Grundrissen berühmter Bauwerke an den Wänden, selbst er, dessen Stilempfinden solche Aufkleber selbst auf dem Schulranzen seiner siebenjährigen Tochter verabscheuen würde, schwieg und hoffte, dass einer seiner pflichtbewussten Mitarbeiter, denen er an den Dienstagen und Donnerstagen seinen Unmut mit einem wütenden Gemurmel zu verstehen gab, eingreifen würde, wo seine Menschlichkeit erlag. Wir alle setzten wieder und wieder zu einem Gespräch mit Anja an, aber die Gutmütigkeit ihrer Augen zwang uns jedes Mal in die Knie. Zwei Wochen waren vergangen. Die Kunden wurden in Cafés ausgeführt, wo wir immer gleich vier Tische reservierten, auf denen wir unsere Pläne ausbreiteten. Ich hatte öfter ein feuchtes Geschirrhandtuch über die Kühlschranktür gelegt, in der Hoffnung, dass die Aufkleber sich ablösten. An den Dienstagen und Donnerstagen knieten wir mit Micheles privatem Dampfbügeleisen vor dem Kühlschrank und hofften auf die Niederlage der billigen Klebemasse. Anja bemerkte von unseren verzweifelten Versuchen nichts und ging gutgelaunt und über die plötzliche Aufmerksamkeit erfreut ihrer Arbeit nach.
Einer musste es tun und eines Tages, circa fünf Wochen nach dem Vorfall, rollte ich meinen kleinen Hocker neben ihren roten Stuhl. Ihre Brüste lagen in meiner Augenhöhe. Ihren Atem spürte ich an meiner Stirn. Ich suchte nach den Worten, die ich mir zurecht gelegt hatte.
„Ich habe lange nachgedacht, von wem diese hübschen Aufkleber stammen könnten und...“
„Welche Aufkleber meinst du?!“, fragte sie und sah sich suchend im Loft um. Gab es etwa noch mehr, fragte ich mich und suchte ebenfalls den Raum ab, aber nein, jetzt nicht ablenken lassen, jetzt bringst du es raus.
„Ich weiß nicht, Anja, aber ich meine die an der Kühlschranktür.“
Das „DU“ war bei uns üblich. Es gehörte zu unserer modernen, demokratischen und vor allem kreativen Gemeinschaft, wie der Parmesan auf die Pasta. Dennoch war es seltsam, eine schätzungsweise 20 Jahre ältere Frau, die dazu noch immer sehr korrekt war und sich nie Ausbrüche persönlicher Gefühle gestattete, zu dutzen.
Anja nickte und reckte ihren lockigen Kopf nach dem Kühlschrank, wie um sich zu vergewissern, dass wirklich Blümchenaufkleber da waren.
„Die Blümchen?“, flüsterte sie mit sanfter Stimme und lächelte mich mit ihrem mütterlichen Gesicht an, “man sieht jetzt die hässlichen Flecken nicht mehr.“ Ihr verschwörerischer Ton, die sanften Augen und das an den Hals gepresste Kinn machten mich unsicher. Ich stockte und sammelte ein paar trockene Brötchenkrumen vom Tisch, um ihr irgendwie meine Zuneigung und mein Verständnis zu zeigen. Sie beobachtete mich still. Erst jetzt bemerkte ich, wie ruhig es geworden war. Peter, Michele, Daniel und André saßen an ihren Plätzen und rührten sich nicht. Man konnte sie nicht mal atmen hören. Selbst das Telefon schien sich verbündet zu haben. Ich musste es zu Ende bringen und zwar jetzt sofort.
„Das war sehr nett von dir.“, sagte ich. Anja nickte. „Trotzdem müssen wir die Blümchen abmachen.“ Kaum hatte ich meinen Satz zu Ende gesprochen, forderte sie das Messer- das "Warum" platzte aus ihrem Mund, wie eine reife Pflaume. Ich überlegte kurz und sagte ihr, dass diese Kleber nicht ins Büro passen und dass es Kunden verunsichern könnte. Danach holte ich tief Luft und stützte mich von meinem Hocker ab, um ihn wieder an meinen Platz zu schieben.
„Wie meinst du das: die Kunden verunsichern?“, kam es aus ihrer Richtung. Ich dachte an ein verletztes Reh, das sich mühsam aufrichtet und erhobenen Hauptes wieder auf die Autobahn humpelt. Man konnte nicht von Dummheit sprechen, dieses Reh wollte eben einfach auf die andere Straßenseite und hatte seine eigenen, uns unverständlichen Gründe dafür. Und wir hatten unsere, dem Reh unverständlichen Gründe dafür weiterzufahren. Das war die Situation und ich fuhr das Auto, hinter mir vier Autos mit gleichem Tempo, die ein Bremsen meinerseits nicht verstehen würden und vor mir das Reh.
Ich hielt einen kleinen Vortrag mit gesenkter Stimme, so dass die anderen uns nicht hörten. Ich sprach von Ernsthaftigkeit, die ein Kunde erleben möchte, wenn er das Büro mit einem Budget von Hunderttausenden betrat, von dem Image eines Architekten, das immer schlicht, elegant und präzise sein sollte und davon, dass sie selbst, würde sie sich ein Haus bauen wollen, sicher keine Tipps von jemandem annehmen würde, der diese Eigenschaften nicht abstrahlt. Das Reh musterte mich von der Seite. „Das sind nur ein paar Aufkleber“, sagte sie und dass ihr das als Kundin gar nicht auffallen würde, im Gegenteil würde ihr ein schmutziger Kühlschrank eher ins Auge stechen und sie hätte auch an den Eindruck der Kunden gedacht, als sie die Aufkleber angebracht hatte. Die anderen beobachteten mich von ihren Plätzen und warteten auf meinen nächsten Zug. Ein Schweißfilm legte sich unter meine Arme und auf den Rücken. Es waren keine Brotkrumen mehr auf dem Tisch, die ich wegsammeln konnte.
„Anja, ich zweifle nicht an deinen guten Absichten und ich bin dir dankbar dafür. Aber ich muss dir gestehen, so gut du in deiner Arbeit bist, die Blümchen am Kühlschrank sind kitschig und wenn das deiner Meinung nach hübsch ist, dann hast du keinen Geschmack... .“ Die letzten Worte flüsterte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob Anja sie gehört hatte. Ich blickte vorsichtig auf und sah ihr vor Empörung und Scham rotes Gesicht. „Es tut mir Leid.“, fügte ich hinzu und wurde meinerseits rot, wobei sich noch mehr Schweiß auf meiner Haut bildete. Auf dem Weg zu meinem Platz, die anderen vermochten nicht mehr ihre Neugierde hinter den Bildschirmen und Zeichentischen zu verstecken, hörte ich Anja von ihrem Platz aufstehen. Sie nahm einen Lappen und ein Lineal aus Metall und kratzte die Blümchen von der Kühlschranktür.
Es hätte in Ordnung sein müssen, dachte ich, ein paar Tage und es wäre wie immer. Doch eine seltsame Stimmung blieb. Ich bildete mir ein, von meinen Kollegen verachtet zu werden, da ich so grob zu Anja war, weil ich das getan hatte, was niemand von ihnen, selbst Peter nicht, vermochte. Dabei bin ich nicht sicher, ob es reine Einbildung war oder ob es diese Verachtung wirklich gab. Auf jeden Fall verachtete ich mich. Und letztlich hatte ich eine große Mauer zwischen Anja und uns getrieben. Sie brachte uns keinen Kaffee mehr mit und die gemeinschaftliche Keksdose verbüßte ein Viertel ihrer Einnahmen, für die ich mich bald verantwortlich fühlte. Ich kaufte jeden Morgen zwei Pakete Schokoladenkekse und versuchte Anja in einfache Gespräche über das Wetter oder über ihre Kinder zu verwickeln. Anja wich meinen Blicken geschickt aus und antwortete meist, dass sie noch diesen oder jenen Beleg bräuchte. Die Zeit verging und wir hatten uns schon an die Stimmung gewöhnt, gerade soweit, wie man sich an eine solche Stimmung gewöhnen konnte. Anja sprach wieder ab und zu mit mir, auch wenn es nur beruflich war, und alle mochten meine Schokoladenkekse. Doch eines Tages, an einem Montag, hingen kindliche Zeichnungen von Sonnen, Wiesen, braunen Klopsen mit Schnurhaaren und eindimensionalen Blumen am Kühlschrank- signiert mit HANNA (Peters siebenjährige Tochter). Sie hingen ein halbes Jahr lang dort und flatterten jedes Mal, wenn man den Kühlschrank oder ein Fenster aufmachte. Sie hingen auch noch, als die neue Buchhalterin kam und ihren Platz einräumte und auch, als ich meinen Wechsel zu einer Firma in Spanien ankündigte.