Die Häuser sind zwei Stockwerke hoch
Zwischen den Gehwegplatten verdorrte das Grün. Hätte es Bäume gegeben, wären Vögel tot von den Ästen gefallen. Die Luft stand. So trocken, so heiß, unangenehm hell, dass es in den Augen brannte.
Die Häuser waren zwei Stockwerke hoch mit braunem Spitzdach und blauen Türen, an der Front mit grauem, wegen der Kinder am Ansatz manchmal löchrigem Putz. Jede Etage zwei Wohnungen breit zu je vier Zimmern, Küche und Bad á 10, 12 Quadratmeter nicht eingerechnet.
Draußen der Bürgersteig und die Pflasterstraße, am Rand Heims weißer Trabant deluxe fast senkrecht zwischen zwei Parkstreifen. Nur auf der anderen Seite stand noch ein anderes Auto, auch ein Trabant, ebenfalls weiß und deluxe.
Heim verstaute seine Tasche im Kofferraum. Er ging zur Fahrertür, stieg ein, ließ die Fenster runter. Die Papiere legte er erst aufs Armaturenbrett, dann doch in die Ablage. Die Cola warf er auf den Rücksitz. Eine Ameise schreckte auf und verschwand zwischen zwei braunen Feldern im gestrickten Polsterbezug. Auf der Frontscheibe zarte, weiße Schlieren in zwei Beinahe-Viertelkreisen. Er öffnete den Benzinhahn, drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang an, röhrte hoch, knatterte schließlich ins Standgas. Heim ließ Wasser auf die Scheibe spritzen und drückte den Hebel für die Scheibenwischer. Die Schlieren wurden um zwei Grad weicher, verschwanden aber nicht.
Heim hatte Anni unten am Münztelefon gesagt, dass er in zwei Stunden bei ihr sein könnte. Das war vor zwei Stunden gewesen. Dann war er baden gegangen, hatte immer wieder heißes Wasser nachlaufen lassen und dabei die Zeit vergessen, ohne Absicht. Heim besaß keine Uhr. Er wüsste die Zeit auch so, sagte er immer, außer manchmal und diese Manchmal wären gottgewollt, vielleicht als Teil eines Plans, der zu etwas führte, von dem nichts zu sagen war, nur dass Heim es gesehen haben sollte. Selten, dass er die Zeit wirklich vergaß. Er schüttelte den Kopf, strich sich durchs noch feuchte Haar.
Hinter ihm die Straße runter an der Ecke vom Konsum schlug ein kahlgeschorener Junge gegen den Zigarettenautomaten. Er war von normaler Statur, nicht wirklich kräftig. Ein paar rote Pusteln im Gesicht. Er glänzte nass. Kratzer auf der Oberlippe und unterm Kinn. Auf seiner Jacke stand mit weißem Klebeband geschrieben: „Bomber“, wobei dem M schon der Mittelstrich fehlte, überhaupt die Jacke viel zu groß für ihm war und er in der Hitze nach Schweiß roch, als hätte er zwei Wochen darin geschlafen.
Heim kannte Bombers Mutter vom Hallo-Sagen im Treppenhaus und von früher, als mindestens einmal im Monat die Polizei vor dem Haus gestanden hatte, weil ihr Mann ein Trinker war. Das Geschrei der beiden, wenn sie sich stritten, war bis auf die Straße zu hören gewesen. Sie hatten sich ständig gestritten, an Sonn- und Feiertagen konnte man die Uhr nach ihnen stellen.
Bombers Vater hatte sich später im Keller erhängt, irgendwann vor zwei Jahren im Frühling. Der Junge und zwei seiner Freunde hatten ihn gefunden, als sie unten heimlich eine rauchen wollten. Die Frau kam erst abends nach Hause. Niemand hatte sie erreicht. Sie soll nicht geweint haben, als man sie ins Wohnzimmer aufs Sofa setzte, nur dagesessen und irgendwann vor Schwäche in sich zusammengefallen sein. Seitdem hatte die Frau keinen neuen mehr gehabt, soweit man das sah. Man sah wenig von ihr. Meist nur im Konsum oder kurz im Treppenhaus. Sie sprach selten mehr als zwei Sätze mit jemandem.
Ihr einziges Kind, Bomber, schlug noch einmal dumpf gegen den Automaten. „Fick dir du scheiß Ding!“
Ein Rentner in Unterhemd lehnte sich über das dunkel geblümte Kissen auf seiner Fensterbank im zweiten Stock und schnarrte: „Ruhe da unten!“
Aus seiner Hosentasche kramte er ein blaugrau kariertes Taschentuch, wischte sich damit über die Stirn. Er atmete angestrengt, mit dem Mund weit offen.
„Mein lieber Schollie. Wat‘n Wetter“, sagte er ins Zimmer hinter sich hinein. „Is ja nich zum Aushalten. Da jehst ja ein.“
Bomber zeigte ihm erst einen und dann beide Mittelfinger. Dann wusste er auch nicht weiter und schlug noch einmal gegen den Automaten. Woanders lachte jemand.
„Ick komm dir gleich runter“, drohte der Rentner mit geballter Faust. Im Zimmer hinter ihm zischte eine Frau: „Erwin! Hör uff mit dem Quark!“
„Ach komm!“, wiegelte der ab. „Bring mir lieber meinen Tee. Jugend von heut denkt och, die Welt jehört ihnen.“
„Na und?“ Die Frau stand auf. „Musst‘n trotzdem nich noch provoziern.“
„Tu ick doch janich“, sagte Erwin trotzig.
Gegenüber kam ein Pärchen von vielleicht 20 aus der 9. Die Frau trug ein helles, leichtes Sommerkleid und ihre glatten, dunklen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Sie war fast einen Kopf kleiner als ihr Freund, wirkte zierlich und verletzlich neben ihm, beinah wie Anni. Ihre Augen hatten rote Ränder, so als hätte sie geweint. Der Mann in brauner Trainingshose mit einer blauen Sporttasche in der Hand.
Er wollte sich unterhaken, doch sie zog den Arm weg. „Nu komm, Marie“, sagte er versöhnlich, tat als wollte er sie umarmen. Die Tür fiel hinter ihnen mit einem kurzen Knarzen ins Schloss. Sie ging wortlos an ihm vorbei, er ihr hinterher. „Weißte, Marie, manchmal biste echt anstrengend.“
Sie lief einfach weiter, vorbei an einem pummeligen, blonden Mädchen, das Ameisen auf dem Bürgersteig zertrat, fast als würde es tanzen. Es summte Wörter, die keinen Sinn ergaben, zu einer Melodie, die nach Doris Day klang, im Hintergrund begleitet durch das vereinzelte Knattern und Rauschen im nächsten Straßenzug passierender Autos. Es wirkte entrückt, ganz verloren in seinem Todestanz. Auf seinem linken Unterarm eine lang gezogene Narbe, noch rotgelbbraun und krustig und beinahe frisch.
Das Mädchen trieb behutsam zwei Ameisen mit seinen fleischigen Füßen zusammen, ging in die Knie, holte Schwung und sprang mit einem hohen Hopser auf sie drauf, beide Füße parallel wie im Sportunterricht. Anschließend schaute es, was von den Tierchen übrig war. So gut wie nichts. Das meiste klebte an seinen Sohlen, was es erst nicht sah. Maries Freund zeigte ihm den Vogel. Das Mädchen steckte die Zunge raus.
Er stolperte Marie hinterher, griff sie am Arm. „Warum bist’n schon wieder so scheiße drauf?“
„Weil du ein Arschloch bist“, sagte sie, ohne sich nach ihm umzudrehen.
„Warum das denn?“, fragte er.
„Darum“, sagte sie und wechselte die Straßenseite zum Konsum hinüber.
Er schaute erst nach links und rechts, bevor er weiterging. „Marie, jezz bleib doch mal stehn! Lass uns dit doch wie erwachsene Menschen klärn.“ Da war sie schon fast drüben bei Bomber am Automaten. Der hatte unterdessen Schwung geholt und seine Faust in einem unglücklichen Winkel gegen die Maschine gerammt. Im gleichen Moment war etwas in seiner Hand mit einem widerlichen Knirschen zu Bruch gegangen.
Bomber stöhnte, hielt sich die Knöchel. Er tat ein paar Schritte weg vom Automaten und rempelte dabei Marie an. Er spuckte aus, fluchte: „Gottverdammte Scheiße.“
Erwin schniefte schadenfroh von seiner Fensterbank: „Siehste. Dit kommt davon!“ Dann drehte er sich zur Frau im Zimmer hinter ihm: „Haste dit jesehn? Sach noch eener, dit jibt keene Jerechtichkeit.“
„Komm endlich da wech vom Fenster“, sagte die.
Auf dem Bürgersteig fragte Marie vorsichtig: „Ist alles in Ordnung?“
Bomber deutete mit dem Kopf die Straße runter, keuchte: „Komm, fickt euch wech!“, das Gesicht eine Maske aus Schmerz. Er hatte sich vornübergebeugt, den Arm wie ein Krüppel und die Hand, als hätte man sie ihm vor Sekunden abgeätzt.
„Tut bestimmt weh“, sagte Marie und deutete auf die Hand. Ihr Freund kam dazu. „Mal schön sachte“, sagte er zu Bomber. „Is dit klar, ja?“
Er legte seinen Arm um Maries Hüfte. Sie ging zur Seite, sagte zu ihm, als würde sie es so meinen: „Lass mich doch einfach in Ruhe.“
„Was denn? Marie ey jezze“, sagte er.
„Du solltst mich einfach in Ruhe lassen. Kapierst du’s nicht?“
Bomber unterbrach ungemütlich: „Ey, nehmt euch doch nen Zimmer. Hauptsache, ihr verpisst euch.“
Oben war der Rentner zurück im Fenster. Die Frau hinter ihm zischte: „Erwin! Kannst du nich einmal Ruhe jem? Denk doch mal och an mir!“
Erwin hielt etwas Dunkles in der Hand und schimpfte etwas mit „Jugend von heute“.
„Mann! Jeh mir nich uff die Nüsse!“, schnauzte Bomber zurück. Oben drohte Erwin: „Ma schön ruhich bleim. Sonst tu ick gleich die Polizei rufen“, und zur Frau im Zimmer empörte er sich: “Der tickt doch nich janz richtich. Haste sowat schon erlebt?“
Die Frau schlug mit der flachen Hand auf den Wohnzimmertisch, dass die Tassen klirrten. „Mensch Erwin, hör uff! Ick seh et doch schon wieder kommen.“
Draußen kam ein Läufer um die Ecke. Er trabte an Marie und ihrem Freund, dann an Bomber vorbei, die Anhöhe heran, den Blick müde auf seinen dürren Schatten, der mit der Nachmittagssonne in seinem Rücken fast parallel zur Wand verlief. Sie schauten ihm nach, wie er vorne an der 12 stoppte und sich nahe dem Hauseingang an der Mauer abstütze. Dort zog er den Schuh aus, schüttelte ihn, bis ein Steinchen auf den Bürgersteig sprang. Unter dem Ärmel seines Shirts die Ausläufer einer Tätowierung, ein dunkles, zittriges Ornament. Schweißperlen auf seiner Stirn.
Über ihm im ersten Stock öffnete sich ein Fenster. Das Glas scheuchte grelle Flecken über den Putz des gegenüberliegenden Hauses. Von drinnen warf jemand einen Gegenstand auf die Straße, in einem geraden Wurf, so dass er sich nicht um die eigenen Achsen drehte. Das Fenster schloss sich wieder. Im selben Moment klatschte ein Taschenbuch mit braunem Einband flach aufs Pflaster.
Der Läufer drehte sich um, hielt sich die Hand schützend über seine Augen. Heim sah ihm vom Fahrersitz aus zu, wie der das Buch aufhob. Er griff nach dem Zündschlüssel. Der Läufer blätterte durch die Seiten ohne Interesse für ein Detail.
Das blonde Mädchen hörte auf, Ameisen zu zertanzen. Es kam herüber.
„Was ist das?“, fragte es.
„Nichts“, sagte der Läufer. „Es ist leer.“