- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Die Heiligen von Zell-im-Tal
Der junge Mann im Fahrradtrikot schlenderte den Mittelgang der Klosterkirche entlang. Im Abendlicht schimmerten seine Muskeln, während er gelangweilt die Deckenmalereien, Vergoldungen und Schnitzereien betrachtete. Ich beobachtete dagegen ihn, mit einer gehörigen Portion Misstrauen und Abneigung. Da war er also wieder, Apollos geistloser Bruder, mein ehemaliger Schulkamerad Stefan. Die hauteng anliegende Sportkleidung zeigte alle Details seines Körpers so deutlich, dass mir höchst unbehaglich wurde. Ich wollte mich außer Sichtweite bringen, aber noch ehe ich nach meinen Krücken greifen konnte, stand er schon vor mir, nur zwei Glasscheiben und ein Gerippe weit entfernt.
Er bückte sich, um in die Vitrine zu schauen. Ich hörte ihn nach Luft schnappen, als er begriff, was dort drinnen war. Eilig trat er zwei Schritte zurück und rümpfte die Nase, und auch ich zuckte ein wenig zusammen, als mir klar wurde, dass ich ihn verwechselt hatte: Es war ein Fremder, wenn auch von merkwürdiger Ähnlichkeit mit diesem meinem wunden Punkt der Vergangenheit.
Den Heiligen Alexander berührte das alles nicht. Er lag in seiner Vitrine, prächtig gekleidet, komplett bis auf das allerletzte Knöchelchen. Er ist ein großes, weißes Skelett, mit vollständigem Gebiss, und trägt ein Gewand der Art, in der barocke Maler immer die römischen Soldaten abgebildet haben. Die Stäbe, die über seinen karminroten Samtrock fallen, sind aus massivem Gold. Sein Brustpanzer ist dicht mit Edelsteinen besetzt, mit Granaten, Lapislazuli und Opalen. Hand- und Schienbeinschützer sind ebenfalls aus Gold. Halb aufgestützt auf der Seite liegend wie ein altrömischer Patrizier bei einem Festmahl, hält er ein Schwert in der Knochenhand.
Alexander ist der prächtigste der sechs Heiligen, die wir im Kloster Zell-im-Tal haben, aber nicht der einzige. Daneben sind noch die Heiligen Laure und Margarete, sowie der Heilige Gotard. Von St. Severin und St. Guntram sind nur die Schädel und Oberarmknochen vorhanden, aber auch sie haben ihren Anteil an Gold und Edelsteinen. Der Mann betrachtete die beiden heiligen Damen, die – ohne Rücksicht darauf, dass sie tot sind - auf Stühlen sitzend aufgebaut sind. Vermutlich darf eine Dame nicht auf dem Boden liegen, damit man ihr nicht unter den Rock schauen kann, auch wenn sie dort gar nichts mehr hat. Die Taillen ihrer steifen, schweren Kleider sind auf einen widernatürlichen Umfang zusammengezogen, den sie nur deshalb ertragen können, weil sie eben Skelette sind. Wie das „Knochenmädchen im Pelz mit Peitsche“ von Leopold von Sacher-Masoch, dachte ich bei dem Anblick jedes Mal.
Der Mann sah sich um und umrundete die Vitrinen. Ich ließ das Krepppapier sinken, mit dem ich das Glas poliert hatte, und humpelte zur Seite. Dabei ließ ich den Kerl nicht aus den Augen. Er zählte murmelnd die Goldplättchen an Alexanders Ausstattung. Mit zusammengepressten Lippen polierte ich die Vitrine der Heiligen Margarete.
Der Mann tippte so unversehens an meinen Oberarm, dass ich beinahe umgefallen wäre.
„He, du da - wer sind die?“ fragte er mich. Eigentlich wollte ich nicht sprechen, denn dabei fällt meine Behinderung am stärksten auf, aber nun musste ich und bemühte mich, so klar und deutlich zu artikulieren wie möglich.
„Wir wissen es nicht genau“, erklärte ich, „nur, dass sie im 17. Jahrhundert so ausgestattet wurden, wie man sie hier sieht. Sie müssen aber wesentlich älter sein, denn in seiner Bulle „De sepultris“ hat Papst Bonifaz VIII schon im Jahre 1300 das Herrichten Verstorbener als Skelette verboten. Und wer sie nun gewesen sind, ist unklar...“
Er winkte ungeduldig ab. „Ich verstehe kein Wort“, knurrte er. Kein Wunder. Ich hatte keinen guten Tag, das Sprechen bereitete mir Mühe, und der Mann machte mich mehr als nur nervös. Ein fast schwarzhaariger, raubtierhaft wirkender Riese, zwei Köpfe größer als ich und doppelt so schwer. Die helle Haut kontrastierte unangenehm mit den extrem dunklen, beinahe wimperlosen Augen. Er machte mir Angst. Ich hätte gern den Pfarrer geholt, aber der schrieb gerade an seiner Predigt und wollte nicht gestört werden.
„Vielleicht Katakombenheilige“, sagte ich deshalb nur. Diesmal verstand er mich. „Was bedeutet das?“ fragte er.
Vor Anstrengung brach mir der Schweiß aus. Mit Fremden zu sprechen ist für mich schlimmer als zu Fuß zu gehen. „Als im sechzehnten Jahrhundert die Fundamente des Petersdoms ausgehoben wurden, stieß man auf die vergessenen Katakomben von Rom. Dort fanden sich reichlich Überreste frühchristlicher Martyrer. Es kamen damals viele, die sich ihren Anteil an den Reliquien holen wollten ...“
„Die müssten aber ganz braun und vergammelt sein“, sagte er. „Diese hier sind doch frisch ausgekocht worden.“
Ein nachgedunkeltes Skelett kann mit einer Mischung aus Bleiweiß und Leinöl wieder aufgehellt werden, und ich holte zu einer Erklärung aus. Als ich sah, wie er die Stirn runzelte, sagte ich nur: „Weiß bemalt.“ Es hat für mich wenig Zweck, Gespräche mit Leuten zu führen, die nicht an meinen Sprachfehler gewöhnt sind, aber bei all diesen Zwei-Wort-Sätzen kann man mich leicht für blöd halten. Sicherheitshalber fügte ich hinzu: „Vielleicht.“
„Eine richtige Wespentaille hat die Mieze“, murmelte der Mann und meinte die Heilige Margarete, deren Glaskasten ich gerade von Fingerabdrücken befreite. „Warum ist sie eigentlich heilig? Wohl nie einen richtigen Kerl gehabt?“
Wie war eigentlich Frau Margarete in diesen praktischen Zustand geraten, in dem sie sich weder um ihr Gewicht noch um ihren Teint Sorgen machen musste? Das war mir auch nach genauer Untersuchung der quattuor causae des Aristoteles nicht klar. Die causa formalis – heute sagt man wohl Know-how dazu – war ja nicht schwer zu finden: Derlei Skelette gibt es auch an anderen Orten, von denen Zell-im-Tal nicht der berühmteste ist.
Aber die causa finalis – der Endzweck des Ganzen? Ich war mit dem Pfarrer in diesem Punkt nicht ganz einer Meinung. Er sagte, dass die Welt Heilige braucht, und dass sie ihr deshalb erwachsen. Ich selbst dachte im Stillen, dass das Kloster die Heiligen brauchte – um sich die Portokasse auszupolstern – und dass es sie deshalb irgendwo aufgetrieben hatte.
Die causa materialis – hier also die Rohstoffsituation - war noch rätselhafter. Ich hatte in dreijähriger Recherche nur ein einziges Dokument gefunden, das Aufschluss gab über die Geschichte der Personen, denen diese Skelette gehört hatten. Ohne eine Radiokarbondatierung konnte niemand sagen, ob richtig war, was die Dokumente über das Alter der Gebeine sagten. Aber welchen Knochen wollte man für die Untersuchung opfern? Und dazu kam, dass der Pfarrer und seine Vorgesetzten es gar nicht so genau wissen wollten: Kein Wunder, dachte ich. Auch sie haben ihre causa finalis.
Die causa efficiens – Motivation oder Triebkraft - war dagegen einfach zu finden: Die kam von der Äbtissin Odile von Therny, deren Biografie ich fast fertig hatte. Eine höchst entschlossene Dame mit den Qualitäten eines Konzernmanagers, die 1669 gestorben war. Sie war es, unter deren Herrschaft eine Ausstellung der Gebeine zum ersten Mal durchgeführt wurde.
„Wir wissen heute nicht mehr viel über ihr Leben“, sagte ich zu dem Mann.
„Wer ist „wir“?“ fragte er genervt.
Von hinten kam die Stimme des Pfarrers. „Wir? Das sind die wissenschaftliche Gemeinschaft, meine liebe Sophie und ich“, sagte er. „Sophie hat mehr zur Aufdeckung der lokalen Geschichte getan als irgend jemand zuvor.“
Der Mann drehte sich um. Pfarrer Döbler schaute ihn von unten an wie ein Äffchen. „Sophie?“ fragte der Mann ungläubig, so als wäre ich gar nicht da. „Wollen Sie sagen, das ist ein Mädchen?“
„Ziemlich altes Mädchen“, knurrte ich. Ich bin einunddreißig.
„Was hat sie gesagt?“
„Sophie ist Historikerin“, erklärte der Pfarrer leicht erschüttert. Er ist an ungezogene Leute nicht gewöhnt. „Sie kümmert sich ein bisschen um meinen Haushalt und forscht in der übrigen Zeit über die Geschichte des Ortes und unserer Heiligen.“
„Tolle Karriere“, kommentierte der Mann, „wenn man Geschichte studiert hat!“
„Ich finde es ideal“, sagte ich. Sollte ich etwa eine Dozentenstelle antreten? Keiner der beiden Männer hörte zu. Sie starrten sich an. Dann gab der Fremde nach. „Ich würde gerne mehr darüber wissen“, sagte er zum Pfarrer, aber mir lächelte er zu. Er sah ja eigentlich gar nicht so schlecht aus, vor allem vom Hals aus abwärts. Sein Lächeln fand ich allerdings so falsch wie ein Kassengebiss.
Der Pfarrer schien nichts zu merken und redete eine ganze Weile mit dem Menschen. Ich verkniff mir die Kommentare, wenn er wieder einmal Jahre und Fakten durcheinander warf, und polierte verbissen die Glaskästen. „Sophie“, rief mich der Pfarrer enthusiastisch, „lass uns doch zeigen, was wir an Dokumenten aufbewahren!“ Ich schüttelte den Kopf. „Muss hier noch fertig werden“, sagte ich.
Der fremde Mann verabschiedete sich. „Ich komme mal wieder“, versprach er. Pfarrer Döbler nickte freundlich dazu. „Hoffentlich nicht“, dachte ich. Der Fremde schüttelte mir gegen meinen Willen die Hand - noch dazu die schlechte, die rechte – und starrte mich so an, als suche er unter meinem Trainingsanzug nach Geschlechtsmerkmalen. Ich starrte zurück, genau auf das sich ablösende Markenzeichen auf seinem Fahrradtrikot. Dann ging er. Hau bloß ab, dachte ich. Von hinten gefiel er mir deutlich besser als von vorne. Er hatte etwa Kleidergröße 106.
„Was für eine Freude es doch ist, junge Menschen zu treffen, die sich noch für unsere Heiligen interessieren“, seufzte der Pfarrer, als wir allein waren.
„Meine Güte, Christian“, sagte ich ärgerlich, „ich würde ihn nicht auch noch ermutigen!“
„Warum denn nicht, Sophie?“ fragte mich der Pfarrer.
„Weil wir, wie du genau weißt, Probleme mit der Sicherheit haben. Und ehe das nicht behoben ist, würde ich solche ausgehungerten Kojoten wie den nicht auch noch in die Nähe locken. Er hat den Alexander abgeschätzt wie ein Pfandleiher. Schlimm genug, dass er genau in dieser Stunde reinkommen musste, als ich die Sarkophage offen hatte. Wenn er herausbekommt, dass er praktisch nur die Hand ausstrecken muss...“
„Meine liebe Sophie“, sagte der Pfarrer streng und runzelte die Stirn, „du übertreibst maßlos. Ich kann ja verstehen, dass du nicht schnell Zutrauen fasst. Aber diese Art, von deinen Mitmenschen gleich das Schlimmste anzunehmen, entsetzt mich. Glaubst du wirklich und ernstlich, dieser freundliche junge Mann würde unsere heiligen Reliquien plündern? Zum Diebstahl noch das Verbrechen der Kirchenschändung, der – der ...“
„Leichenfledderei hinzufügen?“ ergänzte ich. „Für ihn wäre das ein ganz gewöhnlicher Diebstahl, weiter nichts. Höchstens gruselt er sich ein bisschen dabei.“
„Sophie!“ entsetzte sich der Pfarrer.
„Ach, hilf mir lieber, die Sarkophage zu schließen!“ sagte ich. Wir klappten die Platten aus Eisen und Eichenholz mühsam nach oben und hängten solide, moderne Schlösser in die Ösen. So. Und nun war von den Heiligen nichts mehr zu sehen als die ziemlich plumpen Abbildungen auf der Vorderseite der Holzkästen, Abbildungen, die niemanden ernstlich vermuten lassen, dass auch drin sei, was drauf steht.
Der „Kojote“ kam schon am nächsten Tag wieder. Es war der 13. August, zwei Tage vor Mariä Himmelfahrt, dem einzigen Tag, an dem die Sarkophage der Heiligen für die Besucher geöffnet werden. Ich kniete am Boden, umgeben von den ausgebreiteten Blättern meines Manuskriptes. „Der Pfarrer sagte mir, dass ich Sie hier finde“, kam eine Stimme von oben, „darf ich stören? Das ist also Ihr Arbeitszimmer!“
Christian, du vertrauensseliger Depp! Ich drehte mich um und schaute mühsam nach oben. Da stand Mr. Kojote, zum Glück nicht in dieser peinlichen Sportkleidung, und gleich hinter ihm der Pfarrer, der eine Vase mit buschigen kleinen Rosen hielt. Das selige Lächeln des Christian Döbler, Pfarrer zu Zell-im-Tal und engagierter Amateurkuppler, sagte mir alles. Er hatte sich einwickeln lassen, der alte Romantiker. Ich suchte nach einem Halt – nur nicht merken lassen, wie schwer mir das Aufstehen fiel- aber es war zu spät: Wie ich befürchtet hatte, packte mich Kojote um den Brustkorb und stellte mich mühelos auf die Füße. Der Pfarrer strahlte.
„Ich habe dir die Blumen schon mal in die Vase gestellt“, sagte er eifrig und trippelte quer durch mein Zimmer. Er stellte den Strauß auf das Fensterbrett. Es war ein hübsches Gebinde, frisch und üppig, und hatte keinen Blumenladen von innen gesehen.
Ich zeigte den beiden einige Abbildungen aus meiner Biographie der Äbtissin. Da war das Kloster im Jahre 1623 zu sehen, eine bescheidene Angelegenheit, mit ein wenig Land, von dem die Benediktinerinnen sich mühsam genug ernährten. Ein weiterer Stich vom Inneren der Klosterkirche.
„Was tun sie da?“ fragte der Kojote. Ich wusste jetzt zwar, dass er Daniel hieß, und er hatte mir auch großzügigerweise das Du angeboten, aber für mich war er „Mr. Kojote“, irgendwie hungrig und nicht ganz vertrauenswürdig. Ich schubste den Pfarrer in die Rippen.
„Dies“, erklärte er, „zeigt die allererste Ausstellung der Reliquien. Die Kirche war damals etwas kleiner, aber man sieht, wie das Volk in Massen kam, um von der wundertätigen Kraft des heiligen Leichnams geheilt zu werden.“
„Da ist nur einer, nicht sechs“, sagte Daniel.
„Ja, zunächst war es nur einer. Der Heilige Alexander in einem vergleichsweise schlichten Rock. Die Einnahmen sprudelten bald reichlich, und das Kloster konnte es sich leisten, noch weitere heilige Gebeine aus dem Katakomben zu kaufen und sie aufs Prächtigste auszustatten. Diese Ansicht hier zeigt das Kloster siebzehn Jahre später...“
„Das Gehöft ist verschwunden!“ bemerkte Daniel.
„Richtig. Dafür ist ein Gästehaus da, das heutige Hotel.“
„Dann leben sie also nur vom Vorzeigen dieser Skelette? Arbeiten nichts mehr, und das Volk kommt und zahlt, um sich das anzuschauen? Also, das ist morbide! Die waren ja abartig damals.“
„Auch nicht abartiger als heute“, sagte ich. „mit den Nekrophilie-Communities im Internet und den Körperwelten. Da steht man dann vor einem Haufen fremder Leute, in Plastik gegossen wie eine Riesen-Barbiepuppe, und zeigt die Folgen der Sünde vor, Herzschrittmacher, Brustimplantate und alles. Da finde ich das hier schon würdiger.“ Es waren zu viele schwere Wörter für jemanden, der eine ICP hatte. Die beiden Männer blickten einander fragend an.
Ich holte eine Sammelmappe voller Faksimiles. „Lies das vor!“ sagte ich zum Pfarrer und schlug die Mappe auf. Es war die Replikation einer Handschrift aus dem frühen 19. Jahrhundert.
„Ah, das!“ sagte der Pfarrer. „Das ist aus der einzigen ernsthaften Forschungsarbeit über unsere Heiligen – aber der gute Mann, einer der Pfarrer hier, ist damals nicht weit gekommen. Immerhin hat er aus den alten Klosterbeständen einige Dokumente gelesen und abgeschrieben, ehe sie vollends zerfallen sind. Er zitiert hier den Chronisten des Markgrafen Leopold, der als einer der ersten die Reliquien des Heiligen Alexander besucht hat:
'Es war eine große Besorgnis bei der Äbtissin Odile, dass die Reliquien möchten geplündert werden, wie es hiebevor schon an anderen Orten geschehen. Sie hieß darum eine große Zahl ihrer Nonnen das feine Reliquiar umstehen, das sie gebauet. Es war aber in der Menge eine Wittib, die sich mit Näharbeiten durchbrachte. Die litt lang schon an einem solchen Reißen in den Händen, dass sie fürchten musste, alsbald Hungers zu sterben. Es gelang ihr, durch die Menge zu dringen und das Geribb mit der Hand zu berühren, wovon für sie Heilung möchte kommen. Hernach bezeugte sie, dass die Gebeine feucht gewesen, womit hinlänglich bewiesen ward, dass der Leichnam des Heiligen eben die wundertätige Kraft habe wie seine Seele im Jenseits. Habe er doch die lebendige Feuchtigkeit sich erhalten seit dem Tage, da des schändlichen Heidenkaisers Diokletians Verfolgung ihm das Leben genommen und er in den Katakomben zur ewigen Ruhe gebettet worden sei.'“
„Ein Skelett, das tausend Jahre und mehr feucht geblieben ist?“ sagte Daniel verächtlich. „Ich würde eher sagen, dass es...“
„Langsam, mein junger Freund!“ warnte der Pfarrer Döbler. „Die Echtheit dieses Wunders ist dem Kloster von Rom schriftlich bestätigt worden.“
„Na und?“ fragte Daniel.
Ich schaute wortlos zu, wie er langsam die Blätter meines Ordners umwendete. Rechts waren die Faksimiles eingeheftet, links meine Transskriptionen, die das Deutsch aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges leserlich machen sollten. „Suchst du etwas Bestimmtes?“ fragte ich misstrauisch und sah ihm ins Gesicht. Halb Schneewittchen, halb Eidechse, dachte ich.
„Hast du nie etwas darüber gefunden, wer die Frauen waren?“ fragte er. „Wie sie ausgesehen haben, als sie noch – äääh –„
„Im Fleische wandelten“, ergänzte der Pfarrer hilfreich. „Nein, das haben wir nicht. Und wozu sollte man sich für ihr Aussehen interessieren?“
„Weil sie vielleicht Heilige geworden sind, wie heute eine Feministin wird“, sagte Mr. Kojote unbedacht, „weil sie keinen Mann abbekommen haben!“
„Was stellt du dir vor?“ rügte der Pfarrer. „Man wird nicht Heiliger, wie man Schuster oder Arzt wird. Und außerdem sind bei weitem nicht alle Frauen so versessen auf Männer, wie du dir das vorstellst – und auch nicht alle Männer umgekehrt auf Frauen.“
Daniel schaute ihn skeptisch an, aber das war ungerecht. Pfarrer Döbler hält sich strikt an sein Zölibat. Allerdings ist er umso interessierter am Liebesleben anderer Leute – er nennt es das Sakrament der Ehe. Daniel sah wieder hinunter in den Folianten und lachte.
„Ich glaube doch!“ sagte er. Dann begann er mein Transskript vorzulesen. „Die ehrwürdige Mutter Äbtissin [Odile von Therny] bewies ein großes Geschick, adlige Fräulein zum Eintritt in ihren Orden zu bewegen. Durch die Mitgift flossen dem Kloster jährlich vieltausend Dukaten zu.“
'Wie blöd bin ich eigentlich?' dachte ich wütend. Ausgerechnet das, was ich mit vieler Mühe vor dem Pfarrer verborgen gehalten habe, lasse ich diesen Tollpatsch ausgraben. Er achtete nicht auf meine beschwörenden Blicke und las weiter vor.
„Es waren aber nicht alle Fräulein dem geistlichen Stande zugetan, und die ehrwürdige Mutter fand sich gestraft dafür, dass sie eher nach dem Gelde als nach dem Geiste der Schwestern geschauet. Eine vor allen anderen tat sich hervor in Reizen wie auch in Zuchtlosigkeit. Es war die dritte Tochter des Grafen Matthäus von Raven, ein hübsches, dickes Weibsbild von fünfundzwanzig Jahren, das den Klosternamen Schwester Agathe trug. Schwester Agathe betrug sich wie eine rollige Katze und steckte viele andere Schwestern mit ihrer Zuchtlosigkeit an. Sie verursachten in der Stadt ein Skandalon und es ward nötig, sie im Kloster einzusperren. Um nun aber eine Besserung in ihrem Zustande zu bewirken, lockte man allwöchentlich einen Jüngling ins Kloster, wozu die ehrwürdige Mutter die Augen verschlossen hielt. Nicht alle diese kehrten wieder, und vornehmlich dem ersten, dem Sohn des Klostergärtners, seien von den Nonnenkatzen die Lebenssäfte ausgesogen worden. In den folgenden Jahren...“
„Schluss damit!“ unterbrach ihn Pfarrer Döbler wütend. „Sophie – ich hätte gedacht, du bist anders!“
Genau diese Reaktion hatte ich befürchtet und ihm darum nichts von den Dokumenten erzählt.
„Ich dachte, du wärst jemand, der alle Seiten zu ihrem Recht kommen lässt – statt dessen versuchst auch du nur, die Klöster als Sündenpfuhl darzustellen! Ist da irgend ein besonderer Kick dabei – oder warum tut ihr Schwartenbeißer das?“
Wenn Christian Döbler Worte wie „Kick“ oder auch „cool“ verwendet, muss man vorsichtig sein. Dann ist die Explosion nicht weit.
„Tut mit leid, Christian“, sagte ich, „aber leider habe ich darüber fünf validierte Quellen. Es ist nun mal nicht zu leugnen, dass Odile von Therny das Kloster zwar finanziell nach oben, moralisch aber ziemlich heruntergebracht hatte.“
„Genial!“ fand Daniel. „Da hat sie also ihre abgelegten Liebhaber recycelt.“
Pfarrer Döbler und ich traten beide einen Schritt zurück. „Wie meinst du das?“ fragte der Pfarrer.
„Na, das liegt doch auf der Hand!“ sagte Daniel. „Bringt er's nicht mehr, wird er – schwupps! – präpariert und bringt wieder was, nämlich Kohle. Würde mich nicht wundern, wenn die heiligen Mädchen in Wirklichkeit Schwanzmädchen wären.“
„Bitt-tte!“ knirschte ich zwischen den Zähnen hervor. „Mäßige deine Sprache. Und außerdem liegt das ganz und gar nicht auf der Hand. Das wäre ja Mord!“ Aber im Stillen begann ich schon nachzurechnen, bekannte Daten unbekannten gegenüberzustellen und fand, dass ich die Theorie nicht widerlegen konnte. Beweisen konnte man sie freilich auch nicht.
Pfarrer Döbler wirkte so erschüttert, dass es anscheinend sogar Daniel merkte, so dickhäutig er auch zu sein schien.
„Also, ich geh´ dann mal“, verkündete er. Wir hörten die Haustür zufallen und sahen, wie er vor dem Haus zu seinem kleinen, ziemlich rostigen MG ging. Er schlenderte mehrmals um mein Auto herum, das ich dummerweise nicht hinter das Haus gefahren hatte, prüfte den Schwerbehindertenausweis im Fenster und den Umbau auf Handsteuerung. Ich meinte von seinen Lippen abzulesen: „Jetzt fährt so’n Spasti auch noch S-Klasse“, dann war er verschwunden.
„Ob er wohl recht hat?“ fragte der Pfarrer nach einer längeren Pause.
„So ist das also!“ sagte ich. „Ihm glaubst du, mir nicht?“
„Ich glaube dir“, sagte er, „aber ich wünschte, du hättest die Sache auf sich beruhen lassen.“
„Ich bin Wissenschaftler“, sagte ich, „ich kann nicht einfach Tatsachen unterschlagen, bloß weil sie mein Schamgefühl verletzen oder mir nicht in den Kram passen.“
„Ja, aber - was wird jetzt aus diesem Ort?“ fragte er hilflos.
„Was soll sich schon ändern? Ich schreibe schließlich bloß eine Fachmonographie, keinen Artikel für die Bildzeitung. Angebliche Heilige entlarvt, oder so ähnlich. Bis sich auch nur der Text in den Reiseführern ändert, werden Jahre vergehen.“
„Wenn du meinst...“
„Viel wichtiger ist“, sagte ich energisch, „was will der 'Hungrige Kojote'? Was hat er vor?“
„Ach, Sophie“, sagte der Pfarrer traurig, „kannst du es denn nicht akzeptieren, wenn ein Mann sich um dich bemüht? Um den würden dich viele beneiden.“ Sein Blick glitt zu dem Blumenstrauß auf dem Fensterbrett.
„Unsinn“, sagte ich und imitierte: “Wollen Sie etwa behaupten, das sei ein Mädchen?“
„Du darfst eben nicht so spröde sein! Lass dich doch zum Essen ausführen oder...“
„Danke, Tante Christian“, sagte ich giftig. „Du meinst, ich soll ihn ausführen! Der Kerl ist absolut pleite, das ist einmal klar. Und er wittert das Geld anderer Leute wie ein Trüffelschwein. Erst dachte ich, er ist auf das Edelmetall auf unseren Heiligen aus, aber jetzt, wo er mein Auto gesehen hat, meine ich eher, er versucht sich als Gigolo zu verdingen. Wenn er sich damit mal nicht übernimmt!“
„Wenn dieses Ding hier nicht wäre“, sagte Christian wütend und griff nach seinem Priesterkragen, „dann hätte ich dir längst bewiesen, wie leicht das zu schaffen ist – du Kratzbürste!“
Und damit stürmte er aus dem Raum. Überrascht sah ich ihm hinterher – er hatte mich völlig falsch verstanden! Ich ließ meine Krücken los und sank zwischen den Manuskripten auf den Boden. So ein Mist! Mir war nach Weinen zumute, aber das hatte ich mir vor Jahren schon abgewöhnt, zusammen mit den obsessiven Gedanken meiner Mädchenzeit, ob es mir wohl gelingen würde, trotz meiner sichtbaren spastischen Lähmung einen Freund zu finden. Es war wirklich besser so.
In der Nacht träumte ich von Daniel. Ein nackter Männerkörper, ganz weiß, wie unsere Skelette in den Vitrinen. Lohnpfändung, eine ungeheizte Sozialwohnung mit abblätternden Tapeten, Nudeln mit billiger Margarine und ein stummes Telefon. Ein großes, weißes Skelett, prachtvoll ausgestattet mit teurer Radsportkleidung, mit Helm, Sonnenbrille, Trikot, Handschuhen, und ich überlegte im Traum, ob unseren Besuchern der neueste Heilige wohl zusagen würde. Ich träumte auch von meinem ehemaligen Schulkameraden Stefan, dessen Eltern wohl das gewesen waren, was man als „sozial schwach“ bezeichnet, und von seiner Gier nach Statussymbolen. In meinem Traum waren er und Daniel ein und die selbe Person.
Stefan hatte ein großes Talent bewiesen, für einen eigenen Gewinn von fünfzig Mark anderen Leuten Tausende an Schaden zuzufügen. So etwa, als er sich mit Gartenarbeit ein Taschengeld verdient und dabei mit dem Unkrautvernichtungsmittel die Orchideenzucht in Nachbars Glashaus, das an dem warmen Tag offen stand, besprüht hatte. Natürlich hatten Stefans Eltern keine Haftpflichtversicherung, natürlich war bei ihnen nichts zu holen, und der unglückliche Orchideenzüchter blieb auf seinem Schaden sitzen. Vielleicht tat ich Daniel ja unrecht, weil er mich so extrem an Stefan erinnerte – einschließlich der Tatsache, dass das Markenlabel auf seinem Fahrradtrikot nachträglich aufgenäht worden war. So war das bei Stefan auch gewesen: Sieben Polohemden, aber nur ein Krokodil für alle. Immer dieser Versuch, mit geringsten Kosten den großen Macker zu markieren .
Beide paradierten sie mit ihrem Körper vor mir herum und schienen zu sagen: Schau mal, was ich habe und was du nicht hast, auch wenn ich ein armer Niemand mit einer alten Rostlaube bin und du ein Luxuscoupe fährst. Und es spielt gar keine Rolle, dass du immer Einser und Zweier hast und ich jedes Jahr nur knapp die Versetzung schaffe. Dein Vater steckt dir so viel Geld in den Hintern, dass es dir schon zu den Ohren rauskommt, aber einen Mann kann er dir dafür doch nicht kaufen.
Das war es nämlich, was mein armer, irregeleiteter Papa damals versucht hatte, was mir den schlimmsten Moment meines Lebens und Stefan den wahrscheinlich größten Triumph des seinen beschert hatte. Seitdem redete ich nicht mehr über meine Gefühle, seitdem hielt Papa sich an Luxusgüter wie Prada-Rucksäcke und Trainingsanzüge von Ralph Lauren und sponserte darüber hinaus die „Zell-im-Taler Forschungen“. Sein letzter Coup, das schwarze SLK-Cabriolet, zog besonders die Aufmerksamkeit auf sich, weil es nicht eben das typische Behindertenfahrzeug war.
Es gab natürlich einen Unterschied: Während mich Stefan damals einmal geküsst und danach gesagt hatte: „Dein Vater will mir das Studium bezahlen, wenn ich mit dir gehe, aber ich bring’s einfach nicht“, schien Daniel zu sagen: „Sonderangebot, Sonderangebot! Schau mal, was ich für dich habe. Willst du nicht den Preis wissen?“ Nein, den Preis wollte ich nicht wissen. Ich habe in meinen Zimmern zwar nur ein kleines Stückchen Spiegel, aber ich weiß auch ohne Spiegel, wie verkrümmt und mager mein Körper ist. Mein Skelett taugt nicht einmal für die Vitrine.
Ich wachte mit entzündeten Augen und schmerzenden Muskeln auf. Und als ich am Frühstückstisch versuchte, mich für die heutige Besucherinvasion mit schwarzem Kaffee zu stärken, bemerkte ich, dass mir der Pfarrer eine grellrote Haftnotiz auf die Zeitung geklebt hatte, damit ich auch ja den Artikel nicht übersah: „Die Entlarvung der Heiligen“.
Ich knallte meinen Kaffeebecher auf die Unterlage. So also, zahlten diese Käseblättchen tatsächlich etwas für derlei Geschichten? Das hätte ich nicht gedacht. Wie viel hatte Daniel wohl dafür bekommen, zehn Euro? Wutschnaubend las ich die beiden Spalten durch. Zwar war nichts bewiesen, aber man konnte auch nichts dementieren, und wer weiß, was der Pfarrer den Besuchern erzählen würde, wenn ich ihn nicht vorher instruierte. Ich ließ das Frühstücksgeschirr stehen, griff nach meinen Krücken, und so sehr ich mich auch auf meine stärkere linke Seite zu stützen versuchte – heute schienen mich beide Beine nicht zu tragen. Ich öffnete die Seitentür der Kirche. Wo war der Pfarrer? Es waren schon etliche Besucher da, und unter ihnen befand sich auch Kojote Daniel in seinen unanständigen Fahrradhosen, der sich suchend umsah. Ich schlüpfte hinter eine Säule, aber von „schlüpfen“ kann bei mir selbstverständlich keine Rede sein: Er bemerkte mich sofort.
Die metallenen Adapter unter seinen Schuhen machten auf dem steinernen Boden einen entsetzlichen Lärm, als er quer durch das Hauptschiff auf mich zuging. Die Besucher starrten uns an. Als Daniel vor mir stand, zog er ein gefaltetes Zeitungsblatt aus der Tasche. „Sophie“, sagte er, „ich muss dir das hier wohl erklären.“
„Ach was, nicht nötig“, sagte ich ziemlich laut. „Du solltest bloß nicht alles auf einmal ausgeben.“ Mein erster Satz des heutigen Tages war ein Volltreffer, klar und deutlich. Ich besaß die Aufmerksamkeit der gesamten Kirche, als ob ich auf der Kanzel stünde.
„Nun komm schon, Süße – so war das doch gar nicht. Es braucht auch nicht jeder mitzuhören.“ Damit packte er mich am Arm, zog und schleppte mich eine Treppe hinunter, die Treppe in die Krypta, und lehnte mich dort unten gegen die Wand. Meine Krücken waren oben geblieben, so dass ich später auf allen Vieren die Treppe würde hochkriechen müssen.
„Und jetzt“, sagte Daniel, „jetzt kommst du hinter deinen Goldlöckchen hervor und hörst mir zur Abwechslung einmal zu, statt alles besser zu wissen!“
Ich schob mir die gelben Korkenzieher aus dem Gesicht und sagte: „Du brauchst dich nicht zu verteidigen. Schließlich habe ich dich nicht gebeten, nichts zu erzählen – ich hatte gar nicht daran gedacht. Jeder muss schließlich sehen, wie er zu etwas kommt!“
„Du denkst, ich hätte deine Story versilbert, was?“ sagte Daniel. Wütend, wie er war, sah er ziemlich furchterregend aus. „Ihr reichen Pinkel riecht einen armen Hund zehn Meter gegen den Wind, das merke ich schon, aber ich habe deine Geschichte nicht vertickt, ist das klar? Ich wusste nicht mal, dass meine Schwägerin seit neuestem für dieses Käseblättchen schreibt. Ich hab nur ein bisschen erzählt, so in der Familie, aber ich habe echt nicht erwartet, dass das hier passiert! Du scheinst ja eine tolle Meinung von mir zu haben, wirklich!“
„Geht so“, sagte ich schnippisch. „Ich denke nur, du würdest für Geld eine Menge tun. Mir ist es viel lieber, du verkaufst meine Forschungsergebnisse an diese Pseudozeitung, als dass du dem Pfarrer so zusetzt, wie du es getan hast – er hat schon angefangen, am Hochzeitsgottesdienst zu schreiben, stell dir vor!“
Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen.
Ich hatte immer geglaubt, dass die Leute nur in Büchern mit den Zähnen knirschen, aber Daniel tat es auch – und zwar hörbar. „So, Mädel, so!“ knurrte er. „Nach alledem bin ich also auch eine Art Nutte, was? Ein Heiratsschwindler? Nein, nur ein bisschen hinter deinem Geld her. Vielleicht hab ich ja Schulden, die du bezahlen könntest? Und an dir ist sonst nichts dran, was mich interessieren könnte? Ich will dir mal was zeigen!“ Damit griff er nach mir, heftete mich mit einer Hand gegen die Wand und schob die andere unter meinen Pullover. Dass um uns herum alles voller Grabplatten war, schien er nicht zu registrieren.
„Aha, du hast ja richtig geile Titten!“ sagte er grob. Seine Hand war noch gröber als seine Sprache, es tat weh, aber reflexartig richteten sich meine Brustwarzen auf. Ungefähr wie bei der Krebsvorsorge. Der Kaffee stieg in meine Kehle, ich schluckte ihn wieder herunter.
„Das gefällt dir wohl, wie? Ich hab noch mehr für dich!“ Seine Hand hatte keine Schwierigkeit mit dem Gummibund meiner Jogginghose. Eine solide, enge Jeans wäre jetzt besser gewesen, aber mit festen Verschlüssen komme ich nun einmal nicht zurecht. „So eine hübsche flauschige Muschi!“ sagte er mir ins Ohr. Von seiner Hand ging eine glühende Hitze aus. Ich war zwischen zwei Wänden eingekeilt, eine kalt und uneben, die andere warm und elastisch. Er presste sich wütend gegen mich, und seine Erektion war so hart, dass ich im ersten Augenblick glaubte, er hätte einen Gegenstand in der Tasche, vielleicht einen Schraubenschlüssel.
Einen Moment lang war ich fast versucht, ihn einfach gewähren zu lassen. Dann raffte ich alle meine Kräfte zusammen, stemmte mich von der Wand weg und stützte mich sofort auf die linke Seite. Mit Mühe und Not blieb ich stehen, als Daniel einen Schritt zurücktrat. Er kam wieder auf mich zu, ich warf mich zur Seite, es war mir egal, ob ich hinfiel oder nicht. Er packte mich noch im Fallen, riss mich hoch, rutschte auf seinen metallenen Sohlen aus und prallte heftig gegen die Wand der Krypta. Das musste weh getan haben!
Klack.
Ungläubig drehte ich mich um und schaute das Loch in der Wand an.
Noch ein klackendes Geräusch, und dann stürzte polternd ein großes Stück der Wand ein. Ich hatte nichts von dieser dünnen Ziegelmauer gewusst, hatte immer geglaubt, die Krypta sei aus massivem Stein. Als der Staub sich setzte, drang graues Licht in eine Art Rumpelkammer. Ich kroch durch das Loch und hielt mich an der Wand fest.
Da war eine Feuerstelle mit einem Kamin, der früher wohl nördlich der Apsis ins Freie gegangen, jetzt aber zugeschüttet war. Da war auch ein Arbeitstisch, auf dem ungeordnet, aber unverkennbar das vollständige Gebein eines Menschen lag, neben allerhand Stahlstiften, die wohl zur Montage des Skelettes dienen sollten. Die Vorräte zur Bekleidung des neuen Heiligen waren noch mager. Ein paar rostige Nähnadeln, ein paar Stickereiperlen. Der Seidensamt war durch die ungünstigen Bedingungen so brüchig geworden, dass er zerfiel, als ich ihn berührte. Ganz anders dagegen der grobe, ungebleichte Leinenkittel, der in einer Ecke lag, mit Bändern anstelle von Knöpfen, und eine schmutzige dreiteilige Hose.
Ich entfaltete die Sachen. Die Kleidung des Bauernburschen war noch so gut in Schuss, dass er sie gleich wieder hätte anziehen können. Vorausgesetzt, er hätte noch eine Verwendung dafür.
„Christian“, sagte ich schwach zum Pfarrer, als ich ihn in der Menschenmenge an der Öffnung bemerkte, „da wird wohl eine Totenfeier nötig sein – oder wie du das nennst.“
Auch aus archäologischer Sicht gab es jetzt viel zu tun. Und wo war Daniel? Wie hatte er es geschafft, sich so unauffällig zu verdrücken? Gut, dass er weg ist, dachte ich, sonst wäre gewiss irgend etwas Garstiges passiert. Er hätte zum Beispiel gefragt: „Wohin damit – auf den Friedhof oder ins Museum?“ Oder ich wäre doch mit ihm im Bett gelandet. Und ich wette, beides hätte Pfarrer Döbler nicht sonderlich gefallen, zumindest nicht ohne Eheschließung. Soviel ist klar.
Einige Monate später machte ich Daniel ausfindig. Das war nicht schwer, wusste ich doch, dass seine Schwägerin jenen Artikel zu Mariä Himmelfahrt geschrieben hatte. Ich brauchte schließlich seinen Namen für die Danksagung in meiner Biographie der Odile von Therny.
„Daniel Richter danke ich für die hilfreichen Diskussionen und Ideen sowie für seine tatkräftige Unterstützung, die es mir überhaupt erst möglich machte, das endgültige Geheimnis der Heiligen von Zell-im-Tal aufzuklären.“
Ich schickte ihm ein Exemplar des Buches. Das wird er halt schlucken müssen, dachte ich hämisch.