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- 24.09.2004
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Die gläserne Frau
Unter den Linden am Osthang des kleinen Berges, da, wo der Fluss entspringt, hab ich mein Versteck. Manchmal gehe ich dort hin, um sie zu sehen, um von ihrer Schönheit verzehrt zu werden. Ich habe sie dort versteckt, damit sie vor der großen gefräßigen Welt in Sicherheit ist. Sie hat so etwas nicht verdient, das wusste ich, als ich sie das erste Mal sah - sie fand.
Als geleite mich ein unsichtbarer Faden durch die Welt, die ich damals so hasste, gelangte ich am Tag meiner Hoffnungslosigkeit, dem Höhepunkt meines Scheiterns und meiner Selbstverachtung in ihre Nähe. Ein Hauch von Gesang wehte an mein Ohr, und für einen Moment stand die Welt still. Mein schneller Gang, der mich mittlerweile schon tief in den Wald geführt hatte, wurde langsamer und langsamer. Schließlich blieb ich stehen. Der Gesang war zu leise, als dass man die liebliche Stimme hätte verstehen können. Ich fühlte lediglich die Melodie und selbst diese nicht in ihrer Vollkommenheit, sondern bloß als ein Hauch des Ganzen. Ich sog die warme Sommerluft ein und schloss die Augen. Ich entspannte meinen ganzen Körper, und die Sonnenstrahlen ließen fröhliche Farbgebilde vor meinem inneren Auge tanzen. Mein Zorn war verflogen, so auch meine Trauer. Ich schmolz zurück in eine andere Zeit, vergaß meine zerstörerischen Pläne und mit ihnen die Menschen, denen ich meine Verzweiflung zu verdanken hatte. Wie Abfall verbrannte ich Erinnerungen und aufgestaute Emotionen in dem brodelnden Kessel meines Hasses, den ich nach Beendigung seiner Arbeit mit spastischem Zittern aus meiner Seele vertrieb. Schweiß quoll aus mir heraus, wie Pflanzen aus gesundem Boden, doch das machte jetzt nichts mehr. Ich war frei. Frei von einem Leben, das ich von diesem Tag an nie mehr wieder sah.
Erleichtert schlug ich die Augen auf und horchte noch einmal. Die Stimme war nun deutlicher und die Richtung, aus der sie kam, offensichtlich. Geschmeidig und ohne Hast setzte ich mich in Bewegung, setzte behutsam einen Fuß vor den anderen und betrachtete die Welt mit den neuen Fähigkeiten meines Denkens. Ich passierte Baum für Baum und ließ jene hölzernen Riesen hinter mir, wie ehrfürchtige Diener, die mir mit tiefer Verbeugung und stummer Zurückhaltung den Weg zu meinem Thron weisen. Bald hörte ich das Plätschern eines Flusses, roch das frische Wasser, das er führte, und sah einen kleinen, von Linden umgebenen Berg. Je näher ich kam, desto lauter wurde der liebliche Gesang, und als ich dann am Fuße des Berges innehielt, war die Stimme bereits ein Flüstern. Ich spürte die Anwesenheit von etwas Schönem, wie die Kraft eines elektrischen Feldes, und als ich in die Hocke ging, um die silberne Kiste, die am Grund des Flusses lag, an mich zu nehmen, durchfuhr mich eine Welle der Erleichterung, die auf ein Papier gezeichnet die Farben eines Regenbogens gehabt hätte. Ich kniete mich in das nasse Schilf am Ufer des Flusses und stellte die silberne Kiste vor mich auf den Boden, während sich der Gesang in meinem Kopf im Rhythmus meines Herzens ausbreitete und mein Gehirn bedeckte wie ein heilender Teppich. Die Kiste öffnete sich mit einem leisen Klicken, und ich schob den Deckel beiseite. Erst war ich geblendet von jenem zierlichen Objekt, was da hell glitzernd vor mir lag und versuchte, mir seine Schönheit zu offenbaren, doch dann verstanden meine Augen.
Ich sah sie; sah sie und ihre ganze Schönheit, und sie speiste meine Liebe, wie das Wasser eines brechenden Staudamms das trockene Tal. Ich sah die gläserne Frau. Mit ihrem verträumten Blick sah sie in meine Augen, und ihre Mundwinkel umspielte ein sanftes Lächeln. Das Lied, das sie sang, war nun klar und deutlich. Es umgab sie, wie ein farbenfroher Schleier und verflocht meine Gedanken zu einer Welt aus Herrlichkeit.
Dies war meine erste Begegnung mit der gläsernen Frau. Nachdem sie mir ihr Lied gesungen, mir mein Herz voller Freude gefüllt und mir damit mein Leben wieder lebenswert gemacht hatte, versteckte ich sie im ruhigen Wasser des Flusses. Langsam ging ich zurück nach Hause, ließ den kleinen Berg, die Linden und den Fluss hinter mir und labte mich bereits an der neuen Lebensfreude.
Heute gehe ich nur noch selten zu meinem Versteck, denn ich habe gelernt aus eigener Kraft zu leben. Wenn ich an die schönen Stunden, die ich an dem Berg verbrachte, zurückdenke, wird mir ganz warm ums Herz, und ich würde am liebsten sofort wieder losgehen. Doch ich weiß, dass das nicht die Lösung sein kann. Als ich damals in den Wald ging, wollte ich nicht mehr leben. Heute will ich es. Jeden Tag fühl ich mich besser und stärker und kann regelrecht spüren, dass mein Herz bereit ist, den nächsten Schlag zu tun. Vielleicht werde ich es morgen wagen und wieder unter Menschen gehen. Mich wieder einreihen in die Gesellschaft, die Tage der Heilung dankend hinter mir lassen und tapfer in die Zukunft blicken. Und auch, wenn ich dann mein Versteck nicht mehr aufsuchen und die gläserne Frau nie wiedersehen sollte, weiß ich, dass ich niemals vergessen werde, wie ich sie das erste Mal traf. Unter den Linden am Osthang des kleinen Berges, da, wo der Fluss entspringt.