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Die Geschichte vom Sternenberg
Der Mann streckte seine Hände mit der hölzernen Kiste dem Himmel entgegen. Das Atmen fiel ihm schwer; zu dünn war die Luft. Es war ein mühsamer Aufstieg gewesen, eine lange Reise voller Entbehrungen. Es dauerte nicht sehr lange, bis das Schauspiel begann. Die Sterne, so nah und klar, blinkten und funkelten, tanzten Reigen und erhellten funkensprühend die Nacht. Der Mann war glücklich. Glücklich es endlich geschafft zu haben. Glücklich seiner Frau noch einmal gezeigt zu haben, wie sehr er sie geliebt hatte. Wie sehr er sie noch immer liebte. Und die Sterne wussten dies. Es war als entsprängen schimmernde Finger aus ihrer hellen Mitte und umfassten den Nachthimmel. Einige von ihnen wanderten hinab und versprühten glitzernden Staub. Wärmend und leicht legte er sich auf die Schultern und den Kopf des Mannes und er ließ ihn leuchten wie die Gestirne über ihm. Die Finger ergriffen die Kiste und nahmen sie mit sich hinauf in die Unendlichkeit. Dort oben, weit über allem was er kannte, vollzog sich das Wunder. Die Kiste brach auseinander und aus der Asche darin erhob sich glühend ein neuer Stern, während leuchtende Splitter sanft auf ihn herabregneten. Und als der Stern am Firmament blinkte und ihm zuzwinkerte, übermannte den Mann unendliche Freude, so strahlend und rein, wie das Licht, das seine Frau nun für immer auf ihn werfen würde.
***
Sam stand am Fenster und sah hinaus in den schwindenden Tag. Die langen Schatten, welche Laternen und Bäume warfen, verschwanden langsam und die Besucher stiegen in ihre Autos und fuhren nach Hause. Manche von ihnen erleichtert. Die meisten jedoch voller Sorge. So war es meistens in Krankenhäusern. Jeder dort, ob nun Patient, Schwester oder Arzt, war angefüllt mit ihr. Es war der unsichere Blick in die Zukunft, der dies mit sich brachte. Niemand wusste, wie es weitergehen, wie Behandlungen verlaufen und das Leben sich ändern würde. So schwer diese Dinge aber auch schienen, so sehr waren sie in einer solchen Umgebung jedoch auch mit Glück behaftet. Denn andere hatten nicht einmal diesen Blick nach vorn. Da war nichts. Keine Unsicherheit, sondern nur absolute Gewissheit.
Sam sah fort, vertrieb die dunklen Gedanken, setzte ein Lächeln auf und drehte sich um. Im Zimmer, an dessen Wänden fröhliche, bunte Bilder hingen, tollten Kinder umher. Manche hatte die Arme in Gips, andere hatten keine Haare mehr. Aber sie lachten trotzdem. Spielten und schrien. In einer der hinteren Ecken saß ein kleiner Junge mit dicker Brille und blätterte in einem Bilderbuch, das fast so groß war wie er selbst. Seine Augen glänzten, als seine Blicke über die Zeichnungen huschten. In der Mitte des Raumes spielten zwei Mädchen mit einer Puppe, deren Kopf genau so kahl war wie ihre eigenen. Aber auch sie freuten sich. Das kindliche Spiel setzte sich oft über alles andere hinweg. Sie schufen Welten, die das repräsentierten, was sie im Alltag sahen und was sie sich dort wünschten. Die Grenze zwischen Realität und Fantasie war fließend. Es war der größte Verlust des Erwachsenwerdens diese Grenze klar und deutlich zu ziehen und sich nur noch auf einer Seite aufzuhalten.
Auf einem gelben Stuhl, direkt neben einem Gummibaum, saß ein kleines Mädchen, das nicht spielte und das nicht lachte.
„Hey du.“ Sam kniete sich hin und lachte sie freundlich an.
Das Mädchen antwortete nicht.
„Hmmm“, brummte er laut. „Hier hat wohl jemand seine Stimme verloren.“ Sam blickte sich suchend um, sah unter den Stuhl, blickte hinter die Pflanze und schielte in alle Ecken des mit Spielzeug vollgestopften Raums.
„Meinst du, ich sollte die anderen Kinder mal fragen, ob sie suchen helfen?“
Das Mädchen antwortete immer noch nicht. Nicht einmal ein blasser Schimmer von Freude huschte über das junge Gesicht. Hätte Sam je an Gott geglaubt, dann wäre dies sein größter Vorwurf an ihn gewesen. Wie kann man einem Kind die Freude nehmen? Ein Kind das nicht lacht, sich nicht mehr an den kleinen Dingen dieser Welt erfreut, ist entweder bereits erwachsen oder es hat nie wirklich gelebt.
Er strich ihr liebevoll über das blonde Haar.
„Entschuldigen Sie bitte?“ Eine Frau kam mit wütendem Gesicht den Flur herauf. Ihre Stimme klang rau. Schlaflos.
Sam wich ein Stück zurück.
„Was machen Sie da bei meiner Tochter? Lassen sie Natalie bitte in Ruhe!“
Bevor er ihr eine Antwort geben konnte, kam eine junge Krankenschwester aus einem der angrenzenden Zimmer und lächelte die Frau freundlich an.
„Das ist in Ordnung. Das ist Sam.“
„Und wer bitte ist Sam?“ Die Frau blieb stehen und presste ihre Hände in die Hüften, aber ihr Gesicht entspannte sich bereits wieder.
„Sam ist öfters hier oben. Er spielt mit den Kindern, wenn keine von den Schwestern Zeit hat, sich um sie zu kümmern. Er hilft hier einfach manchmal aus.“
Die Frau entspannte sich, ging zu ihrer Tochter und umarmte sie. Das Kind wirkte wie eine leblose Puppe in ihren Armen. Völlig kraftlos.
„Es tut mir Leid.“ Sie blickte Sam an. „Manchmal ist es einfach...nun ja, also...“.
„Kein Problem“, unterbrach Sam sie.
Das Gesicht der Frau wirkte müde.
„Ich fahr jetzt heim und schau mal was dein Bruder macht. Wir kommen morgen ganz früh wieder zu dir. Okay?“
Sam zog sich zurück. Zu oft hatte er so etwas hier schon gesehen. Eine Mutter verabschiedete sich von ihrem Kind. Manchmal nur für eine Nacht. Manchmal für immer. Er sah es ihr an, dass sie damit nicht umzugehen wusste und versuchte, ihre Gedanken zu verbergen. Aber er sah auch ihre Angst wiederzukommen.
Doch die schlimmsten Gedanken würden kommen, wenn sie die mit Putzmittelgeruch geschwängerte Krankenhausluft hinter sich ließ und ein frischer Wind sie umwehte.
Ein flüchtiger Kuss und kein Blick zurück. Das war es, womit sich die Mutter schließlich von ihrer Tochter trennte. Sie ging fort, weil sie fort wollte und doch am liebsten geblieben wäre.
„Du hast Angst.“ Es war keine Frage, die er dem Kind stellte. Warum hätte er das fragen sollen? Er wusste es.
Sie nickte, wobei ihr die Haare ins Gesicht fielen. Ihr Blick blieb dabei auf eine leere Stelle am Boden gerichtet.
„Wovor hast du Angst?“
Erst antwortete das Mädchen nicht, schließlich aber hob sie ihren Kopf, sah Sam an und sagte etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte.
„Nicht da“, sagte sie mit leiser, fast unhörbarer Stimme.
Sam hob spielerisch eine Hand ans Ohr. „Wie bitte?“
„Man ist einfach weg.“
Er verstand und schluckte schwer. Er erinnerte sich noch genau daran, wie es bei ihm selbst als Kind gewesen war. Wie er mit einem Mal begriffen hatte, was tot sein bedeutete. Man war einfach nicht mehr da. Er hatte im Bett gelegen und immer wieder darüber nachgedacht, wie es ist, einfach nicht mehr zu sein. Er hatte geweint. Er war zornig gewesen
„Vielleicht ist man ja doch noch irgendwo“, brachte Sam mühsam hervor.
Das Mädchen sah auf.
„Komm mal mit.“ Sam stand auf, nahm die Hand des Kindes und führte es über den Flur in das Treppenhaus. Er nahm sie mit hinauf auf das Dach, wo ein angenehm frischer Wind die beiden umfing.
Der Abend war kühl und klar. Keine Wolke stand am Himmel und unter den Füßen der beiden knirschte der grobe Kies, der auf dem Dach verteilt war.
„Was siehst du, wenn du dort hinaufblickst?“ Sam hielt immer noch die Hand des Mädchens.
„Sterne.“ Sie zitterte.
„Genau. Kennst du Geschichten über die Sterne?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf, während Sam nickte.
„Dann erzähl ich dir eine. Es ist die Geschichte vom Sternenberg.“
Das Mädchen blicke ihn an.
„Es geht um einen Mann und seine Frau. Die beiden haben sich unglaublich gerne gehabt und ihr ganzes Leben miteinander verbracht. Er war immer für sie da und sie immer für ihn. Hätte man sie gefragt, wie denn das Leben ohne den jeweils anderen sein würde, hätten sie wahrscheinlich nicht antworten können und wenn, dann hätten sie gesagt, es sei unmöglich.“
Sam sah sie an, um zu schauen, ob sie zuhörte und verstand. Schließlich fuhr er fort.
„Aber irgendwann kam der Tag, da wurde die Frau krank. Er war immer bei ihr, pflegte sie und brachte ihr alles was sie wollte. Aber egal was er tat, es ging ihr von Tag zu Tag schlechter. Und egal, wie sehr er um sie weinte und wie sehr er darum betete, sie möge wieder gesund werden, es half nichts. Sie wurde schwächer und schwächer, bis sie irgendwann die Augen schloss und starb. Sie ließ ihn allein. So fühlte er sich. Allein.“
Das Mädchen zitterte. Irgendwo über ihnen pfiff ein Vogel.
„Er beschloss seiner Frau ein letztes Geschenk zu machen. Sie hatte sich immer gewünscht einmal im Leben den höchsten Berg ihres Landes zu besteigen. Sie hatte von dem Ausblick geträumt. Einmal auf die Wolken hinabblicken. Das hatte sie immer gesagt.
Der Mann nahm die Asche seiner Frau und trug sie bis auf diesen Berg hinauf. Er selbst war nicht mehr der Jüngste und auch seine Knochen waren nicht mehr das, was sie mal waren. Aber er bestieg den Berg. Egal wie steil die Wände waren, egal wie kalt der Wind ihm entgegenblies. Er kletterte einfach weiter, weil er ihr noch einmal etwas schenken wollte. Und als er ganz oben war, dort wo die Luft nicht mehr blau, sondern schwarz zu sein scheint, streckte der Mann seine Hände mit der hölzernen Kiste dem Himmel entgegen.
Dort geschah sein Wunder. Sein Trost.
Und jedes Mal, wenn er sich wieder alleine fühlte oder wenn er Angst hatte, sah er hinauf in den Himmel und dort war ein Stern, der blinkte und ihm zuzwinkerte. Dann fühlte er sich nicht mehr allein. Dann war er wieder bei seiner Frau.“
Sam kniete sich hin und sah in die Augen des Mädchens. Der Kies stach ihm ins Knie.
„Und? Wie findest du die Geschichte?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ist nur ne Geschichte.“ Ihre Stimme klang traurig.
„Ich hab es auch gemacht.“
Sie sah ihn fragend an.
„Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben. Sie wurde auch verbrannt und dann bin ich mit ihr so hoch hinauf, wie ich nur konnte und hab eine ganze Nacht unter den Sternen gesessen. Ich weiß noch, dass ich gefroren habe. Ich hatte Hunger, war müde und konnte kaum ein Auge offen halten. Aber da oben. Da haben mir dann die Sterne entgegengeblinkt und ich fühlte mich wirklich nicht mehr alleine.“
Sie entzog ihm seine Hand.
„Hier gibt es keine so hohen Berge. Hör auf so was zu erzählen“, sagte sie trotzig.
„Darum geht es nicht. Die Geschichte ist wirklich nur eine Geschichte. Aber für einen kurzen Moment, als ich oben auf dem Dach eines hohen Hauses saß, das mein Berg war, fühlte ich mich nicht mehr allein. Ich weiß nicht, welcher Stern da auf mich herabgesehen hat und ob meine Frau wirklich dort oben war, aber was wäre wenn? Und auch wenn dieses Wenn nur ganz klein ist. Ein Stern hat gezwinkert. Ich war dann nicht mehr allein. Ich fühlte mich einfach anders. Vielleicht sogar befreit. Meine Erinnerungen war so deutlich.“
„Und wenn schon.“ Ihre Trotzigkeit war nicht verflogen. „Ich bin es nicht, die raufguckt.“
Jetzt verstand Sam.
„Nein, bist du nicht, aber du bist vielleicht die, die anderen zuzwinkert und ihnen ihre Angst nimmt.“
Jetzt sah das Mädchen zu den Sternen hinauf und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Da seid ihr“, hallte die Stimme einer Krankenschwester zu ihnen herüber.
„Komm schon, Natalie. Zeit fürs Bett.“
„Ja!“, rief sie, rannte an der Schwester vorbei und verschwand in der Tür, welche zum Treppenhaus führte.
Die Frau sah Sam an. „Na, hast du wieder die Geschichte vom Sternenberg erzählt?“
Er nickte.
„Sag mir doch kurz Bescheid, wenn du wieder Kinder hier hinauf entführst. Ich hab dich eigentlich hier in das Krankenhaus gesteckt, damit ich auf dich aufpassen kann, auch wenn ich arbeite.“ Sie strich sich durch die Haare.
„Sag mal?“, fragte Sam.
„Ja?“
„Bringst du mich bald auch auf einen Berg?“
Ein kurzer Windstoß verfing sich in ihren Haaren und brachte sie durcheinander. Sie spitzte die Lippen, gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und sah ihn mit warmen Augen an.
„Auf den allerhöchsten.“