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Die graue Stadt
Wer ich bin? Ich weiss es nicht, keine Ahnung. Ein Wanderer vielleicht, oder nur ein Träumer. Ich ziehe ziellos durch die Strassen, betrachte die Wolken am Himmel, denke nach. Über Gott, den Sinn des Lebens, den Tod. Manchmal nur verweile ich und wundere mich darüber, wie dunkel die Tage geworden sind. Früher war es anders, früher war es nicht so finster. Die Häuser waren einmal getaucht ins grelle Sonnenlicht und in der Nacht hatte sich der Mond in den Seen gespiegelt. Daran erinnere ich mich noch.
Jetzt ist es nur dunkel.
Gedankenverloren remple ich auf meinen Wanderungen einen alten Mann, fahre herum, will mich entschuldigen. Ich kann es nicht. Mein Gesicht ist starr geworden, ich kann kaum mehr sprechen, nicht mal freundlich lächeln. Dabei habe ich früher so oft gelacht, über Missgeschicke anderer, über eigene Witze, über Monty Python.
Jetzt nicht mehr. Die Tage sind finster, die Blumen verwelken, selbst die Vögel bleiben stumm.
Regen fällt, kühle, schwere Tropfen. Sie klatschen auf blanken Stein, auf Beton und Menschenhäupter. Die Leute um mich öffnen ihre Schirme, verkriechen sich unter Vordächer, flüchten in Bars. Ich gehe weiter.
Ein Gedanke taucht auf und ich klammere mich fest an ihn, lass ihn nicht entweichen: Ich habe eine Tochter. Von Zeit zu Zeit besuche ich sie noch, versuche mit ihr zu reden, erzähle Geschichten. Aber sie starrt mich nur an. Manchmal weint sie. Gelacht hat sie nie mehr. Dabei würde ich so gerne die neue Spange in ihrem kleinen Mund sehen und den verzauberten Glanz in den Augen, wenn sie sich freut. Wie früher. Stattdessen rinnen nur Tränen über ihre Wangen, träufeln auf die Kleider, zerspritzen auf dem kühlen Steinboden.
Der Regen dauert an. Wasser sammelt sich in der Gosse, strömt die Strasse hinunter.
Wohin ich gehe? Ich weiss es nicht. Einfach geradeaus. Auf der Suche nach Antworten. Antworten auf tausend Fragen, obwohl ... – Vielleicht gibt es gar keine Antworten. Vielleicht hat die Strasse kein Ende.
Woher ich komme? Ich weiss es nicht, keine Ahnung. Irgendwann bin ich losmarschiert und seither gehe ich geradeaus, einfach geradeaus. „Immer der Nase nach gehen“, höre ich die Stimme meiner Frau und zwinge meine Gesichtsmuskeln zu einem schmerzhaften Schmunzeln. Ja, so hatte sie mir einst erklärt, wie sie leben wolle. Sie hatte gelacht, damals, und war so voller Wärme gewesen.
Wo sie jetzt wohl ist? Bei der kleinen Tochter vielleicht? Etwas in mir sagt, dass es nicht so ist. Das Mädchen ist woanders, in einem grossen Haus, in einem Haus mit vielen Kindern.
Ein Geräusch zerreisst meine Gedankengänge und ich halte ein. Es klingt, als würde man einen Schwamm auspressen. Meine Schuhe. Sie sind vollgesogen mit Wasser.
„Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“, fragte ich einmal meine Tochter. „Es ist eine unheimliche Geschichte, eine Geschichte über ein Mädchen wie dich.“
Sie lachte und ich sah ihre schiefen Zähne, lachte ebenfalls. Einfach so. Weil ich glücklich war.
„Daddy, du jagst mir keine Angst mehr ein! Ich bin zu alt dafür.“
Schmunzelnd strich ich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. „Ja, vielleicht. – Aber es ist eine gute Geschichte“, versicherte ich.
Sie lag einfach nur da in ihrem Bettchen, betrachtete mich mit ihren Mondaugen, lächelte. „Also gut Papa, erzähl die Geschichte!“
Ich bin stehen geblieben und weiss nicht, weshalb. Es regnet. Nicht mehr so heftig wie eben noch, aber es regnet.
Was will ich hier? Ich schaue mich um. Da ist ein Laden jenseits der Strasse. Ein Blumengeschäft, davor ein verrottetes Holzschild. Geschlossen. Bankrott. Noch steht im Schaufenster ein Krug mit verwelkten Blumen. Sie lassen ihre Köpfe hängen.
Eine neue Frage taucht auf in mir, eine andere Frage. Ich schlucke.
„Hab ich die Blumen für Mama hier gekauft?“, spreche ich leise. „Damals, am Hochzeitstag, weisst du noch? Die vielen Rosen und den ...“ Nur Regentropfen antworten und ich starre ins Leere.
Das Mädchen, meine kleine Tochter, sie ist nicht hier. Sie ist in dem grossen Haus mit den vielen Kindern und schaut hinaus über die graue Stadt. Ob vielleicht sie noch manchmal lacht?