Die Harfe und der Wind
Bleich schimmerte Mondlicht durchs Fenster. Stumm verlassen lag das Zimmer, nur die Harfe noch harrte Kommendem. Ein Strahl des Mondsilbers fiel auf das Instrument, als dessen leises Wehklagen begann. „So hat man mich denn hier gelassen, als sei mein Leben verwirkt, als seien meine Klänge nicht mehr rein! Zurückgelassen, im letzten Tageslicht. Und nun steht der Mond schon zum fünften Mal am Himmel, mit seinen Strahlen vermag er allein mich noch zu wecken. Doch für niemanden mehr klingt mein Lied, denn ungerührt verbleibt am fernen Himmelszelt der Mond.“ Zitternd füllten die ersten Töne den Raum. Eine Wolke huschte vorüber, raubte dem Mond sein Silber und verschwand wieder. „Was willst du denn?“ hörte die Harfe auf einmal eine Stimme. Sie sang silberhell, so sorgenvoll, so schwer. Harfenklänge antworteten ebenso leis’. „Wer bist du? Woher stammt deiner Stimme Klang?“ Eine Stille, nur Augenblicke lang, dann eine Antwort: „Ich bin der Wind, der draussen durch die Wälder zieht. Ziellos, nach Süd, nach Nord. Doch scheint mir fast, als hätt’ ein Ziel ich nun gefunden. Was suchst du, kleine Harfe? Deiner Melodien Klang entsetzlich mutlos mir scheint, obgleich der silberne Mond so hell deinen Platz bescheint.“
Ein leises Wimmern blieb Antwort, doch der Wind liess sich nicht beirren und stellte ein weiteres Mal seine Frage. Schliesslich antwortete unendlich leiser Harfenklang: „Was mein Wunsch sei, fragst du, Wind? Sieh in mein leeres Zimmer, siehst du nicht der Stille Last? Mein Herr hat mich hier zurückgelassen, um andrer Instrumente Laut zu lauschen. Ich blieb hier zurück, wohl wissend, dass nie mehr der Menschen Ohr mein Lied nun hören wird.“ Der Wind widersprach nicht, sondern schwieg ein gutes Weilchen. Dann, um nicht die Harfe zu kränken, strich er sanft durch das Gebälk des Hauses. „Gehört haben sie deinen Klang, doch ziellos wehe ich durch die Wälder und Wiesen dieser Welt, ohne auch nur ein einziges Mal gehört zu werden. Nie hat jemand meine Stimme wahrgenommen, man sagt, ich sei stumm und doch ist meine Stimme mächtig genug, die Werke der Menschen zerfallen zu lassen. Das ist meine Melodie, die zu hören bisher keiner im Stande gewesen. Ohne Ziel verschlug es mich in alle Regionen dieser Erde, doch keiner war fähig, mich zu hören. Meiner Stimme Schönheit zu erkennen. Und du klagst, dein Herr habe dich in dieser Kammer zurückgelassen?“
Beschämt schwieg die Harfe. Der Wind hatte Recht, was klagte sie ihm ihr Leid, wo doch er derjenige war, dessen Melodien man noch nie gelauscht hatte. Der Harfe Traurigkeit schwand ein wenig, doch der dunkle Knoten in ihrem Innern wollte nicht weggehen. Zaghaft versuchte die Harfe einige aufmunternde Takte, an wen sie diese aber richtete, wusste sie selber nicht. Der Wind jedenfalls lauschte ihrem Spiel und die Harfe meinte, ein wohliges Seufzen gehört zu haben. Schliesslich schlief die Harfe ob ihrem Spiel ein. Der Wind sang sich ins Innere des Waldes und liess die Harfe wieder alleine.
Tage später, die Harfe stand noch immer vergessen im leeren Zimmer und war nicht aufgewacht, da fegte der Wind heran, scheinbar zielstrebiger, und rief der schlafenden Harfe zu, sie solle aufwachen, solle ihm ihr königliches Spiel zeigen. Doch stumm blieben die Saiten, ohne Melodie die kleine Harfe.
„Was ist geschehen?“
Ungehört verklangen die Worte des Windes, die Harfe zeigte keine Regung. Betroffen schwieg der Wind, so als hielte er eine Andacht, die nur der kleinen Harfe galt, ein Requiem, das niemand hörte, der Abschied von Melodien, die niemand mehr hören wollte. Der Wind aber kehrte ruhelos zurück in seine Wälder, rüttelte an den Ästen, brachte Sturm über die weiten Ebenen und umfuhr mit eisigem Heulen die Spitzen der Berge.
Dann, eines Tages, viele, viele Stunden waren vergangen, seit er seine Abschiedworte an die kleine Harfe gerichtet hatte, deren Herr sie in jenem leeren Zimmer zurückgelassen hatte, gelangte der Wind wieder in die Gegend, in der er die wundersamen Harfenklänge vernommen hatte.
Das Fenster war blind geworden, das Zimmer dahinter nicht mehr zu erkennen. Wütend schrie der Wind auf: Wie hatte man nur wagen können, die Harfe ihres Lebens zu berauben, sie, deren Klänge noch so rein und hell gewesen waren? Wild wütete der Wind, ja, mit Wahnsinn fast, durch die Wildnis. Auf seinem Streifzug zerstörte er vieles, riss einige Bauten in den Tod – bis er schliesslich mit letzter Anstrengung zurückkehrte, zum Zimmer der Harfe. Das Fenster zersplitterte unter seiner Wut, klirrend fielen Scherben zu Boden.
Erschrocken hielt der Wind inne. Die Harfe stand noch immer am selben Ort. Stumm. Spinnweben hatten sich über ihr stolzes Antlitz geschlichen. Traurig strich der Wind durchs Fenster, fast zärtlich fegte er den Schmutz von der Harfe. Bis sie wieder glänzend, in alter Schönheit, erstrahlte. „Jetzt kann ich gehen, das Licht des Mondes wird der Toten Andenken sein. Und ich werde, wann immer der silberne Schein der Nacht mich begleitet, an dieses wunderschöne Wesen zurückdenken, dessen Töne nun verklungen sind.“ So strich der Wind ein letztes Mal über die Saiten der Harfe und verliess das Zimmer – nicht zurückschauend.
Doch von der Seele des Windes berührt, erklangen ein allerletztes Mal die Saiten der Harfe, spielten eine leise Abschiedsmelodie an den Wind. Jeder, der fähig ist, dem Wind zu lauschen, der seine Worte zu verstehen versucht, wird Windwispern, das er spürt, die leisen Klänge einer Harfe hören. Wird die Wehmut spüren, die der Wind nach seiner Gefährtin verspürt.