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Die Hauptrolle

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21.12.2015
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Die Hauptrolle

Jeden zweiten Freitag koche ich mittags für die Enkel. Miriam ist vierzehneinhalb, Florian knappe sechzehn. Sie kommen dann aus dem coronageprägten Präsenzunterricht des Gymnasiums und sind ziemlich erledigt. Meinen runden Tisch habe ich besonders sorgfältig gedeckt und dabei auf genügend Abstand geachtet. Wie immer gibt es als Höhepunkt ein selbst zubereitetes Dessert. Darin bin ich Weltmeister.
Die beiden Teenies können nicht unterschiedlicher sein. Florian widmet sich meistens schweigend dem Essen, steht ziemlich bald auf und verabschiedet sich mit einem „Danke, Oma, für das gute Essen“. An der Haustür dreht er sich jedes Mal um und ruft: „Hab dich lieb, Oma“. Ich muss lächeln und schlucken vor Rührung. Seit Corona gibt es keine Küsschen mehr, Körperkontakt ist out.
Miriam dagegen hat Sitzfleisch und ist eine Plaudertasche. Meistens erzählt sie vom Unterricht mit den lästigen Masken, von den Freundinnen, auch aus schlechten Noten macht sie kein Geheimnis. Und sie spricht mit mir über meine Kurzgeschichten, die findet sie cool. Manche ihrer Einfälle sind richtig hilfreich, vor allem, wenn es um altmodische Wörter geht. Sie will selber mal schreiben. Noch ist sie die meiste Zeit ganz guter Dinge, aber Corona hängt wie ein Damoklesschwert über allem.

Heute hat sie sich auf dem Sofa ausgestreckt, den Schmollmund wie ein Schublädchen nach vorne geschoben. Ich räume Teller und Besteck in den Geschirrspüler. Der Rest kann warten.
„Was ist los?“
„Ach, nichts.“
„Aber da ist doch was, ich seh's dir an.“
„Mist! Ich hab mich halt geärgert, über Sophie, über die Klasse, am meisten über mich selber, keine Ahnung.“
Ich sinke Miriam gegenüber in den Sessel, anderthalb Meter entfernt. Vorsichtshalber setze ich den Mundschutz auf, schließlich gehöre ich ja zur hochgefährdeten Generation. Das wird eine längere Geschichte, aber ich habe Zeit, viel Zeit.
„Also? Schieß los!“
„Ich wollte doch gerne die Julia sprechen, Sophie aber auch, und dann hat die Klasse abgestimmt. Kannst dir ja denken, wie.“ Sophie ist ’beste Freundin’. Miriams Aussage nach ist sie der Star der Klasse.
„Hm, das tut mir leid. Aber so ist das nun mal mit Abstimmungen.“
„Oma, das weiß ich doch. Aber darum geht es ja gar nicht.“
„Sondern?“
„Es ist, weil … weil Fabi den Romeo sprechen soll.“
Tja, das ist natürlich schmerzhaft für Miriam. Ich weiß nämlich von ihr, dass sie in Fabian verknallt ist. Leider beruht das nicht auf Gegenseitigkeit. Ich schüttle den Kopf und suche nach Trost für das Mädchen.
„Ja, das ist wirklich blöd. Sag mal, wollt ihr die Geschichte auch spielen?“
„Nee, nur sprechen und aufnehmen. Vielleicht machen wir später ein Hörspiel draus.“
„Klingt vielversprechend. Weißt du was? Ich habe auch mal Theater gespielt. Willst du davon hören?“
„Kenn' ich schon, Oma, Pünktchen und Anton, und du warst das Pünktchen.“
„Nein, Miri, keine Kinderrolle, und bei mir ging es nicht um die Hauptrolle, aber eine wichtige Rolle war es schon. Soll ich dir die Geschichte erzählen?
Miriam quält sich vom Sofa hoch, schlüpft in die Sneakers, wobei sie den Rand mit den Fersen niederdrückt, und wuchtet die Schultasche auf den Rücken.
„Morgen, Oma, oder am Sonntag. Oder du schreibst sie mir auf. Jetzt muss ich relaxen. Bist du mir böse?“
„Wie könnte ich“, sage ich und möchte das Mädchen an mich drücken. „Ich weiß nur zu gut, wie dir zumute ist. Ich werd's mal mit Schreiben probieren.“
Ich schaue ihr nach, wie sie mit hängenden Schultern über den Kies zum Eingang nebenan schlurft. Manche Dinge ändern sich wohl nie oder doch? Dann fahre ich den Computer hoch, fahnde nach dem Manuskript, das seit Jahren im Bücherregal schlummert, und tauche in meine längst vergangene Jugendzeit ein.

*

Zuerst lehnte ich ab, heftig, beinahe entsetzt.
„Ich kann das nicht. Theater spielen, auf einer Bühne auftreten, vor Leuten. Nee, ohne mich.“
„Stell dich doch nicht so an“, sagte Sanna, während sie, über die Badewanne gebeugt, ihre langen, schwarzen Haare ausspülte. „Gib mir mal das Handtuch.“
Geschwind wickelte sie es zu einem Schlauch zusammen und knotete es zu einem Turban. Sie sah aus wie Nofretete.
Haare waschen war ein wöchentliches Ritual, das in der Altbauwohnung etwas kompliziert war, weil man dazu extra Feuer unter dem Boiler machen musste. Ich stand meistens daneben, reichte ihr Shampoo und den Krug mit Schwarztee zum Spülen, ein Tipp von Sannas Oma in West-Berlin. Die Oma hatte viele gute Ideen, was die Schönheit betraf, denn sie war Schauspielerin gewesen.
„Du kennst doch Achim, den James Dean vom Kepler, der will eine Theatergruppe aufziehen.“
„Wieso jetzt plötzlich? Ich dachte, er will eine Band gründen.“
„Na ja, auch. Aber vor allem will er seinen Vater dazu kriegen, dass er ihn nach dem Abi zum Vorsprechen lässt, in München. “
Achim war der Sohn vom Direx am Kepler, unserer benachbarten Schule. Es gab gemeinsame Veranstaltungen, Abschlussbälle und Sporttage. Die Gebäude lagen nur zwei Straßen auseinander, so dass sich während der großen Pause die Schüler der Oberstufe in einem kleinen Park treffen konnten. Dort inhalierte man hastig eine Zigarette und traf Verabredungen. Ganz Mutige knutschten auch ein wenig hinter den Büschen. Unser Direx pflegte zu Beginn des Schuljahrs darauf hinzuweisen, dass er seinen lieben Schülerinnen voll und ganz sein Vertrauen schenke, denn, nicht wahr, Mädchen seien die Klügeren. Klar, dass er dafür rauschenden Beifall erhielt und das Gymnasium gute Anmeldezahlen.
Sanna begutachtete ihre Augenbrauen und zupfte mit der Pinzette die unteren Härchen weg. Bei jedem zuckte sie zusammen und schnitt eine Grimasse. „Schönheit muss leiden“, kommentierte ich. Die feingeschwungenen Bögen brauchten meiner Meinung nach keine weitere Betonung. Es sah toll aus. Unmöglich, nicht neidisch zu sein.
„Was will er denn für ein Stück spielen? Was Klassisches?“
„Wahrscheinlich etwas aus der Literaturliste. Kurz muss es sein, wenig Personen. Ich glaube, er denkt an Leonce und Lena.“
„Und wie kommt er gerade auf uns?“
„Eigentlich hat er nur mich gefragt. Aber ich hab dich gleich ins Spiel gebracht. Wir treffen uns am nächsten Donnerstag, da sind ab sechs die Handballer in der Sporthalle. Kein Problem, wir können in die hintere Umkleide. Achim hat dort schon öfter geprobt, du weißt ja, die Band.“
„Und wie kommen wir da wieder raus? Was ist mit dem Hausmeister?“
Hausmeister Willy war bekannt als scharfer Hund. Es ging das Gerücht, dass er nachts mit zwei Bulldoggen im Schulgebäude unterwegs sei.
„Achim kann gut mit mit ihm. Ist ja auch kein Wunder, als Sohn vom Chef. Also, was ist jetzt?“
Sanna wickelte den Turban ab, schüttelte den Kopf kräftig hin und her und kämmte die Haare locker nach hinten, um sie an der Luft trocknen zu lassen.
„Wenn ich meiner Trulla sage, dass du dabei bist, wird sie nichts dagegen haben. Und du kannst nach den Proben auch bei mir übernachten.“
Sanna bezeichnete ihre Mutter abwechselnd als Trulla oder olle Olga, in der Regel mit einem spöttischen Unterton, manchmal auch zornig, wenn ihr etwas verboten wurde. Nie im Leben hätte ich mir erlaubt, so über meine Familie zu reden.
Aber bei Sanna war alles anders. Sie lebte mit ihrer geschiedenen Mutter in der Dachwohnung einer Villa aus der Gründerzeit. Keine Ahnung, was mit dem Vater los war. Er sei ein hohes Tier in der Berliner Stadtverwaltung, mehr kriegte ich aus Sanna nicht heraus. Als Freundin für Suse-Bärbel - Sanna hasste diesen Namen - war ich Frau von Dohna hochwillkommen, denn ich galt als ein braves Mädchen aus „ordentlichem bürgerlichen Milieu“. Anders gesagt, ich sollte auf Sanna aufpassen. Sie war das schönste Mädchen der Oberstufe.
„Ich werd's mir überlegen“, sagte ich. Eigentlich war ich schon entschlossen. Aber erst wollte ich den Text anschauen. Büchner, das wusste ich, stand zu Hause im Bücherregal.

James Dean alias Achim Winterer trug die Haare meistens zurückgekämmt, als lockere Welle, die ihm immer wieder mal über das linke Auge fiel und dann mit einem Kopfschwung nach hinten flog. Zur ersten Besprechung trafen wir uns in der Milchbar am Stadtgarten. Achim hatte noch drei Oberstufenschüler mitgeschleppt.
„Kannst du singen, tanzen, ein Instrument spielen?“ Er zog geräuschvoll sein Milkshake nach oben und fixierte mich von der Seite.
„Wieso, die Lena ist doch eine reine Sprechrolle. Tanzen und singen soll Rosetta, soweit ich verstanden habe.“
„Sieh an, du hast dich also vorbereitet. Aber wer sagt denn, wer welche Rolle kriegt?“
„Komm, lass den Quatsch.“ Sanna stieß Achim freundschaftlich in die Rippen. „Die Rollen sind doch längst verteilt. Also, was ist jetzt? Hast du mit dem Hausmeister gesprochen? Ich wüsste gern, was ich meiner Mutter sagen soll.“
Ich verbiss mir ein Lachen, meine Freundin war bestimmt keine, die ihrer Mutter alles auf die Nase band.
„Na gut.“ Achim musterte mich von oben bis unten. „Es könnte halbwegs gehen mit dir.“
Ich schluckte. Ganz schön arrogant, der Bursche. Das konnte spannend werden.
„Wir proben im Turmzimmer. Ich besorg den Schlüssel. Da können wir über die Turmtreppe rein und raus. Das mit der Umkleide geht nicht. Ich hatte schon mal Zoff mit meinem Alten damit. Und der Willy ist seitdem nicht gut auf mich zu sprechen. Nächsten Donnerstag müsste es klappen, um halb acht. Und jetzt zu euren Rollen.“
Ich war nun also die Lena. Vom Titel des Stückes her hatte ich eine Hauptrolle. Aber ich wusste schon, dass das so nicht stimmte. Rosetta war die weibliche Hauptfigur. Die war Achim wichtig, und außerdem spürte ich, dass er mich nicht leiden konnte. Aber ohne eine Lena ging es nun einmal nicht. Und das Ensemble musste ohnehin noch um einige Akteure wachsen. Achim wollte selber dafür sorgen.

Das Turmzimmer war ideal zum Proben. Keine Ahnung, wie Achim an den Schlüssel gekommen war. Mit einem schweren, eisernen Riegel ließ sich die Tür von innen verschließen. Die steile Wendeltreppe im turmartigen Anbau mündete im Dachgeschoss des Schulgebäudes. Hier waren einige Abstellräume, vollgestopft mit ausrangierten Bänken, Stühlen, Kartenständern und anderem veraltetem Krimskrams. Im größten Zimmer gab es ein durchgesessenes Plüschsofa, daneben stand ein Klavier mit vergilbten Tasten, total verstimmt.
Achim ließ es sich nicht nehmen, als Erstes ein paar schräge Synkopen draufzuhämmern. Dabei deklamierte er zur Einstimmung auf die Probe:
Mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich auf meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll zu tun, ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen.“
Alle lachten und fanden, dass unsere Aufführung so und nicht anders beginnen sollte. Jemand hatte Rum und Cola mitgebracht. So feierten wir den Beginn der großen Karriere unseres lokalen James Dean.

Die Probenabende nahmen Gestalt an. Es stellte sich heraus, dass nicht alle Rollen besetzt werden konnten. Also musste radikal gekürzt werden. Achim, der selbsternannte Regisseur, setzte sich selbstverständlich mit allem durch, und so fielen die Szenen mit dem Volk vor dem Schloss und dem Staatsrat im Großen Saal total seiner Streichwut zum Opfer. Mir tat es Leid, weil damit das satirische Element und auch der zeitkritische Aspekt unter den Tisch fielen.
„He, Lena, das kannst du ja dann im Abi aufbröseln.“ Achim geriet in Rage und sein Ton wurde zunehmend schärfer. „Mir geht es hier um was anderes. Langeweile, ja, Langeweile! Herrgott, siehst du nicht, dass dieses Thema unser eigenes ist? Merkst du denn nicht, wie langweilig, wie bleiern alles um uns herum ist? Verdammt, ich muss da raus!“
Achim sprach mich nie mit meinem Vornamen an, vielleicht kannte er ihn gar nicht. Ich hatte null Ahnung, was Sanna ihm über mich erzählt hatte. Vielleicht sollte ich sie mal danach fragen.
Die anderen hielten sich aus der Diskussion heraus. Sanna stellte sich auf Achims Seite. Kein Wunder, denn Leonce und Rosetta sprühten vor Spiellust und boten als Paar einen wahren Augenschmaus dar. Da konnte ich als Lena nicht mithalten, ich wusste, dass ich farblos und spröde wirkte, dafür aber war ich absolut textsicher. Zu Hause hatte ich dafür viel Zeit investiert, dabei hing mir doch mein Ruf als Streberin gründlich zum Hals heraus.
Neue Diskussionen gab es darum, ob man Büchners Sprache nicht ab und zu modernisieren sollte. Es war für die meisten verdammt schwierig, den ganzen Text in dieser altertümlichen Redeweise auswendig zu lernen. Achim sperrte sich gegen jedes Zugeständnis, erst, als zwei oder drei seiner Kumpels abspringen wollten, gab er nach.
Und dann ging es los mit Kostümproben, Requisiten sammeln, ein erstes Bühnenbild wurde skizziert. Unklar blieb, wo das Stück aufgeführt werden sollte. Die Aula des Kepler bot sich an. Dort gab es eine kleine Bühne, ein Klavier und passende Beleuchtung.
„Was sagt denn dein Vater zu unserem Vorhaben?“, fragte Valerio, auch im richtigen Leben Achims bester Freund.
„Nee, so weit sind wir noch nicht. Es soll eine Überraschung werden. Wenn's klappt, darf ich bestimmt nach München. Aber dazu muss alles perfekt passen.“
„Ja, aber was ist, wenn er uns die Aula nicht gibt?“ Auch ich hätte das gerne gewusst.
„Ach hör auf, Lena, die Proben sind einfach noch nicht so weit. Aber wenn es dir zu viel wird, kannst du ja mal eine Pause einlegen. Wir kommen eine Zeitlang auch ohne dich aus.“
Ich weiß auch heute noch nicht, ob Achim das ernst meinte. Sanna fing meinen empörten Blick auf, zuckte nur stumm die Achseln und machte sich am Fundus zu schaffen. Sie drapierte eine leicht zerrupfte schwarze Federboa um Hals und Hüften und stellte sich im Stil der zwanziger Jahre in Position.
„Wie findet ihr das?“, gurrte sie und drehte sich schwungvoll wie eine Eisprinzessin um die eigene Achse. Nicht nötig zu sagen, dass sie die volle Aufmerksamkeit auf sich zog.
Auf dem Heimweg gab sie halbherzig zu, dass ihr Achims Vorschlag natürlich nicht gefallen habe.
„Aber weißt du, er meint es nicht so. Der Arme steht gewaltig unter Druck durch seinen Erzeuger. Puh, den wollte ich auch nicht gern zum Vater.“ Sie schob den linken Arm unter meinen rechten. „Sei nicht so empfindlich, es läuft doch alles ganz prima.“
Diese Sicht der Dinge konnte ich nicht teilen. Ich hätte es ihr sagen sollen, damals, aber ich schwieg.
Für die beiden folgenden Proben ließ ich mich durch Sanna entschuldigen. Niemand habe sich groß gewundert, berichtete sie mir in der Schule, es habe auch keiner nachgefragt. Sie seien jetzt dabei, die Szenenabfolge zu verändern. Rosetta solle noch eine längere Tanzszene bekommen.
Ich beschloss, meine „Empfindlichkeit“ zu bearbeiten, denn ich musste vor mir selber zugeben, dass Achims Ideen und Interpretationen nicht übel waren. Auch gab es durchaus Momente, wo er sich gönnerhaft herabließ, mir ein paar Jazz-Akkorde und -Tonfolgen am Klavier vorzuspielen. Meine Klavierlehrerin hätte das entrüstet von sich gewiesen.

In der dritten Woche raffte ich mich auf und machte mich auf den Weg zu Sanna, um sie, wie bisher, zur Probe abzuholen. Ich klingelte, aber niemand kam herunter, um zu öffnen, obwohl Licht durch die Dachgauben fiel. Na gut, ich war etwas spät dran. Und Sanna wusste ja nichts von meinem Entschluss. Die schwere Holztür zum Türmchen war zum Glück nicht verriegelt wie sonst, wenn alle zur Probe an Bord waren. Durch die kleinen Sprossenfenster fielen letzte Sonnenstrahlen. In der aufkommenden Dämmerung zauberten sie verschwimmende Muster auf die Treppe. Schon auf den ersten Stufen hörte ich rhythmische Musik, Tango, wie ich begriff, sie mussten sich ein Tonbandgerät besorgt haben. Natürlich, Rosettas Tanzszenen sollten ja noch ausgebaut werden.
Als ich die Tür zum Turmzimmer öffnete, erstarrte ich. Dichter Zigarettenqualm lag in der Luft, auch ein süßlicher Geruch, den ich nicht kannte. Überall waren Requisiten zerstreut, Hocker, künstliche Blumengebinde, Weinflaschen, Gläser, Spielkarten. Auf dem verschlissenen Sofa lagen ausgebreitet Teile von Theaterkostümen, eine Staffelei zeigte kolorierte Skizzen, die einen Garten darstellten.
Außer Sanna und Achim war niemand da. Ich starrte auf das Paar. Es tanzte eng umschlungen in der Mitte des Raums, zuerst Bein an Bein, vor und zurück, vor und zurück, dann beugte sich die Frau weit nach hinten, das rechte Bein zur Zimmerdecke gestreckt, angewiesen auf den festen Griff des Mannes, der bestimmte, wo es lang ging.
Nach vier oder fünf Minuten sah Achim mich in der Tür stehen. Er drehte Sanna in eine Pirouette und ließ sie los. Sie sank außer Atem auf das Sofa und zupfte an ihrem Dekolleté herum.
„Was … was ist denn hier los? Wo sind die anderen?“ Ich konnte die Worte kaum herausbringen.
„Heute haben wir nur Tanzprobe, hat Sanna dir nichts gesagt?“
„Nein, Sanna hat mir nichts gesagt ... Ich wollte dich abholen, Sanna, aber da hat niemand aufgemacht.“
„Damned, forget it. Wir haben Besuch aus Berlin. Mein Daddy. Ich bin schon früher los, hatte keine Lust mehr, ihre Streitereien anzuhören.“ Sanna sprach mit schwerer Zunge.
„Streitereien?“
„Ja, Zoff ohne Ende. Ich weiß wirklich nicht, was diese beiden Typen dazu gebracht hat, mich zu zeugen.“
Sanna griff nach einem halbvollen Weinglas und leerte es in einem Zug. Ihr rotes, rückenfreies Kleid zeigte auf der rechten Seite einen beinhohen Schlitz, um die Taille hatte sie die schwarze Federboa drapiert. Achim stand hinter ihr und presste ihre Schultern nach unten, die Daumen nahe am Hals, besitzergreifend wie ein Eroberer. Und er lächelte mit kalten Augen. Ich verstand, was er in dieser Situation von mir erwartete.
„Na gut, dann gehe ich eben wieder.“
Lena! So warte doch einen Moment!“
Sanna wollte aufspringen, aber Achim drückte sie auf das Sofa zurück.
„Ihr könnt euch morgen in der Schule aussprechen. Aber jetzt ist tanzen angesagt. Adios, amiga.“
Die Tangomusik begann von neuem.

Im Türmchen war es inzwischen stockdunkel. So schnell ich konnte, tastete ich mich am Handlauf die Treppe hinab. Lena, wieso hatte Sanna Lena gerufen? Hatte sie meinen Namen vergessen? Oder wollte sie mich als ihre beste Freundin aus dem Gedächtnis streichen?
Etwa auf der Hälfte der Treppe hörte ich Hundegebell und ein Kommando. Ich erstarrte. Unten knarzte die Holztür. Das musste der Hausmeister sein mit seinen Bulldoggen. Ich setzte mich auf die Treppe, vielleicht würde er ja wieder weggehen, wenn alles still blieb. Aber das war natürlich naiv gedacht. Die Musik schallte lauter als zuvor durch den Turm. Nur wenige Sekunden später stand eine Dogge vor mir, knurrte und beschnüffelte mich.
„Was, zum Teufel tust du hier? Wie bist du hereingekommen? Überhaupt, wieso ist der Riegel nicht vorgeschoben?“ Der Hausmeister fasste den Hund am Halsband und zog ihn weg von mir. Dann legte er ihn an die Leine.
„Ich kenne dich, Fräulein, du gehörst doch ins Droste. Ich hab dich schon ein paar Mal hier gesehen.“
„Wir … wir haben eine Wette abgeschlossen, wer sich im Dunkeln durchs Türmchen traut. Es gehört zur Vorbereitung für ein Theaterstück.“
„So, so, ein Theaterstück. Und wer ist 'wir'?“
„Na ja, die Theatergruppe eben, drei Mädchen vom Droste und die Jungens aus der Unterprima.“
„Aha, und wie heißen die Jungens aus der Unterprima? Heißt einer vielleicht Achim Winterer?“
„Ich kenne die Namen nicht so genau, wir proben noch nicht lange zusammen.“
„Na, dann verschwinde mal, aber dalli. Von wegen Theatergruppe! Das hätte der Chef mir doch gesagt.“
Ich drückte mich vorsichtig an der Bulldogge vorbei, die mir hechelnd eine Pfote auf den Bauch legte. Hausmeister Willy zog an der Leine und machte sich ächzend auf nach oben.
Der Heimweg war mühsam. Ich musste alle paar Meter stehenbleiben, weil eine Welle Übelkeit vom Magen her aufstieg und mir den Atem nahm. Natürlich hätte ich eine andere Ausrede finden müssen, eine, die nur mich betraf. Aber nein, es war ja die Musik, die dem Hausmeister verriet, dass im Dachgeschoss der Bär los war. Der Bär? Dass ich nicht lache. Da war kein Bär, sondern wahrscheinlich ein ineinander versunkenes Liebespaar, das die Welt vergessen hatte. Ja, ich lachte, aber es tat bitter weh.

*

„Oma, die Geschichte ist doch noch gar nicht fertig. Was hat dir Sanna denn am nächsten Tag erzählt? Hatte sie ein schlechtes Gewissen?“
„Es gab keine Aussprache, Miri. Sanna kam gar nicht mehr in die Schule, von einem Tag auf den anderen. Das schlechte Gewissen hatte ich.“
„Aber wieso denn? Du konntest doch nichts dafür, dass der olle Willy die beiden ertappt hat.“
„Frau von Dohna hat ihrer Tochter jeden Kontakt mit mir verboten und alle Telefonanrufe abgewürgt. Einen einzigen Brief habe ich von Sanna bekommen, da wohnte sie schon eine ganze Weile bei ihrem Vater in West-Berlin. Sie hat mir die Schuld dafür gegeben, dass sie von Achim getrennt wurde.“
Miriam schüttelt ungläubig den Kopf.
„Echt jetzt? Also ich hätte mir das an Sannas Stelle nicht gefallen lassen. Einfach so rumgeschubst werden.“
„Das waren andere Zeiten, Miriam, Sanna war ja noch nicht einundzwanzig.“
„Was meinst du denn damit?“
„Damals, liebe Enkelin, wurde man erst mit einundzwanzig volljährig. Und wir hatten kein WhatsApp, Facebook oder Instagramm. Und leider haben wir auch zu wenig miteinander gesprochen, als die Proben anfingen. Vielleicht macht man das in eurer Generation besser. Apropos, was ist denn jetzt überhaupt mit eurem Shakespeare-Projekt?"
„Ach, Oma, das haben wir vertagt. Geht ja derzeit nicht, wenn wir nur noch zu Hause lernen sollen. Und überhaupt, Sophie hat gesagt, ihr ist es egal, wer den Romeo spricht. Und ich kann ihre Rolle haben, wenn ich will. Kein Problem. Wegen so einer blöden Rolle streiten wir doch nicht. Alles cool, Omi, passt schon, keine Ahnung. Aber ich muss dich noch was fragen: Was ist denn ein Augenschmaus?“
„Ja, da solltest du mal googeln ...“

 

Liebe @wieselmaus

nachträglich zum Geburtstag bringe ich Dir ein kleines Geschenk vorbei ... Eigentlich wollte ich schon ganz lange einen Kommentar schreiben, weil ich die Geschichte sehr mochte, aber das sagen wir keinen :).

Meinen runden Tisch habe ich besonders sorgfältig gedeckt und dabei auf genügend Abstand geachtet. Wie immer gibt es als Höhepunkt ein selbst zubereitetes Dessert. Darin bin ich Weltmeister.
Ach, diese Omas! Die sind einfach die Besten.

Und sie spricht mit mir über meine Kurzgeschichten, die findet sie cool.
Gutes Kind!

„Es ist, weil … weil Fabi den Romeo sprechen soll.“
Oh. Da kann einem Teeniedasein echt den Rest gebe. Der Fabi der Romeo und man selbst nicht die Julia. Ey, ey, ey ...

„Kenn' ich schon, Oma, Pünktchen und Anton, und du warst das Pünktchen.“
Hehe. Genau, Omas erzählen alles immer in Wiederholungen :D

„Morgen, Oma, oder am Sonntag. Oder du schreibst sie mir auf. Jetzt muss ich relaxen. Bist du mir böse?“
Genau. Das geht auf der Couch auch ganz schlecht. Das kann man da nicht. Ach, was ist sie herrlich, diese Jugend von Heute. Aber klar, es gibt Situationen, in denen ist man lieber für sich und das verwächst sich bis ins hohe Alter auch nicht.

Dann fahre ich den Computer hoch, fahnde nach dem Manuskript, das seit Jahren im Bücherregal schlummert, und tauche in meine längst vergangene Jugendzeit ein.
Du hast ein Bücherregal im Rechner? Wie cool. Das will ich auch! Ich habe nur so eine blöde Festplatte und Dateien. Wie gemein!

„Ich kann das nicht. Theater spielen, auf einer Bühne auftreten, vor Leuten. Nee, ohne mich.“
Fände stehen hier das richtigere Wort. Man steht da je vor den Leuten. Auftreten ist für mich eher das Betreten der Bühne.

„Ich werd's mir überlegen“, sagte ich. Eigentlich war ich schon entschlossen.
Das ging jetzt aber fix mit der Umentscheidung. Aber okay, immerhin reden wir über James Dean, ein Augenaufschlag und die Welt dreht sich anders herum.

„Na gut.“ Achim musterte mich von oben bis unten. „Es könnte halbwegs gehen mit dir.“
Autsch.

Die war Achim wichtig, und außerdem spürte ich, dass er mich nicht leiden konnte.
Ja, das hast Du im Dialog schon schön gezeigt. Müsste man nicht noch mal vertelln.

Mir tat es Leid, weil damit das satirische Element und auch der zeitkritische Aspekt unter den Tisch fielen.
Aber geht doch um Knutschen, Mensch! Alles andere kann gestrichen werden. Das ist für die Alten :D

„He, Lena, das kannst du ja dann im Abi aufbröseln.“ Achim geriet in Rage und sein Ton wurde zunehmend schärfer. „Mir geht es hier um was anderes.
Siehste ...

Achim sprach mich nie mit meinem Vornamen an, vielleicht kannte er ihn gar nicht.
Das klingt alles sehr angespannt.

Da konnte ich als Lena nicht mithalten, ich wusste, dass ich farblos und spröde wirkte, dafür aber war ich absolut textsicher. Zu Hause hatte ich dafür viel Zeit investiert, dabei hing mir doch mein Ruf als Streberin gründlich zum Hals heraus.
Man kann halt nicht aus seiner Haut. Das zweite dafür kann eigentlich total weg.

„Ach hör auf, Lena, die Proben sind einfach noch nicht so weit. Aber wenn es dir zu viel wird, kannst du ja mal eine Pause einlegen. Wir kommen eine Zeitlang auch ohne dich aus.“
Das tut schon echt weh.

„Sei nicht so empfindlich, es läuft doch alles ganz prima.“
Diese Sicht der Dinge konnte ich nicht teilen. Ich hätte es ihr sagen sollen, damals, aber ich schwieg.
Wenn die beste Freundin in Love, dann wird es kompliziert.

Außer Sanna und Achim war niemand da. Ich starrte auf das Paar. Es tanzte eng umschlungen in der Mitte des Raums, zuerst Bein an Bein, vor und zurück, vor und zurück, dann beugte sich die Frau weit nach hinten, ...
Die beste Freundin als die Frau zu betiteln klingt echt schräg.

„Na gut, dann gehe ich eben wieder. Sieht ja ohnehin nicht aus, als ob ihr mich brauchen könntet.“
Fände ich organischer.

Nur wenige Sekunden später stand eine Dogge vor mir, knurrte und beschnüffelte mich.
Auch so eine Erfahrung, die man nicht wirklich braucht.

„Ich kenne die Namen nicht so genau, wir proben noch nicht lange zusammen.“
Und trotzdem versucht man die Freundin zu schützen. Ja, genau so läuft das.

Ja, ich lachte, aber es tat bitter weh. Das also war das Ende einer unverbrüchlichen Mädchenfreundschaft.
Das klärst Du ja dann in der Gegenwart auf. Musst Du hier gar nicht so schwarz auf weiß schon vorwegnehmen.

„Frau von Dohna hat ihrer Tochter jeden Kontakt mit mir verboten und alle Telefonanrufe abgewürgt.
Du schreibst ja meist sehr autobiografisch. Und hier interessiert mich wirklich, ob das echt so lief oder Du hier dramaturgisch bearbeitest. Waren die Eltern echt so drauf? Und ging das in Natura - Kind von einen auf den anderen Tag von der Schule zu nehmen? Ich frag nicht, weil ich es Dir nicht glaube, sondern weil ich das wirklich heftig finde.

Sie hat mir die Schuld dafür gegeben, dass sie von Achim getrennt wurde.“
Krass.

Aber ich muss dich noch was fragen: Was ist denn ein Augenschmaus?“
Hehe. Da dachte ich auch - ach, das Wort habe ich aber schon lange nicht mehr gehört.

Doch, mir hat die Geschichte gefallen. Auch mit den Wechseln, vom Jetzt zu Damals zu Jetzt. Und ich kaufe Dir die ganze Situation 1:1 ab. Den Typen und seine Fiesheiten, das passt und auch wie es da zwischen den Mädchen zu knirschen beginnt, den Bruch und die Verletztheit, womit alles endet. Die Dialoge haben mir über weite Strecken gut gefallen. Sehr, sehr fein, Frau wieselmaus!

Sonnige Grüße, Fliege

 

Liebe @Fliege ,

Geschenke am Geburtstag sind was zum Freuen vor allem, wenn sie überraschend kommen.

nachträglich zum Geburtstag bringe ich Dir ein kleines Geschenk vorbei ... Eigentlich wollte ich schon ganz lange einen Kommentar schreiben, weil ich die Geschichte sehr mochte, aber das sagen wir keinen :).
Leider verschwinden die Geschichten relativ schnell im Archiv. Ich glaube, diese Art von Geschenk muss ich mir merken.
Also die Oma und ihre Enkelin haben es dir angetan, du findest nur Lob. Da denke ich, du bist mit meiner Dialogführung zwischen den Generationen einverstanden. Das freut mich und ich merke, dass ich hier im Forum was gelernt habe, auch von dir, liebe Fliege.
Du hast ein Bücherregal im Rechner? Wie cool. Das will ich auch! Ich habe nur so eine blöde Festplatte und Dateien. Wie gemein!
Wirklich? Kann man das so missverstehen? Ich glaube, du machst einen Scherz. außerdem glaube ich, digitale Bücherregale gibt es tatsächlich. Frag doch mal den Bossy, ob er dir eines einrichtet. :lol:
Fände stehen hier das richtigere Wort. Man steht da je vor den Leuten. Auftreten ist für mich eher das Betreten der Bühne.
Das stimmt, und du bist mit dem Theater verbandelt und siehst die Schauspieler*innen auftreten und stehen. Wird geändert und die monierten Wortdoppelungen natürlich auch, auch die beiden vorgeschlagenen Kürzungen. Danke!
Aber geht doch um Knutschen, Mensch! Alles andere kann gestrichen werden. Das ist für die Alten
Ha, das meinst du! Die Prota ist Streberin ist Streberin ist Streberin. Und schließlich war das Drama ja Abi-Stoff.
Die beste Freundin als die Frau zu betiteln klingt echt schräg.
Hab ich lange hin und her überlegt. Es sollte absichtlich eine Verfremdung sein. Für die Ich-Erzählerin tut sich eine Szene auf, in der sie ihre Freundin auf einen Schlag nicht mehr erkennt. Vielleicht ändere ich noch, wenn mir ein besseres Bild für diesen Schock einfällt.
Du schreibst ja meist sehr autobiografisch. Und hier interessiert mich wirklich, ob das echt so lief oder Du hier dramaturgisch bearbeitest. Waren die Eltern echt so drauf? Und ging das in Natura - Kind von einen auf den anderen Tag von der Schule zu nehmen? Ich frag nicht, weil ich es Dir nicht glaube, sondern weil ich das wirklich heftig finde.
Das war tatsächlich so, wobei ich nie erfahren habe, was wirklich geschah. Es gab eine Menge Gerüchte über Auseinandersetzungen des Schulleiters mit den Eltern. Die von dir vermutete Dramaturgie hat sich vor allem in der Türmchenszene entfaltet mit dem Hund und dem Hausmeister. Die gab es nämlich so in der Realität nicht.
Hehe. Da dachte ich auch - ach, das Wort habe ich aber schon lange nicht mehr gehört.
Ob du's glaubst oder nicht, auf die Idee hat mich ein Fußballreporter gebracht, der zu meiner Verblüffung dieses Wort neulich in einer Reportage verwendet hat.:lol:
Doch, mir hat die Geschichte gefallen. Auch mit den Wechseln, vom Jetzt zu Damals zu Jetzt. Und ich kaufe Dir die ganze Situation 1:1 ab. Den Typen und seine Fiesheiten, das passt und auch wie es da zwischen den Mädchen zu knirschen beginnt, den Bruch und die Verletztheit, womit alles endet. Die Dialoge haben mir über weite Strecken gut gefallen. Sehr, sehr fein, Frau wieselmaus!
Da gibts nur eine Art von Dankeschön:kuss: :herz:


Herzliche Grüße nach Berlin

wieselmaus

 

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