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Die Greisin
Malte betrachtete das faltige Gesicht der Frau, die in dem Stuhl vor seinem Bett saß. Ihr Kopf hing zur Seite, und ihr Unterkiefer war bis zur Schulter herabgesunken. Gleichmäßiges, heiseres Krächzen drang aus ihrer klaffenden Mundhöhle. Schlaffe Lider bedeckten ihre Augen. Ohne den Blick von ihr zu lassen, drückte Malte den Knopf an seiner Nachttischlampe, und die Greisin verschwand in der Dunkelheit. Er zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch und wälzte sich seufzend in die Embryostellung, in der er ruhig liegen blieb.
Eine halbe Stunde später tastete Malte erneut nach dem Schalter. Der letzte keuchende Atemzug hatte abrupt ausgesetzt, und jetzt war es völlig still. Licht flackerte auf. Die Augen der alten Frau waren weit aufgerissen. Ihre Zunge ragte gerollt zwischen den Lippen hervor, und ihr Oberkörper wippte vor und zurück. Ihre Finger waren um die Armlehnen gekrallt, und die grünen Adern in ihren knochigen Händen schienen geschwollen. Sie fixierte Malte mit ihren Pupillen. Der Junge erwiderte den Blick einen Moment lang ausdruckslos, dann nickte er langsam. Als er die Bettdecke zurückschlug, entblößte er zwei ovale Blutergüsse auf seiner Hüfte, sowie ein zackiges Muster aus Narbengewebe, das sich über seine kindliche Brust spannte. Er ließ sich auf den Fußboden gleiten, ging an ihr vorbei, und stellte sich hinter den Stuhl. Sein Kopf überragte die hölzerne, unter den schaukelnden Bewegungen knarrende Rückenlehne nur um wenige Zentimeter. Malte hob seinen rechten Arm, holte weit aus, und schlug mit der flachen Hand zu. Mit einem dumpfen Knall traf er das Genick der Frau.
Das Wippen wurde heftiger. Der zweite Schlag war härter, und diesmal traf er sie zwischen den Schulterblättern. Sie riss den Kopf nach oben, schluckte hörbar, und mit einem rasselnden Geräusch begann sie, Luft einzusaugen. Malte schlüpfte schnell zurück ins Bett. In den nächsten Minuten wurde die alte Frau von wildem Husten durchgeschüttelt. Tränen tropften in ihren Schoß, und Speichel sprühte durch die Luft. Einige Male kippte sie beinahe aus dem Stuhl. Als sie sich allmählich wieder gefasst hatte, kramte sie ein Stofftuch aus der Tasche in ihrer Schürze, und wischte sich schnaufend die Flüssigkeiten aus dem Gesicht.
„Danke mein Schatz“, sagte sie ohne aufzuschauen, „ich hab mich wohl ein wenig verschluckt. Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.“
Jetzt lächelte sie dem Jungen zu. Er hatte sie die ganze Zeit über beobachtet. Seine Lippen bewegten sich lautlos.
„Du musst lauter sprechen, mein Junge. Ich höre nämlich nicht mehr besonders gut.“ Sie deutete auf ihr Ohr.
„Wer sind Sie?“, wiederholte er, diesmal laut. Das Lächeln hielt an.
„Ich bin hier, um die Nacht über auf dich aufzupassen. Deine Mutter hat mich darum gebeten.“ Maltes Gesichtsausdruck wurde argwöhnisch.
„Glaubst du mir etwa nicht? Nun, wir können sie gerne holen und…“
„Nein“, unterbrach Malte sie hastig, „ich glaube Ihnen.“
„Das ist fein.“ Sie erhob sich mühsam und zog den Stuhl ein Stück näher an das Bett heran. Malte war jetzt in Reichweite, und sie streckte den rechten Arm aus, um über die Decke zu streichen, unter der er lag.
„Du hast etwas Schönes geträumt, nicht wahr?“ Sie streichelte sanft über seinen Bauch. „Ich habe dir beim Schlafen zugesehen, mein Schatz, und du hast geschmunzelt.“ Beim letzten Wort zog sie die Mundwinkel demonstrativ nach oben, was ihr Gesicht noch zerknitterter werden ließ. Malte musste grinsen.
„Manchmal werden Träume wahr, musst du wissen. Wenn jemand sich etwas ganz fest ersehnt, und dieser jemand hat ein gutes Herz, dann schickt manchmal jemand anderes eine Fee zu ihm, die ihm dann zwei Wünsche erfüllt.“
„Warum nur zwei?“, fragte Malte, „Feen müssen drei Wünsche erfüllen.“
Die Frau schüttelte mit gespielter Enttäuschung den Kopf.
„So sind leider die Regeln, mein Goldstück. Zwei Wünsche.“
Malte sah sie eine Zeit lang nachdenklich an. Dann ließ er eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger unter der Decke herausschauen.
„Bist du eine Fee?“
Die Miene der alten Frau erhellte sich, und sie nickte respektvoll.
„Was für ein pfiffiges Kind.“
„Darf ich mir jetzt etwas wünschen?“
„Das kommt darauf an.“ Ihr Gesicht wurde ernst. Sie steckte die rechte Hand zu Malte unter die Decke. „Lass mich mal sehen.“ Ihre Finger krabbelten langsam vorwärts, bis sie seinen Oberkörper erreichten. Sie befühlte die Narben auf seiner Brust und ließ ihre Hand dort eine Minute lang ruhen. Malte wartete. Dann zwickte sie ihn unvermittelt in die Seite, und er zuckte kichernd zusammen. Auch die Greisin lachte wieder.
„Ja mein Schatz, du hast eine ganz reine Seele. Sag mir deine Wünsche.“
„Eigentlich hab ich ja nur einen.“
„Na umso besser.“
Malte ließ einen Zeigefinger aus der Decke ragen, der ihr deutete, näher zu kommen. Der Stuhl knarrte, und sie beugte sich mühevoll nach vorne, bis ihr Ohr ganz nah am Gesicht des Jungen war. Er flüsterte. Seufzend lehnte sie sich wieder zurück.
„Natürlich kann ich das, aber du musst mir dabei helfen. Mach zuerst die Augen zu! Genau so. Und jetzt musst du ganz intensiv an deinen Wunsch denken. Aber halt dir dabei auch die Ohren zu, damit dich nichts davon ablenken kann.“
Irgendwo im Haus zersplitterte Glas. Eine weibliche Stimme fluchte, dann ertönte ein langer, gequälter Schrei, der sich irgendwann in ersticktes Gurgeln verwandelte, und schließlich erstarb. Malte zischelte blind vor sich hin. Seine Handflächen waren fest auf seine Ohrmuscheln gepresst. Etwas tippte ihn an. Er öffnete die Augen.
„Ist es schon in Erfüllung gegangen?“
Die Greisin stand jetzt vor seinem Bett und blickte munter auf ihn herab.
„Das wirst du bald erfahren, mein Liebling. Schlaf jetzt weiter!“
Malte zog sich die Decke über die Schulter und wälzte sich auf die Seite. Der Schalter klackte, das Licht erlosch.
Später in dieser Nacht wurde Malte abermals geweckt. Er spürte jemanden bei sich im Bett. „Träum weiter, mein Schatz! Wenn es im Schlaf passiert tut es nicht so weh, “ keuchte die Greisin. Ihre Arme waren fest um seine Brust geschlungen, und ihr Oberschenkel drückte auf seinen Bauch. Unter der Bettdecke konnte er fühlen, dass sie nackt war.
„Was tun Sie da?“, brachte der Junge heraus.
„Ich hole mir deine Seele“, flüsterte sie.
„Meine was? Warum?“
„Weil das der Preis ist. Kein Wunsch ist umsonst. Das wusstest du.“ Ihre Umarmung wurde enger. Malte bekam kaum Luft.
„Ich wusste… Das wusste ich überhaupt nicht. Davon haben Sie nichts gesagt.“
„Wie auch immer. Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Lass es einfach geschehen.“
Malte jammerte leise. Fast stimmlos flehte er nach seiner Mutter. Die Greisin gluckste, während sie den Körper des Jungen immer fester an sich presste.
Er hauchte etwas in ihr Ohr. Sie lockerte den Griff.
„Was?“
„Mein zweiter Wunsch.“ Malte schnappte nach Luft. „Ich will jetzt meinen zweiten Wunsch.“
Sie zog sich von ihm zurück und stieg aus dem Bett. Der Stuhl knarrte. Malte betätigte den Lichtschalter. Er rieb sich den Brustkorb und starrte ungläubig auf ihren entkleideten Körper, der nur aus Hautfalten und grünen Adern zu bestehen schien.
„Was für eine Fee sind Sie eigentlich?“
„Der Wunsch, “ zischte sie, „heraus damit!“ Malte räusperte sich.
„Also, in letzter Zeit träume ich oft von Frau Schewe, der Schulärztin.“
„Na und?“
„Ich möchte… ich wünsche mir, dass Sie so aussehen, wie sie.“
Die Greisin fuhr hoch.
„Was? Mein lieber Junge, so etwas wünscht man sich nicht. Das ist einfach…“ Ihre Stimme setzte aus, als sie erkannte, was Malte unter der Bettdecke tat. Die Augen des Kindes tasteten ihren Körper von oben bis unten hin ab.
„Was zur Hölle tust du da Junge? Aufhören! Sofort!“ Sie schnappte sich die Schürze vom Boden und bedeckte sich damit.
„Du verdirbst alles. Die schöne Seele.“ Ihre Stimme veränderte sich auf absonderliche Weise. Bald waren ihre Worte nicht mehr zu verstehen, und alles, was Malte noch hörte, war abgrundtiefes Heulen. Er reagierte nicht darauf. Seine Augen waren geschlossen, und leise stöhnte er den Namen seiner Schulärztin.
„Besudelt!“ Eine Tür knallte.
Malte atmete auf. Er blieb noch einen Moment ruhig liegen, bevor er die Hand ausstreckte, und ein letztes Mal in dieser Nacht das Licht erlosch.