Die Höhle
Es wurde langsam dunkel. Die Sonne senkte sich hinter die Bäume und in unserer Zuflucht kamen die Schatten aus ihrem Versteck.
Etwa zwei Meter unter unserer Zuflucht grollte, knurrte und bellte es hin und wieder, und ich spähte hinunter. Die Hunde saßen noch immer auf ihrem Wachposten, wartend, lauernd. Auf ihre Beute.
Ich zählte, wieviele es waren. Dreizehn. Vor ein paar Stunden hatte ich sechzehn gezählt und davor elf. Sie kamen und gingen.
Diese verdammten Köter hatten uns gestern Morgen überrascht, als wir gerade weiterreiten wollten. Wir hatten in dieser Höhle hier übernachtet, weil sie so wunderbar sicher war und geschützt lag, auf einem Felsvorsprung.
Wir kamen gerade von einer Quelle zurück, an der wir uns gewaschen hatten und wollten die Pferde einsammeln, als die ersten drei Hunde auftauchten. Ich warf einen Stein nach ihnen und sie verschwanden. Ich hätte verdammt noch mal sofort das Gewehr nehmen sollen, es hing direkt neben mir am Sattel.
Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass wir ausgerechnet an diesem Morgen die Taschen alle in der Höhle gelassen hatten. Sonst hatten wir sie immer gleich beim Satteln mitgenommen.
Kurz darauf kamen wie an dem Felsvorsprung an. Und plötzlich waren wir von einem ganzen Rudel umzingelt. Die Pferde scheuten und mein verdammter Gaul warf mich um, ich trat in einen verdammten Kaninchenbau und verstauchte mir den Knöchel. Dann sind sie davongelaufen. Die Hunde blieben.
Ich dachte, ich müßte auf der Stelle vor Schmerz sterben, aber Danny riß mich vom Boden hoch und schrie mich an, wir müssten zurück in die Höhle. Erst da kapierte ich, dass die Hunde angriffen.
Er schob mich regelrecht die Felswand hoch und ich bekam Halt an dem Vorsprung, schaffte es irgendwie hochzuklettern. Als ich mich umdrehte und zurückschaute sah ich, dass Danny noch immer da unten war und mit fünf Hunden rang.
Ich wusste noch, dass mein Herz für einen Moment aussetzte und ich seinen Namen immer und immer wieder schrie, dass ich meine Arme ausstreckte um ihm hochzuhelfen. Sie hatten sich überall an ihm verbissen, aber er schrie nicht und das machte mir noch mehr Angst, als wenn er geschrien hätte. Ich hörte nur diese Bestien.
Einer der größeren Hunde sprang ihn an, stieß ihn gegen die Felswand und schnappte nach seinem Hals und Danny versuchte verzweifelt ihn von sich fern zu halten.
Wieder schrie ich seinen Namen und streckte mich ihm so weit es nur ging entgegen und in diesem Moment sah er zu mir hoch. Sein Gesicht war blutverschmiert und seine Augen starrten mich in Todesangst an. Dieser Anblick hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt, und ich würde diesen Blick wahrscheinlich nie wieder vergessen. Ich war mir sicher, dass er da unten sterben würde.
Irgendwie bekam ich ihn dann zu packen und er klammerte sich an meinen Armen fest. Und ich zog. Das kleine Fünkchen Hoffnung, das in diesem Moment in mir zündete, verlieh mir die Kraft ihn hochzuziehen. Ich zerrte ihn auf den Vorsprung und die Hunde versuchten mehrmals hochzuspringen, doch sie schafften es nicht. Es war zu hoch für sie.
Eigentlich wollte ich gar nicht sehen, wie es um Danny stand. Ich wollte nicht sehen, was diese Bestien mit ihm gemacht hatten, ich hatte Angst davor. Aber ich musste ihm helfen, ich wollte ihn nicht verlieren, also kroch ich zu ihm.
Überall an seinem Körper waren Kratzer und Bisse, alles war voller Blut. Danny war nicht bei Bewußtsein, und vermutlich war es auch besser so.
Ich hatte ihn früher immer verflucht, weil er, wie ein verdammter Sanitäter, jedesmal eine Satteltasche mit Verbandszeug und ähnlichem vollgestopft hatte. Er sagte, wenn er es nicht einpacken würde, passierte sicher etwas, deshalb schleppe er es lieber mit. Sogar Jod hatte er dabei. Gestern hätte ich ihn am liebsten dafür geküsst.
Mir war klar, dass ich mich beeilen musste, denn die Wunden bluteten furchtbar und ich hoffte, dass er keinen Schock erlitten hatte.
Elf Bißwunden. Elf. Zwei an jedem Arm, vier an seinem linken, zwei an seinem rechten Bein. Eine an seinem Bauch. Ich hatte Angst, dass vielleicht innere Organe verletzt worden waren, und ich betete zu Gott, dass es nicht so war. Aber die Wunden sahen übel aus.
Als ich fertig war, versuchte ich sein Gesicht ein wenig zu säubern. Ich hatte meinen Fuß beinahe vergessen, wichtig war nur, dass Danny lebte. Und dann wachte er endlich wieder auf.
Er schlug die Augen auf und sah mich an. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut über sie. Sie formten meinen Namen, Mike, einmal, zweimal, dreimal.
Ich war so verdammt glücklich, dass er wieder wach war, dass er lebte, dass ich anfing zu weinen. Ich sank neben ihn, mein Kopf auf seiner Brust, und weinte wie ein kleines Kind. Seine Finger vergruben sich in meinen Haaren, er streichelte mir über den Kopf, und in jeder anderen Situation hätte ich ihm dafür vermutlich eine verpasst, doch in diesem Moment wollte ich, dass er nie wieder damit aufhörte.
Ich blieb eine kleine Ewigkeit so liegen, bis mir endlich wieder einfiel, dass ich mich noch gar nicht um meinen Fuß gekümmert hatte. Mit einer notdürftigen Schienung aus mehrfach übereinandergelegtem Satteltaschenleder und Verbänden stabilisierte ich die Verstauchung so gut es ging.
Müde blickte ich zur Seite. Danny lag neben mir, schlafend, und ich hoffte, dass er wenigstens einen schönen Traum hatte, zumindest schlief er relativ ruhig.
Wir saßen nun schon einen Tag hier fest und die Hunde schienen keine Anstalten zu machen hier zu verschwinden. Diese verdammten Köter.
Mein Fuß tat nicht so weh, wie ich zuerst befürchtet hatte, aber was nicht war, konnte ja noch werden. Zwischen dem ganzen Verbandszeug, hatte ich noch Schmerztabletten gefunden. Aber selbst, wenn mein Fuß anfangen sollte stärker zu schmerzen, die Tabletten musste ich für Danny aufheben, denn er sagte zwar nicht, dass er Schmerzen hatte, aber man musste nicht in seiner Haut stecken um zu wissen, dass er auf jeden Fall welche hatte.
Sein Gesicht war besorgniserregend blaß. Kein Wunder, er hatte schließlich viel Blut verloren. Und ich konnte ihm nicht helfen. Alles was ich tun konnte, war die Verbände zu wechseln, ihm Wasser und etwas zu essen zu geben.
Das mit dem Essen konnte aber bald schon zu einem Problem werden, denn viel gaben die Taschen nicht mehr her, und meinen Entschluß nichts davon zu essen wollte ich möglichst von ihm fernhalten, er hätte es kaum akzeptiert. Das gleiche mit dem Wasser, es war kaum noch welches da, und er brauchte es dringender als ich.
Ich hätte Danny verdammt noch mal nicht überreden sollen mitzukommen. Irgendwie hatte ich plötzlich Lust auf einen Wanderritt gehabt, also rief ich ihn an und er lehnte ab, aber ich Idiot ließ nicht locker und überredete ihn tatsächlich. Es war meine Schuld, dass er vielleicht...
Unsere kleine Höhle hatte ich auch schon genauer unter die Lupe genommen. Die Hunde hatten keine Möglichkeit hier hoch zu kommen und konnten auch nicht von weiter oben hier herunterspringen, der obere Vorsprung ragte über den unteren. Ein Mensch konnte wohl an der Wand hoch- oder herunterklettern, so gelangte man seitlich in die Höhle, gegen Regen, Wind und Sonne waren wir hier ganz gut geschützt, aber weg kamen wir auch nicht.
Mir war aufgefallen, dass mein Gewehr ein paar Meter vor dem Vorsprung zwischen den Hunden lag, es musste aus der Halterung am Sattel gefallen sein, als das Pferd scheute. Keine Chance dort heran zu kommen. Dabei hatte ich tatsächlich noch Munition in einer der Taschen gefunden. Die einzigen Waffen, die uns zur Verfügung standen, waren ein Messer, das in einer der Taschen gewesen war, und faustgroße Steine.
Danny murmelte etwas und weckte mich aus meinen Gedanken. Ich rutschte zu ihm, um zu sehen wie es ihm ging. Seine Augen suchten meinen Blick und er rang sich ein Lächeln ab, und ich tat mein bestes es ihm gleichzutun. Mir fiel auf, dass er am ganzen Körper zitterte. Ich zog meine Jacke aus und legte sie ihm über.
„Hey, Danny“, grüßte ich ihn.
„Hey, Mike“, erwiderte er leise.
Ein paar der Hunde schienen sich zu streiten und sie bellten und knurrten sich lautstark an. Ich bemerkte, wie Danny zusammenzuckte.
„Sie können nicht hier hoch“, beruhigte ich ihn und versuchte wieder zu lächeln.
Der Zwiespalt, ob ich ihm sagen sollte wie schlecht es um ihn stand, oder ob ich es lieber für mich behalten sollte, brannte in mir, obwohl ich mir fast sicher war, dass er es schon längst wusste.
„Wie steht’s um uns?“ fragte er matt.
Dass seine Stimme so kraftlos und leise war, erschreckte mich. Vielleicht auch, weil ich Danny mich immer an einen großen Teddy erinnert hatte, solange ich ihn kannte. Seit sechzehn Jahren. Schon als Kinder war es immer so gewesen, dass er mich vor allem beschützte.
Ich betrachtete sein Gesicht und wünschte mir, ich wäre an seiner Stelle, doch wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich das sicher nicht überlebt.
„Oh, ich denke, wir sollten morgen ins Kino gehen, was meinst du?“ versuchte ich zu scherzen, aber mir war klar, wie dämlich das war.
Wieder spielte der Schatten eines Lächelns um seinen Mund. Gott, selbst seine Lippen waren blaß.
„Wenn wir uns nicht spätestens morgen bei der nächsten Rangerstation melden, werden sie nach uns suchen. Und vielleicht hat ja auch schon jemand die Pferde gefunden“, fügte ich hinzu, und betete Recht zu behalten.
Einen stummen Dank an die Ranger und ihre Vorschriften schickend, hoffte ich, dass sie uns bald fanden. So oft ich mich schon darüber geärgert hatte, dass man sich in bestimmten Zeitabständen in einer der Rangerstationen melden musste, so dankte ich nun dafür, denn meldete man sich nicht, wurden Suchtrupps losgeschickt.
Wieder betrachtete ich sein Gesicht und verspürte den Drang, ihn zu trösten. Klang das nicht albern? Ihn trösten, wie ein Kind, das sich das Knie aufgeschlagen hatte.
„Danke“, sagte ich schließlich leise.
„H-hey“, flüsterte er, „ich wollte n-nur einen Grund, dir später V-vorwürfe machen zu können.“
„Ja, bitte mach mir später Vorwürfe“, murmelte ich ihm zu.
Gott, wie sehr ich hoffte, dass er mir später noch Vorwürfe machen konnte, ich wollte sie mir so gerne anhören.
Trotz meiner Jacke zitterte er mehr und mehr, dabei hatte ich ihn mit allem zugedeckt, was mir zur Verfügung stand. Zögerlich streckte ich eine Hand aus und legte sie an seinen Hals, die Haut war tatsächlich eiskalt.
„Danny? Hast du noch sehr kalt?“
Er nickte schwach. Ich sah mich suchend nach irgendetwas brennbarem um, aber ausser ein paar verkrüppelten Bäumchen, die aus den Spalten der Felswand wuchsen, war da nichts, aber ein Versuch war es wert.
Also brach ich die Bäumchen ab oder versuchte sie mit dem gezahnten Messerrücken abzusägen und baute ein kleines Holzhäufchen für ein Feuer, ganz so wie ich es in den Ferienlagern gelernt hatte. Tatsächlich gelang es mir mit ein wenig Papier und drei Streichhölzern ein Feuer zu zaubern, und vielleicht sah es ja auch irgendwer. Es war natürlich viel zu klein, als dass es wirklich hätte Wärme spenden konnte, aber es gab einem wenigstens ein besseres Gefühl.
Doch Danny fror immer noch. Das Feuer war zu klein und ich hatte nichts mehr, womit ich ihn zudecken konnte, aber es gab doch noch etwas, das ihn wärmen konnte. Ich. Mein Körper.
Nach und nach nahm ich die Jacken und Decken weg, bis ich an die Schlafsäcke gelangte. Durch die Reißverschlüsse konnte man sie zusammenfügen.
Danny beobachtete mich eine Weile stumm, bis er schließlich flüsterte: „Was... machst du da?“
Ich streifte ihn mit einem schnelle Seitenblick und antwortete: „Dafür sorgen, dass du nicht mehr frierst.“
Nach kurzer Zeit war ich fertig damit uns ein Bett zu bauen, und bereitete unser Lager ganz hinten in der Höhle, dabei versuchte ich es möglichst bequem für Danny zu machen und setzte mich hinter ihn. Die unebene Wand drückte mir unangenehm ihn den Rücken, aber das war mir im Moment egal.
Ich zog den zitternden Körper vorsichtig zu mir, so dass sein Rücken an meiner Brust ruhte und deckte ihn mit den Decken und Jacken wieder zu. Dann schloß ich den großen Schlafsack und bettete Dannys Kopf gegen meine Schulter. Seine kalte Stirn an meiner Wange zu spüren, jagte mir einen Schauer über den Rücken.
„Du... hast schön warm, Kleiner“, flüsterte er mir zu.
„Du sicher auch gleich. Hey, Danny? Schlaf ein wenig, okay?“
„Mike? K-kannst du...“, begann er, unterbrach sich dann aber selbst.
„Mmh? Was denn?“ hakte ich leise nach.
Mir schien, dass er mit sich haderte, ob er tatsächlich weitersprechen sollte, doch dann entschied er sich dafür mich zu fragen und ich fühlte, wie er sich schwach gegen mich drückte.
„Kannst du mich... festhalten?“
Seine Stimme war nur mehr der Hauch eines Flüsterns, und ich konnte ihn gerade so verstehen. Ein seltsames Gefühl legte sich auf meinen Magen, als ich verstand, dass Danny Angst hatte. Langsam schlang ich meine Arme um seine Brust und hielt ihn eng, aber sanft an mich gedrückt.
Es dauerte nicht lange, bis das Zittern nachließ und kurz darauf schlief er ein, und auch wenn ich müde war, so versuchte ich trotzdem noch ein wenig wachzubleiben.
Wie lange mochte es wohl dauern, bis die Ranger uns fanden? Wenn sie uns fanden. Aber diese Höhle war den Rangern vermutlich bekannt, solche Übernachtungsmöglichkeiten waren meistens bekannt. Was aber, wenn Dannys Zustand sich schnell verschlechterte? Wie lange konnte er noch so durchhalten? Zwei Tage? Drei? Oder vielleicht nur noch einen?
Jetzt ist es an mir dich zu beschützen, dachte ich müde.
Lautes Gebell weckte mich am nächsten Morgen, die Sonne stand schon hoch am Himmel und ich schätzte, dass es gegen elf Uhr vormittags sein musste. Das Feuer war zwar ausgegangen, aber die Glut leuchtete unter der Asche heraus.
Danny schlief noch, aber er hielt meine Arme fest, so zog ich vorsichtig eine Hand weg und fühlte seine Stirn, die zu meiner Erleichterung deutlich wärmer war, als noch am Abend zuvor. Flüchtig hauchte ich einen Kuß auf seine Schläfe.
Die Hunde tobten unter dem Vorsprung, sie mussten wirklich Hunger haben, was mich hoffen ließ, dass sie eventuell von uns abließen, und sich eine ergiebigere Beute suchten. Ein paar Mal hörte ich, wie Krallen versuchten an den Felsen Halt zu finden, doch sie rutschten jedes Mal wieder ab.
Der Körper in meinen Armen bewegte sich ein wenig, was meine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Danny wachte auf. Stöhnend drehte er sich in meiner Umarmung etwas auf die Seite, ohne aber meinen anderen Arm loszulassen. Schließlich sahen seine geröteten Augen zu mir auf.
Mit der freien Hand angelte ich nach etwas zu essen und bekam Brot zu fassen, danach die Flasche mit Wasser.
Es kostete mich ein wenig Überzeugungskraft, da Danny sich sträubte etwas zu essen oder zu trinken, aber ich gewann. Keine Sekunde ließ er mich los.
Schließlich untersuchte ich, soweit es mir in dieser Position möglich war, seine Verbände. Die Wunden an seinen Armen, Beinen und Bauch schienen noch geblutet zu haben, aber das Blut an den Verbänden war bereits getrocknet.
Danny war sehr schwach, sogar zu schwach um normal zu sprechen, seine Atmung war unregelmäßig und wirkte angestrengt und alles was er sagte, war nur mehr ein Flüstern, aber ich war unheimlich froh, dass er überhaupt mit mir reden konnte. Es erinnerte mich daran, dass er noch lebte und, dass ich dafür sorgen musste, dass wir bald wieder zusammen eines unserer Sit-Ins machen konnten.
Nachdenklich fuhr ich mit meinen Fingern durch seine Haare. Seine Kopfkissen-Frisur, unten kurzrasiert, oben etwas länger und durcheinander. Ich ließ einige der kurzen Strähnen durch meine Finger gleiten, wiederholte es geistesabwesend ein paar Mal.
Das erste Mal hatte ich ihn getroffen, als er in das Haus neben uns zog, damals war ich acht Jahre alt gewesen. Meine Eltern nahmen mich mit, um die neuen Nachbarn zu begrüßen, die Familie Cooper, also trabte ich, brav wie ich war, mit, um die neuen Nachbarn zu begutachten.
Miss Cooper nahm mich damals bei der Hand, brachte mich zu ihrem Sohn, und ich weiß noch, dass ich mich freute, dass ein neues Kind in die Nachbarschaft gezogen war. Und er war so alt wie ich. Mit den anderen hatte ich mich nie sonderlich gut verstanden, was auch damit zu tun hatte, dass sie mich immer hänselten, weil ich zu klein war. Ich machte erst einen richtigen Schuß in die Höhe, als ich schon vierzehn war.
So lernte ich Danny kennen. Daniel Cooper. Ich betete jeden Abend, dass er mein Freund würde, obwohl ich nicht wirklich daran glaubte, denn alle anderen Kinder in der Umgebung fanden ihn ja so cool, weil er groß, kräftig und mutig war, mit acht Jahren. Was sollte er sich also so einen Zwerg wie mich als Freund aussuchen. Ha, ich hatte schon als Achtjähriger Komplexe.
Die Familie Cooper wohnte noch keinen Monat in der Nachbarschaft, da kam Danny eines nachmittags zufällig vorbei, als die anderen Kinder mich mal wieder am Hänseln waren. Ich saß weinend in einer Ecke, während die anderen um mich herum standen, und dann kam Danny dazu. Ich wollte nicht, dass er mich so sieht, also drehte ich mich weg.
Schließlich hörte ich wie er zu den anderen sagte, dass sie weggehen sollten, dass sie mich in Zukunft in Ruhe lassen sollten, und sie gingen.
Ich traute mich erst wieder hinzusehen, als mich jemand auf die Schulter tippte. Danny war neben mir in die Hocke gegangen, und lächelte mich an, seine Augen strahlten in diesem schönen, dunklen und warmen Braun, dann wischte er mir meine Tränen weg und hielt mir seine Hand hin. Ich ergriff sie und ich habe sie bis heute nicht mehr losgelassen und werde sie auch nie mehr loslassen. Natürlich im übertragenen Sinne.
Ab da waren wir unzertrennlich. Wir waren immer in der gleichen Klasse, verbrachten jede nur mögliche Minute miteinander. Er beschützte mich gegen alles und jeden, und legte sich jemand mit mir an, bekam er es mit Danny zu tun. Er war schon immer größer und stärker als die anderen gewesen, wie ein Teddy. Bis heute war ich der einzige, der ihn Danny nennen durfte, für alle anderen war er Daniel, Coop oder Hey, Großer.
Später lief er auch noch ins Gym, und nach kurzer Zeit sah ich neben ihm erst recht wie ein halbes Hemd aus, aber es war mir egal.
Im Moment studierten wir beide sehr erfolgreich Jura, wollten danach in derselben Kanzlei anfangen, und irgendwann später würden wir unsere eigene Kanzlei aufmachen. Cooper & LeFar. Das hatten wir uns geschworen, und bei Gott, wir würden es auch durchziehen.
Ich ließ seine Haare ein letztes Mal durch meine Finger gleiten und seufzte dann leise.
„Woran denkst du?“ fragte er.
Ich sah ihn an. Seine sonst so klaren und wachen Augen schauten mich matt und gerötet an. Wie sehr ich wünschte, dass sie noch einmal strahlten.
„Nichts besonderes“, antwortete ich. „Wie fühlst du dich?“
„Beschissen.“
Natürlich, dumme Frage. Er konnte sich kaum bewegen, so entschloß ich mich ihm eine Schmerztablette zu geben und er nahm sie dankbar an, aber wir mussten sparsam sein.
Vielleicht half es, wenn ich ihn ein wenig ablenkte. Nur mit welchem Thema? Seine Freundin? Wie hieß sie gleich? Susann. Ich hatte nicht viel mit ihr zu tun. Es war nicht so, dass ich sie nicht leiden mochte, aber wir lagen nicht auf einer Wellenlänge, sie war Dannys Freundin, und alles andere war unwichtig.
„Hey, Danny. Wie geht es eigentlich Susann?“
Danny blinzelte mich an.
„Wie... kommst du... jetzt... darauf?“ wollte er wissen.
Seine Stimme wurde schwächer, die Pausen, die er beim Sprechen einlegte, häuften sich.
„Nur so. Wir müssen nicht darüber reden.“
Wieder blinzelte er mich an.
„Nein... ist schon okay..., Mike. Ich habe... mit ihr Schluß gemacht.“
Verdutzt wollte ich etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Mit ihr Schluß gemacht? Wo er sie doch so gemocht hatte?
„Sie... hat dich immer... schlecht gemacht.“
Sie hatte mich schlecht gemacht?
„Aber du hast sie doch so gern gemocht“, warf ich schließlich ein.
Er brachte so etwas wie ein Lachen heraus, wurde aber sofort von einem Hustenkrampf geschüttelt, und ich hielt ihn fest, bis er sich beruhigt hatte.
„Nicht so... gern wie ich... dich mag... Uns... gibt’s nur im... Doppelpack, Mike.“
Ich starrte für eine Sekunde in seine Teddy-Augen, bevor sie sich langsam schlossen. Sein Kopf sank auf meine Schulter und seine Atmung wurde flacher und regelmäßiger, er war wieder eingeschlafen.
Danny schlief so tief und fest, dass er nicht aufwachte, als ich mich aus dem Schlafsack manövrierte. Vorsichtig belastete ich meinen Fuß und zischte leise, als ein Woge üblen Schmerzes mich durchflutete, meine Beine waren eingeschlafen, und straften mich jetzt mit schmerzhaften Stichen.
Es dauerte eine Weile, bis die Schmerzen nachließen, und sich auch mein Fuß beruhigte. Ich konnte stehen, auch wenn nicht besonders gut. Verdammter Knöchel.
Humpelnd näherte ich mich dem Rand des Vorsprungs, um zu sehen, was das Rudel machte. Im Moment waren nur sieben Hunde da, und zwischen ihnen schimmerte der Lauf meines Gewehres.
Das Feuer musste weiterbrennen, schließlich erhöhte es die Wahrscheinlichkeit, dass uns jemand fand. Leider waren nur noch wenig Holz in meiner Reichweite, für die nächste Fuhre musste ich dann klettern.
Das Feuer war schnell wieder angefacht. Von unserer Zuflucht aus hatte man leider keinen schönen Ausblick, es sei denn, man starrte gerne auf Baumstämme. Das Sonnenlicht brach durch die Baumkronen hindurch und malte Muster auf den Waldboden, die sich wie ein Film zu bewegen schienen, wenn die Bäume sich im Wind leicht hin- und herbogen.
Keine Ahnung, wie lange ich nach draußen sah. Wir hatten keine Uhren mitgenommen, und auch keine Handys, hier oben hatte man eh keinen Empfang. Die Sonne wanderte langsam über den Himmel, dem Feierabend entgegen. Normalerweise warteten die Ranger bis zehn Uhr abends, ob die Wanderer sich meldeten, bevor sie ein Suchteam organisierten. Morgen also.
Jungs, beeilt euch...
Seufzend griff ich nach einem Stein, schloß die Augen und fühlte sein Gewicht in meiner Hand. Er war kühl und recht schwer, aber schön handlich, ideal um ihn zu werfen.
Ich öffnete meine Augen wieder, betrachtete ihn, dann schwenkte ich meinen Blick auf die Hunde. Keiner der Köter lag in einer geeigneten Wurfdistanz, also legte ich den Stein wieder hin, vielleicht konnte er mir noch von nutzen sein.
War es nicht wie in einem verdammten Horrorfilm? Ein schlechter, verdammter Horrorfilm. Gab es da nicht einen Film, wo eine Gruppe von Menschen auf einer Insel festsaß und von einem Rudel Hunde nach und nach gefressen wurde? Wie hieß er gleich? Die Meute?
Normalerweise sollte man doch in Panik verfallen, wenn man auf einem Felsvorsprung von einem Rudel Hunde gefangengehalten wurde? Wäre das nicht menschlich? Mal ehrlich, meine Chancen hier lebend herauszukommen waren größer als Dannys, und meine waren doch schon nicht gut.
Es wurde Zeit, dass ich nach Dannys Verbänden sah. Die Bandagen reichten für einen zweimaligen Wechsel, inklusive dem, den ich jetzt machen wollte. So viel Verbandszeug, als hätte er etwas geahnt.
Danny lag praktischer Weise auf dem Rücken. Vorsichtig öffnete ich den Schlafsack, und machte mich daran die Verbände an seinen Armen und seinen Beinen abzuwickeln.
Die Wundränder waren stark gerötet und das Gewebe um die Bisse geschwollen, was hatte ich auch anderes erwartet, natürlich ging das nicht ohne Entzündung an ihm vorüber. Ich legte neue Verbände an.
Dann kam ich zu dem Biß an seinem Bauch, und irgendwie lag mir ein komisches Gefühl im Magen, etwas in mir sträubte sich unter die Bandage zu schauen. Vielleicht, weil es ein ganz schöner Akt werden würde, den neuen Verband anzulegen. Danny musste dazu sitzen, und er war ziemlich schwer. Es wunderte mich noch immer, wie ich es geschafft hatte ihn auf den Vorsprung zu ziehen.
Als ich sein Hemd hochzog und den Verband löste um die Wunde an seinem Bauch zu inspizieren, legte sich ein kalter Griff um meine Brust. Sie hatte sich entzündet. Nicht nur ein wenig, sie eiterte. Vorsichtig betastete ich seinen Bauch, die Region um die Wunde war regelrecht verhärtet. Unter der Berührung stöhnte Danny laut, seine Augen flogen auf und er krümmte sich.
„Danny! Danny, es tut mir leid! Ich wollte dir nicht weh tun!“ rief ich, und versuchte ihn ruhig zu halten, damit die Wunden nicht wieder aufgingen.
Er wehrte sich nicht stark, er hatte gar nicht die Kraft dazu. Ich musste ihn aufsetzen und festhalten, während ich den Verband anlegte, weil er noch nicht einmal aus eigener Kraft sitzen konnte.
Als ich es endlich geschafft hatte, legte ich ihn wieder vorsichtig in das Nest aus Decken, seine Augen waren ganz trüb und starrten richtungslos in die Luft. Ich legte eine Hand auf seine Stirn, sie glühte förmlich. Wieso war es mir nicht schon früher aufgefallen?
„Danny? Danny, hörst du mich?“ fragte ich und spürte, wie meine Stimme dabei zitterte.
Er reagierte nicht. Ich lehnte mich ein wenig näher an sein Gesicht.
„D-danny? Hey, bitte, sieh mich an!“
Dann, langsam, richtete er seinen Blick auf mich. Trotzdem schien er durch mich hindurch zu schauen, aber wenigstens reagierte er. Dankbar hauchte ich einen Kuß auf seine Lippen und erschrak, sie waren eiskalt, trotz des Fiebers.
Wieder schlossen sich seine Augen. Und ich begann zu weinen, meine Augen brannten, mein Hals tat weh, mir war schlecht und alles in mir verkrampfte sich schmerzhaft.
Ich verfluchte Danny stumm, dass er mich nicht einfach hatte liegen lassen, um sich statt dessen in Sicherheit zu bringen, er wäre sicher hier herausgekommen ohne mich als Klotz am Bein, und ich hätte nicht mit ansehen müssen wie er langsam starb. Ich war ihm immer ein Klotz am Bein gewesen, dass wusste ich, denn ständig hatte er meinen Arsch retten müssen. Dieser verdammte Idiot, ich wünschte mir so sehr, dass er ein Kumpelschwein gewesen wäre...
Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Da ich heute morgen zusammengerollt neben dem Schlafsack aufgewacht war, mit meinem Kopf auf Dannys Schulter und dröhnendem Kopf und brennenden Augen, ging ich davon aus, dass ich mich in den Schlaf geweint hatte. Ha, das letzte Mal hatte ich mich in den Schlaf geweint, als ich acht Jahre alt gewesen war, kurz bevor ich Danny das erste Mal traf. Ich wurde wieder zu einem Kind.
Den ganzen Morgen hatte ich damit zugebracht, alles Holz, an das ich noch irgendwie rankam, zu sammeln, nach Danny zu sehen und auf die Hunde zu starren. Im Moment waren es sechs.
Ich wartete auf einen geeigneten Augenblick, meinen Stein einsetzen zu können. Ein Stein gegen vier Hunde. Wenn ich nur einen von ihnen richtig traf... ich hatte die kleine Hoffnung, dass die Hunde so viel Hunger hatten, dass sie sich über das verletzte Tier hermachten. Ich hegte und pflegte diese Hoffnung, meine Chance an das Gewehr zu kommen, aber zu dieser Hoffnung gesellte sich auch die Angst, da überhaupt noch einmal runterzuklettern, solange Hunde da waren.
Unsere Zeit hier oben war so gut wie abgelaufen, das Essen war aufgebraucht und das Wasser war uns heute morgen auch ausgegangen. Mit blieb keine andere Wahl mehr, also saß ich da und wartete.
Dann passierte etwas, was ein weiterer Punkt auf meiner Dankesliste an unseren Herrgott wurde, sofern ich es hier herausschaffte. Einer der Hunde stand auf und trottete in Wurfnähe vorbei. Und ich warf.
Ihn anvisierend hob ich den Stein, warf mit aller Kraft, die ich aufbrachte, und schrie meine Wut hinaus, und der Stein traf das verdammte Mistvieh am Kopf. In meinen Schrei mischte sich das aufgeschreckte Gebell der anderen Hunde, und beides verhallte zwischen den Bäumen.
Offenbar hatte ich hervorragende Arbeit geleistet, denn der Hund blutete aus einem großen Loch in seinem Schädel und regte sich nicht mehr. Plötzlich wurde aus dem aufgeschreckten Gebell der anderen Tier wildes Knurren und Jaulen, die Hunde waren aufgesprungen und stürzten sich auf den leblosen Körper, begannen sich unter Zähnefletschen um das unerwartete Futter zu streiten.
Mein Blick glitt von dem grausamen Schauspiel weg, zu meinem Gewehr, es lag doch nur ein paar Schritte von der Felswand weg. Nur ein paar Schritte.
Ehe ich mir selbst darüber bewusst war, griff ich nach dem Messer und begann hinabzuklettern. Dabei glitt mein Blick über Dannys fiebriges Gesicht, was in mir einen Schub verzweifelten Mutes auslöste.
Als meine Füße den Waldboden berührten, drehte ich mich sofort zu den Kötern, die noch immer das tote Tier zerrissen und sich darum stritten. War es nun sinnvoller, so schnell ich konnte zu dem Gewehr zu humpeln, oder mich so vorsichtig wie möglich hin zu schleichen? Ich entschied mich für ein Mittelding.
Ohne das Schlachtfest aus den Augen zu lassen, kam ich meiner kleinen Hoffnung Schritt für Schritt näher. Mit jedem Schritt den ich machte, brandete der Schmerz in meinem Fuß wieder auf.
Plötzlich tauchte ein weiterer Hund aus dem Wald auf, geduckt und knurrend schlich er auf mich zu, wobei ihn die anderen Hund nicht zu interessieren schienen, genauso wenig wie sie sich für ihn interessierten. Dann sprintete er los und sprang.
Die Wucht riß mich von den Beinen, und ich schlug mit dem Rücken auf den Waldboden. Trotz des Laubes, das den Sturz abfederte, verschlug es mir für einige Sekunden den Atem. Den zusammenschnappenden Kiefern direkt vor meinem Gesicht war ich mir jedoch gewahr.
Ich wehrte mit einem Arm den Hund ab, und angelte ich mit der freien Hand nach dem Messer, das mir aus der Hand gefallen war.
In der Sekunde, ich der ich das Messer zu greifen bekam, schlossen sich die Kiefer dieses verdammten Köters um meinen Unterarm. Ich schrie auf und riß das Messer hoch, rammte es dem Köter ins Gesicht, und er sackte über mir zusammen. Mir entfuhr ein gequältes Lachen. Ich zog das Messer aus seinem Schädel, und stieß den Hund von mir herunter.
Zwei der anderen Hunde, von den anderen drei von dem angefressenen Körper ihres Mithundes vertrieben, schlichen auf mich zu. Ich rutschte von dem Kadaver weg auf mein Gewehr zu, und schloß meine Hand darum, das kalte Metall des Laufes auf ihrer Innenseite fühlend, und bei Gott, es fühlte sich so absolut gut an. Die beiden Hunde stürzten sich auf den Kadaver, der kaum einen Meter von mir entfernt lag. Sie schienen sich nicht für mich zu interessieren.
Ich stemmte mich hoch, steckte mir das Messer in den Gürtel und hängte mir das Gewehr um, während ich zur Felswand zurück humpelte.
Als ich wieder auf dem Felsvorsprung war, sah ich zurück auf die tobenden Bestien, die sich noch immer wild um die zwei Kadaver stritten. Und dann holten mich Angst und Panik ein, mein Herz fing an zu rasen, ich zitterte am ganzen Leib und war nah dran zu hyperventilieren. Ich schrie. Ich lachte. Ich weinte. Fünf Minuten, zehn Minuten? Keine Ahnung.
Irgendwann fasste ich mich soweit, dass ich in der Lage war, meinen Arm zu verbinden. Das Jod war leer. Egal.
Ich kroch zu Danny und fühlte seine Stirn, die natürlich immer noch glühte, aber als meine Hand ihn berührte, öffneten sich seine Augen und ich sagte ihm, dass jetzt alles gut werden würde, dass ich das Gewehr geholt hatte und diese verdammten Köter einen nach dem anderen abknallen würde. Dass ich ihn hier rausbringen würde.
Seine Augen sahen mich fieberverschleiert an, und er verstand vermutlich nicht was ich ihm sagte, aber er hörte meine Stimme und er reagierte auf sie.
Ich küsste ihn flüchtig auf den Mund und flüsterte: „Bitte bleib bei mir, wir schaffen das, hörst du? Hörst du...?“
Mein Kopf dröhnte, als hätte mir jemand eins übergezogen. Blinzelnd sah ich mich um, und stellte fest, dass es dunkel war. Dunkel?
Stöhnend setzte ich mich auf. War ich eingeschlafen? Oder bewusstlos geworden? Verdammt! Ich hatte damit so viel Zeit verschwendet!
Jetzt konnte ich unmöglich auf die Tiere schießen, etwas zu sehen war unmöglich und es war verdammt kalt. Ich seufzte schwer und verflucht mich selbst, mit etwas Glück hätte ich schon die Hälfte dieser Mistviecher getötet haben können.
Vorsichtig öffnete ich den Schlafsack, schlüpfte hinein und schloß ihn sorgfältig. Es war verdammt unbequem, so ganz ohne Polsterung, genau wie die letzten Nächte auch.
„Hast du’s wenigstens bequem, Danny? Es tut mir so leid, ich habe soviel Zeit vergeuded“, murmelte ich meinem schlafenden Freund ins Ohr. „Gott, ich wünschte, ich könnte deine Stimme hören. Du fehlst mir so.“
Ich legte meine Stirn an seine, hörte ihm zu wie er atmete. Das Fieber setzte ihm sehr zu, sein Körper strahlte so viel Wärme aus, dass ich kaum glauben konnte, dass er noch lebte.
Die nächste Rangerstation lag nur etwa sieben Kilometer von hier, zu Pferd ein Witz und zu Fuß eigentlich kein Problem, aber für uns beide fast unmöglich. Irgendwie musste ich es aber schaffen, irgendwie, und alles was nur irgendwie möglich war, musste ich versuchen.
Ich machte es mir einigermaßen bequem und hörte seinen leisen Atemzügen zu. Ab und zu hörte man ein Kläffen oder Knurren von den Hunden.
Ich fragte mich schon lange nicht mehr, warum sie nicht einfach verschwanden und woanders nach Beute suchten. Ihr Verhalten machte keinen Sinn, sie belagerten uns, wie Soldaten ihre Feinde im Krieg belagerten. Welches Tier tat schon so etwas?
Der Mond schien hell über den Baumwipfeln und füllte unsere Höhle mit einem blassen, toten Licht. Es jagte mir einen Schauer über den Rücken. Leider war dieses tote Licht nicht hell genug, um auf die Hunde zu schiessen.
Auch wenn der Himmel frei war, die Luft war drückend und schwer, verhieß nichts Gutes, aber es war mir egal, wo die frische und freie Luft und die Sonne der letzten Tage uns auch nichts Gutes gebracht hatten, was für einen Unterschied machte eine schlechte Sache mehr oder weniger? Irgendwann schloß ich die Augen und wartete darauf, dass ich in einen traumlosen Schlaf fiel...
Lautes Bellen weckte mich. Leider war mein Schlaf nicht traumlos gewesen, und die halbe Nacht waren Danny und ich von den Hunden zerfleischt worden, weil wir in meinen Träumen nicht schnell genug gewesen waren.
Vorsichtig schlüpfte ich aus unserem Bett. Dannys Zustand war unverändert, abgesehen von der Tatsache, dass er nun nicht einmal mehr auf meine Stimme reagierte. Ich sorgte dafür, dass er es wirklich bequem hatte und gut zugedeckt war, bevor ich mich zum Rand des Vorsprungs begab.
Die Sonne der vergangenen Tage war verschwunden, statt dessen hingen dicke, graue Wolken am Himmel, aus denen die ersten Tropfen bereits herabfielen, aber ein Gewitter schien nicht im Anzug zu sein.
Auf dem Boden scharten sich Hunde um die letzten Reste der beiden Kadaver, von denen eigentlich nur noch ein paar Fetzen Fell und Knochen übrig waren. Ich zählte vierzehn weitere Hunde, was mich daran erinnerte, dass die maximal von mir gezählte Anzahl sechzehn Tiere gewesen war. Die Chancen standen gut, dass das Rudel nicht größer war.
Langsam lud ich das Gewehr, legte alle Munition neben mich. Meine Hände zitterten wie Espenlaub. Inzwischen regnete es in Strömen, dicke, schwere Tropfen platschten auf den Boden und nach kurzer Zeit roch die Luft nach Moder, feuchtem Holz und nassem Tierfell. Mir schien, als sei der ganze Wald verstummt, nur um dem Geräusch des Regens und der Hunde zu lauschen. Alles um diese Höhle und die kleine Lichtung davor schien plötzlich tot zu sein, genauso tot wie in das Mondlicht in der letzten Nacht.
Ich hoffte, dass die Ranger nach uns suchten, auch bei diesem Wetter, aber auch wenn sie uns suchten, wie wahrscheinlich war es, dass sie uns auch fanden? Vor allem rechtzeitig? Darauf konnte ich mich nicht verlassen.
Das Gewicht des Gewehres lag schwer in meinen Händen. Früher hatte ich es immer als angenehm empfunden, doch jetzt war es unangenehm, wie eine Verantwortung von der ich nicht wusste, wie und ob ich sie tragen und erfüllen konnte. Es war viel Munition, aber wenn ich nicht traf, dann konnte ich soviel Munition haben wie ich wollte.
Ich warf einen Blick zurück auf Danny, wenn ich es nicht schaffte, dann starb er. Irgendwann war mir einmal ein Bericht in die Hände gekommen, ein Fall, den unser Professor in der Uni als Beispiel mitgebracht hatte. Ein Ehemann, der seine Frau im Keller einsperrte, obwohl sie ein recht schwere Verletzung hatte, er wollte sie nicht zum Arzt lassen. Die Verletzung entzündete sich, und weil keine Behandlung erfolgte, verstarb die Frau. Die Gerichtspathologin schrieb in ihrem Bericht von Fieberkrämpfen, Anfällen und ähnlichem, dass die Frau unter furchtbaren Schmerzen qualvoll gestorben sei.
Ich richtete meinen Blick wieder auf die Munition. Dann legte ich zwei Patronen beiseite. Wenn ich es nicht schaffte, alle Hunde zu töten, dann wollte ich zumindest sicherstellen, dass er nicht leiden musste, und, dass ich auch schnell starb. Doch noch war das nur eine Absicherung.
Ich setzte mich so, dass ich keinesfalls abrutschen und runterfallen konnte, dann atmete ich tief durch und legte das Gewehr an. Einige der Tiere sahen zu mir hoch, als rochen sie, dass etwas nicht stimmte. Von einer Sekunde auf die andere hörte ich auf zu zittern.
Ich schoß. Ich lud nach. Wieder und wieder. Und nur Gott wusste, wie ich es schaffte, dass jeder Schuss traf und das getroffene Tier irgendwie außer Gefecht setzte.
Die ersten drei Hunde traf ich in den Schädel, den nächsten traf ich in die Brust, dem Fünften durchschoss ich den Hals, danach achtete ich nicht mehr darauf, wie das Tier starb. Das Rudel stob wild durcheinander, zwischen den Schüssen hörte ich ihr Jaulen. Die Geräusche hallten in dem toten Wald wider. Keines der Tiere bellte oder knurrte mehr. Aus den Jägern waren gejagte geworden, und in mir stieg eine kalte Befriedigung hoch. Ihr Blut spritzte und vermischte sich mit dem Regen. Und ich schoß weiter...
Meine Beine hingen über den Rand des Vorsprungs, der Regen prasselte in dicken, schweren Tropfen gegen sie. Das Gewehr lag neben mir, von der Munition war noch über die Hälfte da, und dreizehn Hunde hatte ich erwischt, einer war entkommen und bis jetzt auch nicht zurückgekehrt.
Ich lachte, nachdem ich den Letzten erschossen hatte. Warum? Weil diese dummen Tiere nicht weggelaufen waren als ich anfing auf sie zu schießen, sondern aufgeschreckt durcheinanderliefen und sich dann gegenseitig anfingen zu beißen. Keine Ahnung, warum sie das getan hatten.
So richtig fassen konnte ich es nicht. Diese scheiß Köter waren tot, wir konnten gehen. Wir... konnten gehen.
Ich stemmte mich hoch und humpelte zu Danny. Ich strich ihm über die Wange, doch er reagierte nicht.
„Danny, es ist vorbei. Wir haben es geschafft“, sagte ich leise, während ich den Schlafsack öffnete.
Die Rangerstation, wir mussten sie so schnell wie möglich erreichen. Vorsichtig packte ich ihn unter den Armen, hob seinen Oberkörper an, um ihn an den Rand des Vorsprungs zu ziehen... und schrie auf vor Schmerz. Mit einem Schlag durchfuhr mich ein unglaublicher Schmerz, ausgehend von meinem Fuß und meinem Arm und nur mit Mühe gelang es mir, Danny nicht fallen zu lassen. Stattdessen legte ich ihn wieder in sein Nest, so sanft es mir möglich war, und sank neben ihn auf den Fels. So schaffte ich es nicht, ihn hier wegzubringen.
„Scheiße!“ schrie ich wütend.
Wütend über den Schmerz, wütend über meine Schwachheit und Unfähigkeit.
„Verdammt!“
Ich deckte Danny wieder gut zu. Die Zeit wurde knapp.
„Danny? Ich werde Hilfe holen“, murmelte ich, während ich mich zu ihm herunterlehnte. „Ich bin so schnell es geht wieder da, versprochen. Bitte halte noch so lange durch, ja? Bitte...“
Wieder keine Reaktion. Was erwartete ich auch? Einen letzten Kuß auf seine kalten Lippen hauchend verabschiedete ich mich von ihm, stand seufzend auf und kehrte zum Rand des Vorsprungs zurück.
Ich griff eine Hand voll Munition, schulterte das Gewehr und sah noch einmal auf die kleine Lichtung hinab. Der Hund war immer noch nicht zurückgekehrt, vermutlich war er schon längst über alle Berge. Also begann ich hinab zu klettern.
Der Regen hatte sich zu einem Wolkenbruch entwickelt, die vom Wind getriebenen Regentropfen platschten schwer gegen mich. Nach Halt suchend stocherte mein Fuß an der Wand, und weil ich keinen fand sah ich hinab, mir den Regen aus dem Gesicht schüttelnd.
Ich konnte gar nicht so schnell reagieren. Meine Hände rutschten ab und ich fiel, mit den Füßen voran. Als ich auf dem Boden aufschlug, schoß eine Welle unsäglichen Schmerzes durch mich hindurch, weil ich mit meinem lädierten Fuß auf einem Stein aufkam, ich konnte noch nicht einmal mehr schreien. Unter meinem Rücken spürte ich den nassen Waldboden und ich roch die Kadaver der Hunde, während der Schmerz immer wieder aufbrandete, mit jedem Mal schlimmer. Die Welt um mich herum schien zu verstummen, während mein letzter Blick auf den regengrauen Himmel fiel, und mein letzter Gedanke war, dass ich Danny im Stich gelassen hatte. Dann wurde es dunkel um mich...
Weiß. Alles war weiß, hell. Das... war eindeutig kein Wald. Träumte ich das jetzt? War ich... tot? Nein. Nein, das hier war ein Zimmer, ein weißes Zimmer, und ich lag in einem... Bett? Und irgendwas piepte.
Vorsichtig sah ich mich um, und stöhnte, als mich bei meiner ersten Bewegung ein Schmerz durchfuhr, aber ich biß auf die Zähne, sah mich weiter um. Das Piepen kam von einem Herzmonitor, Schläuche führten von diversen Flaschen runter zu mir. Infusionen. Ich hasste Infusionen. Über mir strahlte mich eine Deckenlampe an, die Vorhänge an den Fenstern waren zurückgezogen, draußen war es dunkel. Das hier... war ein Krankenhaus. Wir hatten es geschafft. Wir... Wo war Danny?
„D-danny...?“ krächzte ich.
Trotz der schreienden Schmerzen richtete ich mich ein wenig auf und sah mich erneut um, doch außer mir war niemand im Zimmer. Ich sank stöhnend zurück ins Kissen, angelte nach dem Schwesternrufknopf und drückte ihn.
Sofort öffnete sich die Tür, und zwei Schwestern und ein Arzt kamen herein und obwohl ich am liebsten hätte Scheiße schreien wollen, konnte ich mir ein mentales Grinsen nicht verkneifen. Wie in einem Film hing ihm ein Stethoskop um den Hals, und eine der Schwestern hielt ein Thermometer in der Hand.
Sie erzählten mir, dass ich mir beim Aufprall auf den Boden das Sprunggelenk zertrümmert und der Biß an meinem Arm sich entzündet hatte, außerdem habe mein Körper natürlich unter dem Nahrungs- und Wassermangel gelitten und dass die Ranger uns aufgrund der meiner Schüsse gefunden hatte. Und viele andere Sachen, die mich im Moment gar nicht interessierten. Auch, dass ich drei Tage geschlafen hatte. Als der Arzt eine Sprechpause einlegte, um mich schnell durchzuchecken, bekam ich eine Chance nach Danny zu fragen.
„Mister Cooper lebt und ist in Anbetracht der Umstände in guter Verfassung, zum Glück hat sich an den Wunden keine Sepsis eingestellt. Zurzeit schläft er, das Fieber ist bereits gesunken und die Wunden werden heilen“, berichtete mir der Arzt. „Wenn sie es wünschen, dann verlegen wir sie in Mister Coopers Zimmer“, fügte er hinzu und musterte mich dann kurz. „Sie haben ihn nicht aufgegeben und in Kauf genommen selbst dabei zu sterben. Meine Hochachtung.“
Vor meinem inneren Augen spulte sich der Moment ab, als ich mir den Fuß verstauchte und Danny mich vom Boden hochriß, mir auf den Felsvorsprung half, seine geweiteten Augen. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Trotzdem musste ich lächeln, als ich mich an den Arzt wandte und erwiderte: „Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich vielleicht tot. Ausserdem würde ich jederzeit mein Leben geben, wenn ich seines damit retten könnte.“
Die Schwestern hatten das Zimmer bereits verlassen und nur noch der Arzt war bei mir. Er setzte sich auf die Kante meines Bettes, sein Stethoskop in den Händen haltend. Sein Blick ruhte auf dem Instrument. Wir beide schwiegen. Der Mann war bestimmt schon Anfang sechzig, seine kurzen, grauen Haare waren voll und gaben seinem Profil einen interessanten Rahmen und die vielen Falten um seine Augen und seinen Mund ließen vermuten, dass er in seinem Leben viel gelacht hatte, sie machten ihn sympathisch.
Schließlich brach er die Stille, indem er sich zu mir drehte und sagte: „Es hört sich wie etwas an, dass sie mit aller Kraft festhalten sollten.“
Er lächelte und nickte mir zu, bevor er das Zimmer verließ.
Es dauerte nicht lange, bis zwei Pfleger kamen und mich in Dannys Zimmer brachten. Die Geräte und Infusionen folgten später.
Für ein paar Minuten war es mir möglich, Danny in Ruhe zu betrachten. Unter dem Piepen seines Herzmonitors konnte ich hören wie er atmete, es war ein beruhigend gleichmäßigeres und kräftigeres Geräusch als in den letzten Stunden in der Höhle. Sein Gesicht wirkte auch nicht mehr so angespannt.
Obwohl ich es sah, konnte ich es noch immer nicht recht glauben. Der letzte Gedanke an den ich mich erinnerte bevor der Film in meinem Kopf riß, war, dass ich Danny im Stich gelassen hatte.
Etwas in mir schrie danach ihn zu berühren, zu fühlen, dass er wirklich da und am Leben war, und so streckte ich mich zu ihm hinüber, streckte mich, so weit es mir möglich war. Um aufzustehen war ich zu schwach, aber ich wollte ihn unbedingt berühren, doch egal wie sehr ich mich auch bemühte, es reichte nicht. Sein Bett stand zu weit von meinem weg.
„Soll ich ihnen ihr Bett näher zu Mister Coopers stellen?“ fragte mich die Stimme des Arztes.
Ich fuhr erschrocken herum. Wann war er herein gekommen? Ich hatte ihn nicht gehört. Seine Lachfalten tanzten um seine Augen, als er mich anlachte, dann trat er an mein Bett, löste zwei Hebel, schob mein Bett an Dannys heran und stellte die Hebel wieder fest.
„Wann wird er wohl aufwachen?“ fragte ich leise.
„Jederzeit. Der Blutverlust und die Infektion haben ihn zwar stark mitgenommen, aber wie ich bereits sagte, sein Zustand ist gut. Sie müssen sich keine Sorgen machen“, sagte der Arzt, während er Danny einer kurzen Untersuchung unterzog.
Als er fertig war, klopfte er mir freundschaftlich auf die Schulter und schickte sich an, das Zimmer wieder zu verlassen. In dem Moment, in dem sich die Tür hinter ihm schloß, tat ich das, was ich so unbedingt wollte, ich streckte meine Hand nach Danny aus und berührte sein Gesicht. Sein Gesicht brannte nicht mehr unter dem Fieber, und es fühlte sich wieder lebendiger an. Ein Schauer überlief mich und entlockte mir ein Seufzen, während eine Welle der Erleichterung mich überrollte.
Obwohl ich noch nicht lange wach war, hatte ich das Bedürfnis zu schlafen. Vermutlich auch, weil ich endlich begriff, dass wir wirklich in Sicherheit waren und Danny leben würde. Ich suchte Dannys Hand, hielt sie fest und stellte fest, dass sie schön warm war.
Ich drückte sie kurz, und flüsterte ein: „Gute Nacht.“
Und bevor ich die Augen schloß, betete ich, dass das hier kein Traum war.
Die Schwester weckte mich am nächsten Tag gegen sieben. Ich fühlte mich zwar ziemlich beschissen, aber wenigsten durfte ich feststellen, dass es wirklich kein Traum gewesen war. Danny lag schlafend neben mir, langsam kehrte auch wieder eine gesündere Farbe in sein Gesicht zurück.
Nachdem die Schwester mein Kissen und meine Decke aufgeschüttelt, meine Temperatur und meinen Blutdruck gemessen hatte, rückte sie, zusammen mit einer zweiten Schwester, Dannys Bett von mir weg und führten den gleichen Arbeitsgang bei ihm durch. Lächelnd rückten sie schließlich sein Bett zurück neben meines.
Kurz darauf kam der Arzt zur Visite vorbei. Die Visite dauerte nicht lange, und mir wurde mitgeteilt, dass ich bald wieder auf dem Damm sein würde und es mit Danny weiter aufwärts ging. Dann sah er mich kurz stumm an, lächelte und nickte mir zu, bevor er das Zimmer wieder verließ.
Eine der Schwestern verpasste mir eine weitere Infusion, dabei hatte ich gehofft, ich würde diese verdammte Kanüle loswerden. Egal, ich hatte schließlich schon schlimmeres erlebt, nicht wahr?
Nicht lange danach kam mein Frühstück. Eine Scheibe Brot, ein bißchen Aufschnitt, Tee und ein Pudding. Ein wahres Festmahl, aber viel Hunger hatte ich ehrlich gesagt auch gar nicht. Und Tee. Ich hasste Tee, aber die Schwester lächelte nur und meinte, wenn ich nicht genug trank, müsste sie mir öfter eine Infusion anschließen, also trank ich. Sie kam hin und wieder herein, um nachzusehen, ob ich wirklich brav aß und trank.
Dann, als ich aufgegessen hatte, ließ sie mich in Ruhe. Sie teilte mir noch mit, dass unsere Eltern gestern noch verständigt worden seien, dass ich wieder aufgewacht war. Sie hatten uns schon besucht, als keiner von uns beiden wach gewesen war. Als letztes teilte mir die Schwester noch mit, dass unsere Eltern im Laufe des am Vormittag vorbei kommen wollten.
Ich entschloß mich, die Ruhe noch ein wenig zu genießen, so drehte ich mich zu Danny und beobachtete sein schlafendes Gesicht.
Es war seltsam. Wir kannten uns schon so lange, waren uns aber noch nie so nahe gekommen wie in den letzten Tagen. Ich fragte mich, warum erst hatte so etwas passieren müssen, damit ich bemerkte, dass trotz all den Jahren ein stiller und unbemerkter Abstand zwischen uns gewesen war.
Dabei hatte ich immer gedacht, dass es da nichts gab, was zwischen uns stand, schließlich erzählten wir uns alles, vertrauten einander, machten nichts, ohne vorher des anderen Rat einzuholen. Ständig hingen wir zusammen. Jede freie Minute. Ich hatte auch nie lange eine Freundin, weil ich meine Zeit lieber mit ihm verbrachte. Wir planten eine gemeinsame Kanzlei, das hieß, wir planten eine gemeinsame Zukunft. Wir hatten uns immer ausgemalt, dass wir, wenn wir einmal nicht mehr arbeiteten, als alte Männer regelmäßig zusammen Urlaub in einer Blockhütte an einem See machen würden, zum Angeln.
Trotz alledem, wenn ich jetzt zurückdachte, konnte ich mich nicht einmal daran erinnern, dass wir uns mal umarmt hätten, da war immer eine gewisse Distanz gewesen. Aber wenn es jemanden ausser meinen Eltern gab den ich Grund hätte zu umarmen, wer hätte es sein sollen, wenn nicht Danny?
Und, dass er Susann abgeschossen hatte, nur weil sie gegen mich gewettert hatte... hieß doch nichts anderes, als dass Danny genauso dachte und fühlte, oder? Oder bildete ich mir das jetzt nur ein, weil ich leise hoffte, dass es so war? Egal, jetzt war die Möglichkeit gegeben, auch diesen letzten Abstand zwischen uns auszuräumen und ich nahm mir vor, mit Danny darüber zu reden, wenn es ihm wieder besser ging.
Ich legte meine Stirn gegen seine, ich konnte nicht anders. Seit wir hier waren, nagte ständig das Bedürfnis an mir zu spüren, dass er lebte.
Als sein warmer Atem mein Gesicht streifte, überlief mich ein Schauer, es fühlte sich so gut an. Vorsichtig vergrub ich meine Finger in seinen Haaren, spielte mit einigen Strähnen. Auch wenn ich sie nicht berührte, ich konnte seine Lippen nah an meinen spüren. Ich wusste, sie waren weich, doch als ich sie in der Höhle berührt hatte, waren sie immer kalt gewesen, trotz des Fiebers.
Wie es wohl sein mochte? Wie sie sich wohl anfühlten, wenn sie warm waren? Ich wollte es wissen, sagte mir, dass es schließlich nicht das erste Mal war, und es auf das eine Mal mehr oder weniger nicht ankam.
Zaghaft schloß ich die Distanz und küsste ihn auf seine weichen, nun warmen Lippen, und es fühlte sich gut an.
„Mach... es gefälligst... richtig... oder... laß es...“, flüsterte mir die Stimme zu, die ich mehr als alles andere in der Welt unbedingt noch einmal hatte hören wollte.
Seine Augenlider hoben sich halb und erlaubten mir einen Blick auf seine Teddy-Augen, die mich zwar müde, aber klar und lebendig ansahen. Ich spürte, wie Tränen meine Wangen hinabliefen, aber es war mir egal.
„... ja...“, war alles, was ich erwidern konnte.
Ich weiß nicht was in mich fuhr, doch ich küsste ihn noch einmal, richtig. Für eine Sekunde schien er überrascht zu sein, zu stutzen und zu erstarren, bevor er den Kuß schließlich tatsächlich erwiderte.
Ich hatte noch nie zuvor einen Mann geküsst. Jedem, der es versucht hätte, hätte ich die Arme gebrochen.
Bei Danny war es anders. Bei ihm war es egal, dass er ein Mann war, es zählte nicht. In der Sekunde, in der ich in der Höhle begriffen hatte, dass er vielleicht starb ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, war es mir irgendwie bewusst geworden. Er war der rote Faden, der sich seit sechzehn Jahren durch mein Leben zog, er war der Punkt, um den sich in meinem Leben alles drehte. Irgendwann war er dazu geworden, ohne, dass ich es mitbekommen hatte, und selbst wenn, ich hätte es vermutlich nicht verhindert.
Es war ein unbeholfener Kuß, vermutlich der schlechteste Kuß, an dem ich jemals beteiligt gewesen war und es war verdammt seltsam. Aber trotz all dem war dieser Kuß der beste, an den ich mich erinnern kann. Nun, vielleicht war es doch nicht das letzte Mal gewesen, dass ich einen Mann geküsst hatte...
Wir hörten nicht, dass die Tür aufging, oder dass unsere Eltern hereinkamen. Und als wir es dann endlich bemerkten, war es auch egal. Es war gut so. Ich denke, für unsere Eltern war das, was sie gesehen hatten, in diesem Moment nicht wichtig. Natürlich sahen sie überrascht aus, und vielleicht war es nicht das, was sie für ihre Söhne gewollt hatten, aber sie sagten nichts darüber, auch später nicht.
Während ich Danny und unsere Eltern stumm betrachtete, ihrer Unterhaltung zuhörte, war ich mir sicher, dass das, was die Zukunft uns bringen mochte, ob in nächster Zeit oder später, sicher interessant und gut werden würde. Und wenn ein paar bittere Zeiten dazwischen sein mochten, so war es mir auch egal.
Solange Dannys Augen weiter über mich wachten und er bei mir war, konnte ich mit allem fertig werden. Danny, und das was uns verband, dass war, was ich mit aller Kraft festhalten und nie wieder loslassen würde.
Ich spürte, wie er seine Hand auf meine legte, sie leicht drückte, und sah ihn an. Er lächelte und ich lächelte zurück. Und seine Augen sagten mir, dass es, so wie es war, gut war.
Ja, es war gut. Alles war gut...