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Die Glaskugel

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09.12.2001
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Die Glaskugel

Draußen tobt ein Schneesturm um die Blockhütte tief im Wald. Es ist dunkel. Keine Menschenseele weit und breit. Alles Leben hat sich in irgendwelche Löcher verkrochen. Die Erde in dieser Gegend ist im Winter nur wenig mehr als ein Meer aus Eis. In der Blockhütte brennt ein Feuer. Da sitzt ein alter Mann auf einem Schaukelstuhl. Sein wahres Alter ist schwer zu erahnen. Sein Haar schlohweiß, der Bart, der sein rundes Gesicht umgibt ebenso weiß; ab und an eine kleine graue Strähne. Er sitzt in einen weiten Mantel und in Decken gehüllt vor einer Glaskugel. Hinter ihm brennt das Feuer eines Kamins. Versunken blickt er in die Glaskugel und raucht dabei an einer langen, schwarzen Pfeife.

Lydia bestellt einen großen Milchkaffee und Erdbeerkuchen. Dann ist es ihr peinlich, denn Erdbeeren sind um diese Zeit teuer und da sie von Paul eingeladen worden ist, entscheidet sie sich schnell doch für ein Stück Streuselkuchen. Damit Paul nicht denkt, sie habe zu große Ansprüche. Paul bestellt einen Tee und ebenfalls Streuselkuchen. Eigentlich mag er den nicht, aber das war so ein Reflex. Er bestellt das selbe wie Lydia, vielleicht denkt Lydia jetzt, Paul und sie könnten einiges gemeinsam haben (zum Beispiel eine Vorliebe für Streuselkuchen). Und das wiederum würde dafür sprechen, daß sie in Zukunft einiges gemeinsam unternehmen könnten. Die Bedienung nimmt die Bestellung auf und macht sich auf den Weg in die Küche. Paul erzählt Lydia etwas, aber sie ist nicht konzentriert. Vielmehr ist sie damit beschäftigt, ihm in die Augen zu sehen, gleichzeitig möglichst offen und doch geheimnisvoll zu lächeln, die richtige Körperhaltung beizubehalten, sprich: sie tut alles, was jemand tut, der verliebt ist und gleichzeitig nicht zu viel davon offenbaren will. Paul gestikuliert.
Zufällig und tatsächlich ohne Absicht streift er Lydias Hand. Er riskiert einen Moment dort inne zu halten, bereit jederzeit so zu tun, als wäre ihm diese Berührung kaum aufgefallen. Lydia zuckt nicht zurück. Sie wagt es nicht, ihre Hand um seine zu schließen, aber sie hält ihre Hand weiterhin einladend offen. Nun ist diese seltsame Situation entstanden, die jeder kennt, wenn er schon einmal verliebt war. Das Wagnis dem anderen noch näher zu kommen will man kaum wagen, doch gibt es auch kein zurück mehr.
Die Bedienung sieht, was vor sich geht. Ohne daß es ihr bewußt ist, wird sie den Tisch von Paul und Lydia erst in wenigen Minuten bedienen, denn die beiden umgibt gerade eine bestimmte Spannung, die sie in ihre eigene Welt getragen zu haben scheint. Einige Worte werden noch ausgetauscht, doch ihr Inhalt ist bedeutungslos, denn zwischen den Zeilen steht etwas ganz anderes. Lydia und Paul küssen sich kurz und verhalten.
Der Knoten ist geplatzt. Nie können sich Lydia und Paul dessen wirklich sicher sein, doch für den Moment gehört die Zukunft ihnen allein.

Ein Lächeln umspielt die Lippen des Alten. Er rückt seine Decken zurecht. Oft schon hat er solche Bilder gesehen. Doch immer wieder sind sie etwas besonderes. Er füllt seine Pfeife nach, entzündet seinen Tabak und bläst Kringel in die Luft.

Ein Lichtblitz erhellt das tiefschwarze Dunkel der Nacht. Schreie werden lauter und lauter. Blut spritzt durch die Luft. Der Geruch von Feuer macht sich breit. Irgendwo hört man einen Menschen weinen. Irgendwo schreit jemand um Hilfe. Ein Schuß erklingt und der Hilfeschrei verstummt. Eine Gruppe Soldaten rennt davon. Eine andere Gruppe macht sich auf die Verfolgung. Einer aus der Verfolgergruppe stürzt über einen Körper am Boden. Voller Wut zieht er ein Messer und sticht auf den am Boden liegenden ein; doch der ist bereits tot. Eine Kugel ist in der Nähe seines Ohrs eingedrungen und hat ihm den halben Kopf weggesprengt. Der Soldat mit dem Messer erkennt, was er gerade tut, steckt das Messer weg und erbricht sich. Eine Sirene kündigt neue Ereignisse an.
Wieder durchzuckt ein Lichtblitz die Nacht. Man kann Menschen sterben hören. In einem Graben liegen welche am Boden. Sie blicken hinaus in den Nachthimmel, während ihre blutenden Eingeweide den Boden langsam rot einfärben. Ein Kopf um den anderen knickt beiseite. Die Soldaten schlafen ein und werden nie mehr erwachen. Sie haben es überstanden. Ein Junge wimmert nach seiner Mutter. Schwarzes Blut fließt aus einem Loch in seinem Bauch. Die Leber wurde in Stücke gerissen. Seine Mutter, die wird er niemals wiedersehen. Ein Traum von ihr geleitet ihn in den Tod.

Der Alte Mann kramt ein Tuch aus einer seiner vielen Taschen und wischt sich ein feuchtes Auge. Zum Weinen ist er viel zu alt und er hat diese Bilder schon allzu oft gesehen. Dennoch überkommt ihn die Traurigkeit, bis tief hinein in sein Innerstes, bis in die Knochen und hindurch. Er wischt etwas Staub von der Glaskugel und verkriecht sich noch tiefer in seine Decken. Dann widmet er den Bildern in der Kugel wieder seine Aufmerksamkeit.

Sie schreit vor Schmerzen. Überall herum ist Blut. Der Arzt beruhigt sie. „Es wird schon gut gehen. Es sieht alles völlig normal aus.“ Sie krallt sich in den Arm der Hebamme und schreit auf, denn eine Wehe durchzuckt ihren gebeutelten Körper. Der anwesende Oberarzt gibt irgendwelche Anweisungen. Jemand trägt ein Instrument herbei. Sie schreit weiter. Die Schmerzen sind unglaublich. Das kann doch nicht wahr sein! Es wird ihr erstes Kind. Sie kennt das noch nicht. Aber sie wird es durchstehen. Das muß sie einfach. Ihr Mann steht in der Nähe. Gelegentlich hält er ihre Hand. Wenn sie sich aber vor Schmerzen krümmt, dann läßt er los, schaut ganz ängstlich auf die Frau vor sich, die er so gar nicht kennt.
Stunden später ist alles vorbei. Was bleibt ist ein Kreissaal voller Blut und Geburtsreste. Was bleibt ist eine völlig erschöpfte Frau. Was bleibt ist der das Gefühl einen der schmerzhaftesten und zugleich wertvollsten Momente im Leben durchstanden zu haben.

Der Alte nickt dem verschwimmenden Bild in der Kugel zu. Er versteht das. Das Leben kommt und geht. Und immer, wenn es kommt, dann steht die Welt kurz still und nichts regt sich. Es ist, wie kurz bevor die Sonne aufgeht.

Ein Schlag reicht, um die Frau an den Boden zu drücken. Ein weiterer Schlag verängstigt sie so, daß sie nicht mehr schreit. Sie liegt im Schwitzkasten unter ihrem Peiniger. Der drückt ihre Beine auseinander und vergewaltigt sie hemmungslos. Anschließend prügelt er auf sie ein, denn für ihn ist sie nun nicht mehr als ein Stück gefährliches Fleisch, gefährlich, denn es kann ihn hinter Gitter bringen. Deshalb wird er wütend auf sie, schlägt wieder auf sie ein, zieht und zerrt an ihrem Körper. Jetzt schreit sie, nicht aus Furcht, sondern des puren Schmerzes wegen. Er reißt so fest an ihrem Kopf, bis er etwas in Händen hält. Nur mit den Händen hat er ihr ein Ohr abgerissen. Sie wünscht sich, daß alles vorbei sein soll. Sie möchte sterben in diesem Moment. Jetzt läßt er von ihr ab und rennt davon. Etwas in ihr ist bereits tot.

Der alte Mann legt ein Tuch über die Kugel. Er hat genug gesehen. Die Pfeife ist kalt geworden. Das Feuer beginnt langsam in Glut überzugehen. Der Alte ist müde, er möchte schlafen. Doch schlafen, schlafen kann er nicht. Zu viele Gedanken gehen durch seinen Kopf während er auf die Kugel blickt.
„Was soll ist mit dir tun? Wie soll ich mir nur ein Urteil über dich bilden?“ denkt der Mann während er die Kugel ein letztes Mal ansieht.

 

Anna, der alte Mann ist kein Zauberer - er ist ein Schöpfer und er weiß so gar nicht, was er geschaffen hat und je länger er seiner Schöpfung zusieht, desto weniger sicher ist er, was er getan hat. Armer ambivalenter alter und mächtiger und mächtig hilfloser Mann :)

 

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