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Die Geschichte seines Lebens
Nick betrachtete den Mann, der am anderen Ende des Raumes am Fenster stand und versonnen auf das Treiben der Stadt starrte. Vielleicht doch keiner dieser Verrückten, dachte er. Vor zwei Tagen hatte er seinen Anruf erhalten. „Mein Name ist Barnaby Kruger“, hatte der Anrufer gesagt und ihm die Geschichte seines Lebens versprochen.
Nick war Telefonate wie dieses gewohnt. Es verging kein Tag, an dem nicht mindestens ein gutes Dutzend Anrufer den fünf unterbezahlten Reportern von Astonishing News die Geschichte ihres Lebens versprachen und stets unerkannt bleiben wollten. Es handelte sich dabei stets um die üblichen Sensationen. UFO-Sichtungen; Neugeborene mit zusätzlichen Extremitäten; die Zahl dreiundzwanzig als Ergebnis eines abstrusen Rechenspiels; übersinnlich begabte Hausfrauen, die in regem Kontakt standen mit den Gottheiten der Inka, Maya oder auch der Azteken (die Grenzen zwischen diesen Kulturen waren mittlerweile fließend). In letzter Zeit hatten sich dann die Meldungen über die wahre Identität des so genannten U-Bahn-Killers gemehrt. Was wäre eine Großstadt ohne einen Serienmörder? Und was wäre ein Serienmörder ohne seine Nachbarn, die argwöhnisch jede seiner Bewegungen verfolgen, um ihn dann an die Polizei oder die Regenbogenpresse zu verpfeifen?
Aber etwas war anders gewesen, als Nick vor zwei Tagen diesen späten Anruf entgegengenommen hatte. „Mein Name ist Barnaby Kruger“, hatte der Anrufer gesagt, und dann hatte er ihm die Geschichte seines Lebens versprochen. Und irgendetwas in der Stimme des Anrufers hatte Nick davon überzeugt, dass er die Wahrheit sagte.
„Mr. Kruger?“ Nick drückte seine heruntergebrannte Zigarette aus. Er saß an einem schäbigen, mit Papieren übersäten Holztisch, der, zusammen mit zwei knarrenden Stühlen, das komplette Mobiliar seines kargen Büros darstellte. „Können wir dann anfangen?“ Er legte einen klapprigen Kassettenrekorder auf den Tisch.
Kruger rührte sich nicht. Er stand seit einer guten Viertelstunde am Fenster und schaute hinaus in die Dämmerung, die sich langsam über der Stadt ausbreitete. Die Hände hielt er hinter dem Rücken verschränkt, den Kopf hatte er leicht in den Nacken gelegt. Er schien jeden Atemzug bewusst bis in die entlegensten Winkel seines Körpers zu leiten.
„Mr. Kruger“, sagte Nick etwas lauter, als er sich eine neue Zigarette in Brand steckte, „meinetwegen können wir anfangen.“
Kruger drehte sich langsam vom Fenster weg. Der Stoff seines Anzugs raschelte sacht. Nick konnte nun zum ersten Mal in Ruhe sein Gegenüber betrachten. Der Mann hatte das Gesicht eines reifen, gestandenen Mannes – hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn, aus dem ein Dreitagebart trieb, graumeliertes Haar. Nick fand, dass er Ähnlichkeit mit den Modellen hatte, die in den Katalogen der Herrenausstatter mit teils verwegenen, teils smarten Blicken die neueste Anzugsmode zur Schau trugen; dieser Typ Mann, dem man im wirklichen Leben noch nie begegnet war. Was diesen Sonderling allerdings von den Katalog-Models abhob, war sein Blick. Da war ein Funkeln in seinen Augen, das Nick an den naiven Eifer eines kleinen Jungen erinnerte. So voller kindlich ungestümem Tatendrang schien der Blick des Mannes, dass der Reporter ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Nein, der Mann war keiner dieser Durchgeknallten. Ein wenig wunderlich – womöglich. Wer weiß? Vielleicht hatte er ja doch die Wahrheit gesagt, als er ihm die Geschichte seines Lebens versprochen hatte.
Nick wies auf den noch immer freien Stuhl, rückte demonstrativ den Kassettenrekorder in die Mitte des Tisches und betätigte die Aufnahmetaste. „Nun?“, fragte er und lehnte sich abwartend zurück.
Der Mann zog den Stuhl zu sich und ließ sich nieder. Dabei führte er jede seiner Bewegungen mit großem Bedacht aus, wie einen anmutigen Tanz mit Nicks erwartenden Blicken. Er beugte sich vor, legte die Hände gefaltet auf die Tischplatte und sah den Reporter eine Zeit lang an. Dann öffnete er seine Hände und sagte: „Mein Name ist Barnaby Kruger, und ich werde heute Nacht sterben.“
***
Diese Variante also. Auch damit war Nick vertraut. Kerl ruft an, verspricht Sensation; Kerl kommt zu Interview, sagt er müsse noch an diesem Tage sterben; Reporter zeigt sich skeptisch … Nun, an diesem Punkt konnte die Geschichte mehrere, oft hässliche, Wendungen nehmen. Nick verkrampfte sich. Er musste seine Worte sorgfältig wählen. Er musste versuchen, die Oberhand über dieses Gespräch zu wahren. Er will etwas von dir, redete er sich ein. Er will, dass du ihm seine Geschichte abnimmst. Du bestimmst die Spielregeln.
Während der Blick des Mannes auf ihm lastete, wägte Nick noch einen Moment lang seine Reaktion ab. „Werden Sie sich“, begann er zögerlich und drehte dabei die nächste Zigarette zwischen seinen Fingern. Er räusperte sich, hob den Blick und bemühte sich, Kruger in die Augen zu sehen. „Werden Sie sich in meinem Büro das Leben nehmen?“
Kruger machte ein ehrlich verwundertes Gesicht. „Kommt so etwas tatsächlich vor?“
„Gelegentlich.“ Nicks Augen waren schon wieder auf die Zigarette in seinen Händen gerichtet. Bleib standhaft, Mann! Er sah den Mann wieder an. „In dieser Redaktion. Erst im vorigen Jahr.“
Kruger stieß einen überraschten Laut aus. „Verrückte Welt, was?“, meinte er nach einer Weile.
Nick zuckte mit den Schultern. „Dann werden Sie sich also nicht das Leben nehmen.“
„Nein.“ Kruger schüttelte den Kopf.
„Wird außer Ihnen noch jemand sterben?“
Ein verschmitztes Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. „Sie müssen nicht um Ihr eigenes Leben fürchten, falls es das ist, was Sie meinen.“
Nick konnte seine Erleichterung nicht verbergen. Natürlich war es das, was er gemeint hatte. Er lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und zündete sich seine nächste Zigarette an. Ja, es war vorgekommen, dass sich ein Wahnsinniger in dieser Redaktion das Leben genommen hatte. Zuvor hatte er jedoch dem Menschen, dem er gerade eben noch die Geschichte seines Lebens aufgetischt hatte, eine Kugel in den Kopf gejagt. Verrückte Welt. Du wirst leben …
Nick stieß eine gewaltige Rauchwolke aus. „Sie werden also sterben?“ Er hatte die Kontrolle wiedererlangt – über seine Gedanken und über das Gespräch. Du wirst leben …
„Wie ich es sagte.“
„Es wird keinen Weltuntergang geben, keine außerirdische Invasion?“
Kruger schmunzelte und hob ergeben die Hände. „Nicht, dass ich wüsste.“
„Ich muss also nicht meine Freunde und Verwandten anrufen und sie auffordern, die Stadt zu verlassen?“
„Sie sind alle in Sicherheit.“
„Mr. Kruger“, Nick lehnte sich über den Tisch, „wieso, zur Hölle, sind Sie derart gelassen, wo Sie doch in …“, er blickte auf seine Uhr, „wo Sie doch in spätestens vier Stunden tot sein werden?“
Jetzt lehnte sich auch Kruger vor. Die Gesichter der beiden Männer waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und Nick stieg der wohlige Geruch eines teuren Aftershaves in die Nase. „Die Geschichte – Ihres – Lebens!“
***
„Ich hatte einen Freund“, begann Kruger zu erzählen und setzte ein wenig abwesend hinzu: „Er war Ihnen gar nicht so unähnlich.“
„Ach?“ Nick machte ein geschmeicheltes Gesicht. „Was ist aus ihm geworden?“
„Er ist tot.“
„Oh …“ Nick schalt sich für seine Frage. „Das tut mir leid.“
Kruger zuckte versonnen mit den Achseln. „Er war Schriftsteller, wissen Sie, immer auf der Jagd nach der perfekten Geschichte.“
„Und immer unbefriedigt …“
„… weil es die perfekte Geschichte nicht gibt.“
Nick grinste in sich hinein. Die perfekte Geschichte, die vollkommene Story, die absolute Sensation, die Geschichte deines Lebens. Nein, die gab es wirklich nicht.
Kruger erhob sich von seinem Stuhl und ging langsam durch den Raum. „Jeder Autor weiß, dass es so etwas wie die perfekte Geschichte nicht gibt, und trotzdem jagt er ihr sein Leben lang unerbittlich hinterher, bis ihn die Jagd schließlich aufzehrt. Robert – mein Freund – war da keine Ausnahme. Er hat seine Erzählungen stets zurückgehalten, an ihnen herumgefeilt, ihnen immer wieder ein neues Gesicht zu verleihen versucht, bis er schließlich ganz den Glauben an sie verlor.“
„Dann hätte er besser Photograph werden sollen“, warf Nick ein. Als er Krugers fragenden Blick bemerkte, erklärte er: „Ein Photograph schießt ein Photo, eine Momentaufnahme, ein Abbild der Wirklichkeit. Ein Schriftsteller hingegen muss seine eigene Wirklichkeit schaffen – so wie ein Maler – und kaum hat er sein Werk vollendet ist es auch schon der Interpretation ausgesetzt. Seiner eigenen; der des Betrachters … Und niemals wird die Wirklichkeit gesehen werden, die er vor Augen hatte, die Wirklichkeit, die er darstellen wollte, als er noch an seinem Werk arbeitete, sondern eine ganz andere.“ Nick drückte seine Zigarette aus. „Kein Werk ist eindeutig. Somit ist es auch nicht perfekt.“
„Sie denken zu viel“, meinte Kruger. „Und Sie rauchen zu viel.“
Nick zeigte ein wölfisches Grinsen.
„Aber ich sehe, dass ich bei Ihnen an der richtigen Adresse bin.“ Kruger schaute den Reporter versonnen mit zur Seite geneigtem Haupt an. „Auch Sie sind dabei, verzehrt zu werden.“
„Bin ich das?“ Nick wusste nicht, was er von diesem Kerl halten sollte. Er versprach ihm die Geschichte seines Lebens, und jetzt philosophierten sie darüber, dass diese gar nicht existierte. „Hören Sie“, meinte er und räusperte sich, „ich produziere keine Geschichten. Ich bin nicht kreativ. Ich recherchiere und schreibe Fakten nieder. Mehr nicht.“
„Fakten?“
Nick hob ergeben die Hände.
„So, wie Ihre Geschichte – Verzeihung – Faktensammlung über die UFOs am Südpol?“
Nick spürte, wie er innerlich aufwallte. „Wenn Sie nicht daran glauben, dann …“ Er atmete tief durch. Ruhig bleiben! Der Kerl hatte sich also seine Stories durchgelesen. Na schön. Und er maß ihnen keinen Wahrheitsgehalt zu. Auch schön. Außerdem würde er, wenn er denn die Wahrheit gesagt hätte, den Abend sowieso nicht überleben. Ein Kritiker weniger. „Wenn Sie nicht daran glauben, Mr. Kruger, dann kann ich daran nichts ändern. Ich sammle die Fakten, ich präsentiere sie, das ist mein Beruf.“
„Nick“, auf einmal war etwas Gütiges in der Stimme Krugers, „was ich denke, ist doch von keinerlei Bedeutung.“ Er setzte sich wieder an den Tisch, und beugte sich zu dem aufgewühlten Reporter. „Glauben Sie tatsächlich an das, was Sie da schreiben, oder verzieren Sie nicht doch hier und da einmal ein paar dieser Fakten, um es Ihnen selbst ein wenig glaubhafter zu gestalten?“
Nick hielt den Blick ausweichend auf den laufenden Kassettenrekorder gerichtet.
„Schreiben Sie nicht vielleicht doch … Geschichten?“ Kruger lehnte sich wieder zurück.
„Was wollen Sie?“ Nick hatte wieder aufgesehen. „Was, in Dreiteufelsnamen, wollen Sie?“
Kruger fuhr mit der Rechten behutsam in seine Jackentasche und holte etwas hervor. Es war ein kleines Stoffbündel, das er mit fließenden Bewegungen entfaltete und seinen Inhalt schließlich auf den Tisch vor sich legte.
„Was ist das?“, fragte Nick.
„Ihre Geschichte.“
***
Nick starrte das Ding an, das vor ihm lag. Es schien eine Art Amulett zu sein, hatte jedoch keine Kette. Es war aus dunklem Holz gefertigt und mit groben Schnitzereien verziert. Es war in keinem ästhetischen Sinne schön, oder auch nur ansehnlich, dennoch konnte Nick seinen Blick nicht von der derben Pracht abwenden, die von dem Schmuckstück ausging. Es anzusehen beruhigte ihn.
„Dieses Stück“, erklärte Kruger, „hat einst meinem Freund gehört.“
„Robert.“
„Genau diesem. Wie gesagt, Robert war lange auf der Jagd gewesen nach – Sie wissen schon – der perfekten Geschichte. Und die Jagd zehrte an ihm. Man sah es ihm an. Der Mensch, der Robert einst gewesen war, schwand dahin, und was blieb, war ein bleiches, bebendes Bündel Nerven.“ Kruger zuckte mit den Achseln. „Ich hatte ihn schon aufgegeben, da rief er mich eines Tages aus heiterem Himmel an. Wir hatten seit Monaten nicht mehr miteinander gesprochen. Er klang so anders. Er fragte mich, ob ich in der Stimmung sei, etwas zu unternehmen, so wie früher. Natürlich sagte ich zu. Ich war neugierig, was diese Änderung in seinem Verhalten verursacht haben könnte. Also trafen wir uns am nächsten Abend, tranken Wein, redeten von alten Zeiten, von erreichten Zielen und unerfüllten Träumen. Wir taten das von nun an fast jeden Abend.“ Kruger hielt einen Moment inne. „Dann, an einem dieser Abende fragte ich ihn nach seinen Geschichten. Ich wusste, dass sie es waren, die ihn zerstört hatten, und es fiel mir nicht leicht, das Thema anzusprechen. Irgendwie befürchtete ich, den neuen … alten Robert wieder zu verlieren.“
Nick rutschte unruhig auf seinem Stuhl umher. „Und? Hat er sie gefunden?“
„Die perfekte Geschichte?“ Kruger lächelte. „Oh ja. Und nicht nur eine.“
„Was meinen Sie?“
„Er lud mich am nächsten Tag in seine Wohnung ein. Und dort sah ich dann die Früchte seiner Arbeit. Erzählungen, Novellen, Geschichten … Er hatte sie geschrieben, er hatte sie vollendet, er war zufrieden. Für ihn waren sie … perfekt.“
Nick griff nach einer weiteren Zigarette und deutete auf das Amulett, das immer noch zwischen ihnen lag. „Lassen Sie mich raten: es hing mit diesem Ding da zusammen.“
Kruger strich mit den Fingern über das merkwürdige Stück. Seine Augen trübten sich. „Er zeigte es mir an diesem Tag, sagte mir, es sei ein Geschenk gewesen, und dass er es schon bald selbst weiterverschenken würde.“ Kruger schwieg für einen Moment. Dann seufzte er. „Alles, was er in dieser Zeit erreicht hatte, hing mit diesem Amulett zusammen. Es verhalf ihm zu seinem Erfolg.“
„Was glauben Sie, was ist es?“ wollte Nick wissen. „So etwas wie ein guter Talisman? Ein Glücksbringer?“
Kruger starrte ihm in die Augen. „Nein. Kein Glücksbringer.“ Er schob das Ding von sich, schüttelte den Kopf. „Kein Glück.“
Nick war ein wenig verwirrt. Er wollte mehr wissen. Was hatte es mit diesem Ding auf sich? Wie ging es mit dieser Geschichte weiter? Und was sollte das alles mit dem bevorstehenden Tod Krugers zu tun haben? „Also hat Robert Ihnen das Amulett geschenkt?“, fragte er.
Kruger zeigte keine Reaktion. Er erhob sich wieder von seinem Stuhl, schritt gemächlich zum Fenster und starrte wortlos hinaus.
„Hat er?“, insistierte Nick.
Kruger drehte sich nach einer Weile vom Fenster weg. Er hielt den Kopf schwer auf die Brust gesenkt. „Er sagte eines Tages, er hätte erreicht, was er erreichen wollte. Und dann, ja …“ Krugers Stimme begann zu zittern. „Dann hat er es mir geschenkt.“
„Also?“
Kruger sah ihn fragend an.
„Was ist es?“
„Was ist es?“, wiederholte Kruger die Frage. Dann schüttelte er sich, als versuchte er, sich aus einer Art Lethargie zu befreien. „Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Was ist es, das Sie daran hindert, die perfekte Geschichte zu schreiben?“
Nick stöhnte auf. „Nicht schon wieder dieses Thema.“
„Aber genau darum geht es“, meinte Kruger. Plötzlich war wieder dieser Glanz in seinen Augen. „Bitte, beantworten Sie meine Frage.“
„Das hatten wir doch schon. Kein Schreiberling hält sein Werk für vollkommen, weil es nicht eindeutig ist, weil es auslegbar ist.“
Kruger nickte eifrig. „Aber was ist in dem Moment, in dem er es schreibt? In diesem einen Moment? Ist es zu diesem einen Zeitpunkt nicht eindeutig?“
Nick stutzte. „Nun …“
„Zeigt es nicht in diesem kurzen Moment die einzig gültige Wahrheit?“
„Ich denke schon.“ Nick wusste nicht, worauf der Mann hinauswollte.
„Und genau da kommt dieses Amulett ins Spiel.“ Kruger war wieder zum Tisch geschritten, hatte das Schmuckstück genommen und hielt es nun triumphierend hoch. Nick betrachtete es beinahe bangend. Die ganze Zeit über war ein Verlangen in ihm gewesen, nach dem Anhänger zu greifen, ihn begreifen zu können. Irgendetwas ging von diesem Ding aus. Irgendetwas Beruhigendes – Unwiderstehliches.
Kruger sah den Ausdruck in Nicks Augen. „Dieses unscheinbare kleine Stück Holz hier – der Teufel weiß, wo Robert es herhatte – gibt seinem Besitzer etwas zurück, das er schon vor langer Zeit verloren hat. Etwas, was selbst seine Vorfahren schon vor langer Zeit verloren hatten.“ Er legte das Amulett wieder auf den Tisch.
Nick betrachtete es begierig. „Was?“, fragte er Kruger. „Was gibt es mir zurück?“
Kruger lächelte. „Die Einheit mit der Zeit.“
„Die Einheit mit …“ Nick verstand nichts mehr. Er hätte mit allem gerechnet, aber das … Er ließ die Schultern hängen. Die Einheit mit der Zeit. Das war keine Sensation.
„Das ist es, was der Mensch verloren hat“, erklärte Kruger und setzte sich wieder an den Tisch. „Die Einheit mit der Zeit. Der Mensch lebt endlich. Er hat diese Einheit eingebüßt.“
„Dann macht dieses Amulett seinen Besitzer also unsterblich?“, fragte Nick ungläubig.
Kruger stieß ein glucksendes Lachen hervor. „Nein, nein.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Der Mensch lebt endlich … Damit meine ich, dass er sich seiner Endlichkeit bewusst ist. Er ist sich seines bevorstehenden Todes bewusst – sein Leben lang.“
„Und dieses Amulett …“
„… nimmt ihm dieses Bewusstsein. Es macht ihn eins mit der Zeit. Kein Anfang, kein Ende, kein Gestern, kein Morgen, nur der Moment.“
„Nur der Moment …“
„Der Moment, in dem Ihre Geschichte perfekt ist. Dieser Moment. Jeder Moment. In jedem Augenblick gehen Sie ganz auf. Sie leben nicht mehr endlich.“
„Ich lebe unendlich.“
„Sie leben im Einklang mit der Zeit.“
„Die perfekte Geschichte …“
„Die Geschichte Ihres Lebens.“
***
Nick sah Kruger eindringlich an. „Werden Sie mir dieses Amulett schenken?“
„Nein.“ Krugers Blick verriet keine Regung. Spielte er etwa mit ihm?
„Sie sagten, Sie werden sterben, noch heute Nacht. Wem haben Sie vor, dieses Amulett zu geben?“
„Niemandem.“ In dem Mann regte sich noch immer nichts. „Sie werden es sich nehmen. Nachdem ich gestorben bin.“
Nick hatte eine Ahnung, was dieser Kerl vorhatte.
Er war nicht verrückt. Er war berechnend. Er hatte einen Plan.
„Warum wollen Sie es loswerden?“
„Das Amulett?“ Kruger machte ein überraschtes Gesicht. „Mir kann es nicht helfen. Robert hatte ein Ziel. Sie haben eins. Ich hingegen habe keines. Das unterscheidet uns. Ich lebe vor mich hin. Ich jage nichts mehr hinterher. Ich habe schon vor langer Zeit meine bescheidenen Ziele erreicht.“ Er lächelte. „Als ich Robert das Amulett abnahm, dachte ich, es handele sich um einen Glücksbringer, genau wie Sie zu Anfang. Ich wusste es nicht besser …“
„Moment mal“, unterbrach ihn Nick. „Sie haben es ihm abgenommen?“
„Er wollte es einem Schriftstellerfreund geben, stellen Sie sich das vor.“ Er lachte.
„Was haben Sie getan?“ Ein mulmiges Gefühl keimte in Nick auf.
Kruger kramte wieder in seiner Jackentasche. Doch diesmal zog er kein magisches Amulett hervor. Es war etwas ganz und gar Unmagisches, was er jetzt in der Hand hielt. Nicks Herz hörte für einen kurzen Augenblick auf zu schlagen.
„Kruger, Sie sagten, Sie wollten sich nicht das Leben nehmen. Und Sie sagten, dass ich …“
„Beruhigen Sie sich!“ Kruger legte den Revolver auf den Tisch. Dann fuhr er mit ruhiger Stimme fort: „Roberts Tod war unnötig. Das weiß ich jetzt. Und einem Mann wie mir kann dieses Amulett nicht helfen. Auch das weiß ich. Aber es ist zu spät.“ Er starrte Nick an. „Aber Ihnen kann es große Dienste erweisen. Ihnen wird es große Dienste erweisen.“
Dieser Kerl hatte alles genau geplant.
Mein Name ist Barnaby Kruger, und ich werde heute Nacht sterben. Das hatte er gesagt. Und er würde nicht durch die eigene Hand sterben. Auch das hatte er prophezeit. Nick betrachtete den Revolver. Dann fiel sein Blick wieder auf das Amulett. Oh ja, es könnte ihm große Dienste erweisen. Die Geschichte deines Lebens. Er musste das Amulett besitzen. Er musste es ganz einfach. Dann blickte er wieder auf den Revolver.
***
Nick erhob sich von seinem Stuhl. „Ich werde Sie nicht töten!“
Kruger sah ihm ruhig in die Augen. Da war immer noch dieser Glanz, dieser jungenhafte Übermut. Kruger lebte unendlich. Und er konnte es nicht ertragen. Er war verzweifelt. Der kleine Junge in seinen Augen war verzweifelt.
„Ich werde sie nicht töten.“ Nick wies auf das Amulett. „Und schon gar nicht dafür.“ Er war ein lausiger Lügner. Er musste es besitzen. Egal wie.
„Das habe ich gewusst.“ Kruger sprach die Worte ruhig und gelassen.
Er lebt unendlich. Er ist sich seiner Endlichkeit nicht bewusst. Trotzdem will er seinen Tod. Nicks Gedanken rasten in seinem Schädel umher. Warum verschenkte er das verfluchte Ding nicht einfach? Warum suchte er den Tod?
Als hätte er Nicks Gedanken erraten, begann Kruger: „Wenn ich dieses Amulett erst weitergereicht habe, kann ich nicht mehr bestehen. Wer einmal dieses Gefühl von Unendlichkeit erfahren hat, kann nicht mehr zurück. Ich kann es nicht.“ Er langte nach dem Revolver. „Ich kann es nicht.“
Nick stockte der Atem. Kruger hatte sich erhoben, die Waffe in der Rechten. Er spannte den Hahn. Was hatte der Kerl vor? Er hatte versprochen …
Ein Schuss zerfetzte die Luft.
Nick taumelte ein paar Schritte zurück. Seine Ohren dröhnten, und er hatte das Gefühl, die Besinnung zu verlieren.
Aber da waren keine Schmerzen.
Kruger hatte nicht auf ihn geschossen.
Er hatte … er hatte auf den Kassettenrekorder gezielt.
„Aber“, stammelte Nick.
„Das, was auf diesem Band war, war nicht die Geschichte, die ich Ihnen versprochen hatte.“ Er deutete mit dem Lauf seiner Waffe auf das Amulett. „Das ist sie. Und gleich gehört sie ganz Ihnen.“
Nicks Ohren hatten sich wieder etwas beruhigt. Das Dröhnen und Pfeifen war gewichen. Jetzt hörte er etwas anderes. Ein Krachen. Dann splitterndes Glas. Es kam aus dem Hausflur.
„Die Herren, die gleich hier erscheinen werden, werden Sie später fragen, wer ich war, und was ich von Ihnen wollte.“ Kruger war die Ruhe selbst. Er würde sterben. Wie er gesagt hatte. „Sagen Sie ihnen, dass Sie mir auf die Schliche gekommen sind, und ich Sie deswegen aus dem Weg räumen wollte.“
„Ihnen auf die Schliche gekommen? Wer zur Hölle sind Sie?“
Kruger sah gelassen auf seinen Revolver. Polternde Schritte auf der Treppe. „Sind Sie in der letzten Zeit mit der U-Bahn gefahren? Verdammt leer geworden, nicht wahr?“
Nick konnte es nicht glauben. Er stand mit weit aufgerissenen Augen da, während Kruger seinen Revolver auf ihn richtete. Du wirst leben.
Es gehörte zu seinem Plan.
Kruger wollte sterben.
Und er hatte jemandem einen Grund geliefert, ihn zu töten.
Du wirst leben.
In diesem Moment flog die Tür zum Büro krachend auf. Drei Polizisten stürmten in den engen Raum.
„Kruger!“, bellte einer von ihnen. „Runter mit der Waffe!“
Kruger richtete seinen Revolver auf Nicks Brust.
Du wirst leben.
„Runter damit!“
Die Geschichte deines Lebens.
Wieder fiel ein Schuss.
Nick zuckte zusammen. Er sah Kruger. Er hatte die Waffe fallengelassen und taumelte ein paar Schritte zurück. Ein roter Fleck breitete sich auf seiner Brust aus. Das Funkeln wich aus seinen Augen.
Dann brach er zusammen.
„Sind Sie in Ordnung?“
Nick hörte die Frage wie durch einen Vorhang. Er nickte.
***
Am nächsten Tag saß Nick in einem kleinen Büro. Ihm gegenüber, hinter einem schweren Schreibtisch sitzend, ging ein Polizist seinen Bericht durch.
„Da haben Sie ganz schön Glück gehabt.“ Der Polizist sah von dem Papier auf. „Der Kerl war wahnsinnig.“
Nick zuckte mit den Schultern.
„Er rief uns an, eine Stunde bevor wir bei Ihnen eintrafen. Erzählte wirres Zeug von U-Bahnen und Morden, und dass er alles gestehen wolle. Er nannte uns eine Adresse, doch da fanden wir nur ein leeres Apartment und das hier.“ Er deutete auf einen Brief, in dem Kruger die Morde gestanden hatte, die er in den U-Bahnhöfen begangen hatte. Dann hatte er geschrieben, dass es nur noch einen Toten geben müsse. Dahinter hatte er die Adresse von Nicks Redaktion notiert.
Nick wusste jetzt, dass er nie in Gefahr geschwebt hatte. Kruger hatte alles inszeniert und ihm ein Geschenk gemacht. Die Morde waren nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Er wollte sterben, und er hatte der Polizei den Grund geliefert, ihn zu töten.
Er war verrückt gewesen.
„Sind Sie auch wirklich in Ordnung?“ Die Stimme des Polizisten riss ihn aus seinen Gedanken.
„Oh ja“, sagte Nick mit ruhiger Stimme. In seinen Augen lag ein seltsames Funkeln. „Ich bin in Ordnung.“
„Nun“, meinte der Polizist, „von meiner Seite wäre es das. Am besten, Sie gehen nach Hause, und ruhen sich etwas aus.“
„Ausruhen?“ Nick erhob sich und schob die Hände in die Jackentaschen. „Auf keinen Fall.“
„Gehen Sie wieder in Ihr Büro?“
Nick strich mit den Fingern über das Amulett in seiner Tasche und lächelte. „Ins Büro, ja. Da wartet eine Menge Arbeit.“
„Woran arbeiten Sie denn gerade? Etwas Bestimmtes?“
„An der Geschichte meines Lebens“, antwortete Nick ruhig und verließ das Zimmer.