Die Glaskugel
Wieder war die Dunstglocke über der Stadt, dazu die Hitze und der Lärm des Verkehrs.
Das Fenster konnte man nicht öffnen, die Luft war schlecht.
Marie stand am Fenster und hing ihren Gedanken nach. In ihrer kleinen zwei Zimmer Wohnung hatte sie es sich so gemütlich gemacht, wie es ihre Mittel zuließen.
Die Stehlampe verbreitete ein warmes Licht. Der Tisch war unaufgeräumt. Kataloge und
Zeitschriften lagen ungeordnet auf der Glasplatte. Auf der Couch streckte sich Maries Katze, blinzelte kurz und schlief wieder ein. Leise Musik ertönte aus dem Radio und verbreitete eine
Stimmung, die zum Träumen einlud.
In einer Ecke des Zimmers stand der Schreibtisch mit einem Laptop, der auf Bereitstellung geschaltet war. Dann gab es noch einen Schrank, Kratzbaum, zwei Sessel. Die Küche war so klein, dass man sich kaum bewegen konnte. Der Wasserkessel pfiff und seufzend ging Marie in die Küche und brühte sich einen Tee auf.
Dann setzte sie sich in einen der zwei Sessel und pustete in die heiße Flüssigkeit.
War das wieder ein Tag. So viel zu tun auf Arbeit, kaum richtig Mittag gegessen und jetzt hier zu Hause. Es war schon spät und sie musste eh gleich wieder ins Bett, um Morgen für einen weiteren Arbeitstag frisch zu sein. Zum Glück machte ihr die Arbeit Spaß, der Umgang mit den Leuten, der Chef war nett, was wollte sie eigentlich mehr? Trotzdem war jeder Tag irgendwie gleich, immer derselbe Ablauf. Marie war geschafft, kaputt – urlaubsreif.
Dann musste Marie an Ihre Mittagspause denken. Sie wollte sich Brötchen kaufen und hatte ein kurioses Erlebnis.
Es war kaum zu glauben. Vor ihr ein junger Mann wollte ein Stück Kuchen kaufen. Die Verkäuferin legte den Kuchen auf den Tresen, der Mann holte seine Geldbörse hervor, biss dabei herzhaft in den Kuchen und dann zählte er das Kleingeld.
„Oh, das ist mir aber peinlich, 10 Cent fehlen.“, sprach er und suchte in seine Taschen.
„Wollte mir heute früh noch Geld einstecken, habe es aber dann vergessen.“
Fragend sah er die Verkäuferin an.
„Na dann können sie keinen Kuchen kaufen“, erwiderte die Verkäuferin, zog das Stück über die Ladentheke und wollte es doch tatsächlich wegwerfen!
„Halt!“, schaltete sich Marie ein, „geben Sie ihm den Kuchen zurück. Hier haben sie die fehlenden 10 Cent.“
„Danke“, sagte der Mann, „aber eigentlich ist mir bei dieser Aktion der Hunger fast vergangen.“
Die Verkäuferin wurde rot. Wahrscheinlich war es ihr jetzt peinlich, wegen 10 Cent solche Aktion zu fahren. Halb entschuldigend wandte sie sich den beiden jungen Leuten zu.
„ Ich war wohl ein bisschen drüber…Entschuldigung.“
Vor der Bäckerei bedankte sich der junge Mann nochmals und dann ging jeder seine Wege.
Eigentlich schade, der Mann sah nicht übel aus. Schlank, groß, sportlich wirkend – ein Typ, den jede Frau nicht wegstoßen würde.
Morgen jedenfalls würde sie Urlaub einreichen und dann… mal sehen. Langsam erhob sie sich aus dem Sessel und ging ins Bett.
.
Als sie am nächsten Tag auf dem Weg zur Arbeit war und in dem Zug saß, war es wieder interessant, sich die Leute anzusehen. Jeder Mensch war anders. Entspannte, genervte, kurzhaarig, bunthaarig, legere angezogen, mini mit hohen Stiefeln, geschminkt, ungeschminkt, alt und jung und groß und klein. Ob das schon jemanden aufgefallen war, wie artenreich eigentlich die Menschheit ist. Und dann diese Frau ihr gegenüber. Sie saß gebeugt über ein Buch und schrieb und schrieb. Der ältere Herr neben ihr blinzelte nach rechts, die Neugier ward ihm im Gesicht geschrieben. Dann sprach er sie endlich an. Ein breites Lächeln ihrerseits zeigten Grübchen.
„ Ich halte so immer fest, was ich tagsüber erlebe.“, plauderte sie unbefangen.
„Im Zug habe ich Zeit, die ich hierfür nutze. So viele Erlebnisse gibt es, die man, wenn man sie nicht aufschreibt, einfach vergisst und das möchte ich eben nicht.“
„Das finde ich gut.“, erwiderte der Alte und fing an aus seinem Leben zu berichten.
Nicht nur die junge Dame neben ihm spitzte die Ohren, auch die Anderen hörten `unauffällig`, aber interessiert zu.
„Sie haben zum Glück nicht erlebt, wie es war, in den Kriegsjahren und danach zu leben.
Oft ist man durch die Hölle gegangen. Ein Fahrrad hatte ich und das war Goldstaub.
Immer hatten wir Hunger und die Tauschgeschäfte blühten.“
Sein Gesicht wurde rot, die Augen blitzten und man merkte, wie er sich in seine vergangene Welt zurückversetzte.
„Die Lehrer waren streng. Da herrschte noch Ordnung. Stundenlang habe ich die Geschichte des Deutschen Reiches gelernt, um in der Schule der Strenge des Lehrers zu entkommen. Wir waren alle begeistert, wollten in den Krieg, wollten Helden werden und uns beweisen, dabei war Deutschland dabei, den Krieg zu verlieren. Oft war Fliegeralarm, aber da wir in einem kleinen Dorf wohnten, spürten wir es nicht so, das heißt, nicht so viel wurde zerstört.
Tja, die deutschen Armeen führten einen immer aussichtsloser werdenden Abwehrkampf im Osten, die amerikanische und die englische Luftwaffe legte Deutschlands Städte in Schutt und Asche und wir wurden belogen und betrogen – man kann sagen, von Hitler verheizt.
Was freuten wir uns als 16-jährige, als es hieß, wir werden unter der Anleitung von ein paar Feldwebeln als Luftwaffenhelfer ausgebildet. Fast meine ganze Klasse hat den Krieg nicht überlebt. Was für ein sinnloser Krieg, aber so sind die Menschen, strömen immer nach Geld, Macht und Reichtum und ich kann ihnen hier sagen, das wird sich nie ändern, bloß das es in Zukunft um die restlichen Bestände wie Erdöl, Erdgas geht, aber das Wichtigste wird der Kampf um das Land und Wasser werden. Die Klimaveränderung schreitet voran und mit ihr verändern sich die Lebensbedingungen der Menschen, der Kampf um das Wasser – das ist die Zukunft.
Schade, ich muss jetzt aussteigen. Für sie alles Gute und schreiben sie schön weiter, halten sie alles fest, was sie bewegt, wer weiß, vielleicht… So drängelte er sich zum Ausgang und stieg aus. Schade, gerne hätten die Leute noch mehr gehört, so jedenfalls hatte Marie den Eindruck,
aber als der Zug sich wieder in Bewegung setzte fingen die Menschen wieder an, die Augen zu schließen, zu dösen und zu versuchen, die Zugfahrt zur Arbeit so entspannend wie möglich zu gestalten.
Und dann kam sie. Wie ein Berber aussehend, groß und kräftig, ein fast männliches Gesicht, vom Eifer geprägt, verschaffte sie sich Platz und verlangte die Fahrausweise. Ein junger Mann fing an, nach seinem Fahrschein zu suchen. Ihre Augen verengten sich, als sie sagte: „Hören sie auf, zahlen sie lieber gleich, denn ich wette, sie haben keinen Fahrschein.“ Die Stimme war so krass, dass die Blicke der herumsitzenden Leute auf die Beiden gerichtet waren. `Wie peinlich`, dachte Marie, schaute sich um und sah die Menschen, von denen einige Schadenfreude in ihren Blicken zeigte. Unbeirrt dieser gewaltigen Stimme suchte der Mann weiter. „Irgendwo ist doch der Fahrschein.“, brummelte er und blickte unruhig hin und her. Dann stand er auf und stellte seine Tasche auf dem Sitz und suchte weiter. Inzwischen fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Die Türen gingen auf, Menschen stiegen aus.
Plötzlich nahm der Mann seine Tasche, schupste die Fahrkartenkontrolleurin beiseite und sprang aus dem Zug. Das ging so schnell, damit hatte nun keiner gerechnet. Die Türen schlossen sich gleich danach und das Schlimmste, er zeigte draußen grinsend einen „Stinkefinger“. Den Kopf hochrot stampfte die Frau von dannen, die Masse raunte und tuschelte, einige grinsten, aber nach und nach kehrte der Alltag im Zug zurück.
Später auf Arbeit waren diese Erlebnisse schnell vergessen. Telefonate, Schriftkram, Termine
für den Chef – alles das nahm die ganze Konzentration in Anspruch.
Nach neun Stunden Arbeit packte Marie ihre Sachen und auf ging es in den Freierabend.
Wie schnell so ein Tag verging. Wollte sie wirklich nach Hause. Langsam schlenderte sie durch die belebten Straßen. Leuchtreklame warb für alles Mögliche. Die Schaufenster waren gut dekoriert und es machte Spaß hinzuschauen. Leider war alles ziemlich teuer. Hier war nix mit einem eventuellen Kaufrausch. Trotzdem ging Marie in den einen oder anderen Laden und schaute sich die Sachen an. Bei Douglas probierte sie einige Parfüms und konnte dann doch nicht wieder stehen, eines zu kaufen. Die Verkäuferin lächelte beim Einpacken und dann schenkte sie Marie eine Glaskugel. Sicher war diese schon mit dem Parfüm bezahlt.
Was sollte sie mit einer Glaskugel? Ziemlich schwer war sie ja, könnte man ja als Briefbeschwerer nehmen, oder für die Katze zum spielen. Na egal, geschenkt ist geschenkt.
So langsam kam der Hunger. Sie würde sich ein Fischbrötchen kaufen. Bei dem Gedanken lief ihr das Wasser in den Mund zusammen.
Wie sie so an der Ampel stand und auf das grüne Licht wartete, da sah sie diesen jungen Mann, der gerade in einem Papierkorb wühlte. Die Zigarette in dem Mundwinkel, eine Schirmmütze schräg auf dem Kopf, die Kutte viel zu groß, fummelte er, ein Stück Papier in der Hand haltend, in dem Mülleimer. In der anderen Hand hielt er einen Plastiksack. Ob er nach leeren Flaschen suchte oder nach etwas Essbarem.
Bei diesem Gedanken lief ihr gleich ein Schauer über den Rücken. Wie können Menschen so tief sinken, in dieses Loch fallen? Oh, jetzt hatte er eine fast leere Flasche in der Hand. Sah aus wie eine Wasserflasche. Nein, nun drehte er sie auf und schüttete den restlichen Inhalt über seine Hände. Wollte er sie waschen? Schien jedenfalls so. Dann reckte er sich, drehte sich um und schlenderte davon. Keiner der Menschen, die an der Bushaltestelle ein paar Schritte entfernt warteten, kümmerte es. Würde sie denn etwas tun, ihn ansprechen? Nein, wahrscheinlich auch nicht. Gedankenversunken ging sie in den Bahnhof.
Ein Imbiss nach dem Anderen preiste seine Waren an, auch der mit den Fischbrötchen. Automatisch stellte sie sich an, als sie die Frau bemerkte, die an dem Bäckerstand die Leute ansprach und bat, ihr eines zu kaufen, da sie Hunger hatte, arbeitslos war und kein Geld mehr hatte. Manche schenkten dieser Frau keine Beachtung, ließen sie links liegen, aber dann kam ein älterer Herr, der sie freundlich ansprach:
„Suchen sie sich ein Brötchen aus, ich bezahle es.“
Ein Strahlen der Dankbarkeit überflutete ihr Gesicht und vor Aufregung schien ihr die Entscheidung über die appetitlich daliegenden Happen unendlich schwer zu fallen. Dann entschied sie sich schließlich für ein Schinkenbrötchen. Anschließend bedankte sie sich bei dem Mann, der der jetzt genüsslich schmatzenden Frau lächelnd hinterher schaute.
Die Menschheit ist doch noch nicht so versaut, dachte Marie und freute sich über die gute Tat Ja, das Brötchen hätte sie der Frau auch gekauft.
Zu Hause trank sie noch ein Glas Rotwein und ließ den Tag Revue passieren. Über das neue Parfüm freute sie sich sehr. Die Glaskugel schimmerte im Licht. Wie Kristall funkelte sie mit ihrem sehr schönen Schliff. `Rund wie die Welt, durchsichtig und zerbrechlich`, dachte Marie. `Macht man eine falsche Bewegung, kann sie kaputt gehen. `
Vorsichtig legte sie die Kugel auf den Tisch und schwelgte in Gedanken.
`Ja die Welt, unser Lebensraum, wie schnell kann dieser zerstört werden. Der Klimawandel hatte ja schon begonnen, die Pole schmolzen langsam vor sich hin, die Tiere hatten immer weniger Lebensraum und immer mehr Lebens- und Pflanzenarten waren vom Aussterben bedroht. Was für eine Zeit! Eigentlich war es mit den Menschen genauso. Wer Arbeit hatte, dem ging es gut, besser gesagt, er hatte sein Auskommen. Aber dann, diese vielen Anderen, die durch Schicksalsschläge in den Ruin getrieben wurden, die arbeitslos wurden und aufgrund Ihres Alters keine neue Arbeit mehr fanden, die Harz IV – Empfänger. Was sie in den letzten zwei Tagen erlebt hatte, zeigte deutlich, wie sich der Unterschied zwischen arm und reich immer mehr herauskristallisierte.`
Ein Seufzer entfuhr ihr und Marie entschloss sich, schlafen zu gehen. Was half alles Grübeln, sie konnte eh nichts ändern. Zum Glück gab es genug Vereine, die sich für Menschenrechte, Umwelt und Natur einsetzten. In einigen war Marie Mitglied und unterstützte diese mit einem kleinen Beitrag.
Morgen würde sie nach der Arbeit zum Sport gehen. Da kannte sie so viele Leute, man konnte reden und hatte auch viel Spaß. Mit diesen Gedanken schlief Marie ein und träumte von der Glaskugel, die sie in eine glitzernde schimmernde und sorglose Welt entführte, eine Welt, die jeder gerne sein eigen nennen würde, doch nicht jedem gegeben wird.