Die Giganten
Wenn man die dunklen Giganten in der Arena gegeneinander kämpfen sah, so war man überrascht, denn es hatte so gar nichts von der Effektivität, mit der sie für gewöhnlich Menschen töteten. Nein, dies war ein richtiger Kampf zwischen gleichen Kräften, und die Aggression, mit der sie dabei aufeinander losgingen, war ungleich größer, ja sogar absolut grauenvoll. Jeglicher Widerstand gegen ihren Willen, sofern sie denn einen hatten, provozierte sie nur noch mehr, und dieser Wille strebte nach der völligen Vernichtung des Gegners, mehr noch, gierte schier danach. Diese Gestalten schienen die Manifestation von reiner Aggression und Brutalität zu sein. Es war aber auch nicht so wie bei einem Gladiatorenkampf. Kein Warten, kein vorheriges Abschätzen des Gegners, kein Belauern ging voran. Sobald sie aus den riesigen Toren getreten waren, gingen sie ohne zu zögern und mit voller Wucht auch schon aufeinander los, um wie besessen aufeinander einzuschlagen. Deshalb dauerten diese Kämpfe auch nie lange. Diese Kreaturen bewegten sich unglaublich schnell und kannten keine Erschöpfung. Wenn einem der Kämpfer der Arm abgerissen wurde, so ging er umso brutaler auf seinen Gegner wieder los. Nur die physische Unfähigkeit zu kämpfen konnte sie stoppen. Wenn einer irgendwann schwer verletzt zu Boden ging, wurde er von dem anderen regelrecht zerfleischt, bis nur noch ein roter Brei von ihm übrig war, der den Boden, als auch den Sieger schimmernd überzog. Nicht selten kam es vor, das beide umkamen; unverletzt ging niemals einer aus solch einem Kampf hervor. Während des Kampfes stießen die Kontrahenten unglaubliche, entsetzliche Schreie aus, die weit über die unendliche Ebene hallten. Hier, in ihrer Welt, konnte man sie hören.
Den ersten Giganten sah ich in der Schule an einem verregneten, grauen Vormittag im Herbst. Ich hatte Unterricht im ersten Stock, und als ich aus dem Fenster blickte, hing er in einem Baum, der auf dem großen Schulhof stand. Der Gigant war zwischen vier und fünf Meter groß und völlig schwarz. Er trug eine Art Rüstung und hatte riesige Klauen, und seine langen Finger waren ständig in Bewegung. Sie alle sahen so aus. Es war aber sehr schwer, sie richtig zu erkennen und ich hatte den Eindruck, dass man sie besser wahrnahm, wenn man sie nicht direkt anblickte, sondern sie aus dem Augenwinkel betrachtete. Wenn man sie direkt ansah, entzog sich ihre Gestalt irgendwie dem Betrachter, wie wenn man eine Olive mit einer Gabel aufzuspießen versuchte. Zunächst sah ich nur diesen einen. Er musste irgendwo von oben gekommen sein, denn er fiel schlichtweg durch den Baum hindurch, der unter seinem Gewicht wie ein Streichholz einknickte – er muss unglaublich schwer gewesen sein. Und jetzt sah ich erst, dass keine fünf Meter von der Stelle, wo er zu Boden kam, ein kleines Mädchen stand, ganz so, als habe es die Kreatur erwartet. Oder hatte sie ihn gerufen? Ich kannte sie, weil mir ihre merkwürdigen Augen aufgefallen waren. Sie schien nicht die geringste Angst vor dem Riesen zu haben - er starrte aus den schwarzen Höhlen seines schwarzen Helmes auf sie herab und sie erwiderte seinen Blick dominant und herrisch. Dann plötzlich, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, ging der Koloss auf eine Gruppe Schüler los, die gerade das Schulgebäude verlassen hatten. Sie hatten gar keine Zeit zu reagieren, so schnell war er. Ohne sie zu berühren, nur aus einer blitzartigen Bewegung heraus, sprengte er sie auseinander, so dass sie in hohem Bogen in alle Richtungen geschleudert wurden und so hart aufschlugen, dass sich keiner von ihnen mehr rührte. Es hatten inzwischen alle das Wesen bemerkt und starrten nun mit Entsetzen auf das Geschehen. Einer der Kinder vom Schulhof, ein blonder Junge, war mit einem heftigen Schlag gegen die Scheibe eines Klassenzimmers auf der gegenüberliegenden Seite geprallt und lag jetzt unter dem Fenster im Hof in seinem Blut, die Gliedmaßen seltsam verdreht. Doch wo war der Gigant jetzt? Er hatte inzwischen ein neues Ziel. Mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit, der kaum zu folgen war, sprang er hoch in die Luft, verharrte dort kurz am Umkehrpunkt, als würde er sein Opfer fixieren, und schoss dann ebenso schnell wieder hinunter auf einen Bus, der soeben um die Ecke der Turnhalle auf der anderen Seite bog. Der Gigant landete auf dem Dach, sodass die Scheiben zerbarsten und die Glassplitter meterweit nach außen schossen. Der Busfahrer verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug, der Bus kam von dem Weg ab und prallte ohne zu bremsen gegen die Turnhallenwand. Und schon war das Monster dabei, auf den Bus einzuschlagen, und zwar mit solcher Gewalt, dass man meinte, das Metall habe keinen Widerstand. Die Trümmer und Fetzen flogen in alle Richtungen. Den Busfahrer konnte man nicht sehen, aber ich glaube nicht, dass er die Attacke überlebt hatte, aber ich meine, dass der Bus ansonsten leer gewesen war. Von dem war nunmehr nur noch ein undefinierbarer Trümmerhaufen übrig, aus dem jetzt Flammen zu lodern begannen, die in schwarzen Qualm übergingen. Der Gigant ließ unvermittelt von dem Bus ab und war plötzlich hinter der Turnhalle verschwunden. Er war einfach weg. Nur das kleine Mädchen stand noch da, genau an der selben Stelle. Sie sah mich an.
Völlig still war es jetzt. Jeder, der zugesehen hatte, war wie gelähmt. Alles war still, nur das Prasseln der Flammen des brennenden Busses nahm man durch das Fenster als sonores Rauschen wahr. Das Schauspiel hatte vielleicht zwanzig Sekunden gedauert, kaum länger. Und noch immer sah sie mich an. Ihre merkwürdigen Augen stachen aus ihrem kleinen Gesicht auf mich ein – sie lächelte, aber nur mit dem Mund. Jetzt sahen mich auch alle anderen an. Dann drehte sich das kleine Mädchen plötzlich um und ging fort, vorbei an dem brennenden Wrack, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen und verschwand hinter der selben Ecke wie der schwarze Gigant. Sie wurde nie wieder gesehen. Nur ich sollte ihr wieder begegnen. In der Nacht, als sie mich holen kam.