Die Heimfahrt
Als M. aus dem Fenster schaute, sah sie die Porta Nigra. Bei der nächsten Haltestelle musste sie raus. Sie drückte den Knopf und wandte sich der Sitznachbarin zu, um mit einem Lächeln zu signalisieren, daß sie vorbei möchte. Es war ihr jedoch nicht möglich, Blickkontakt aufzubauen. Das Gesicht war auf der ihr zugewandten Seite von einer Straehne schwarzen Haares verdeckt.
Sie möchte den seidenen Vorhang beiseite Schieben, doch stellt erstaunt fest, daß sie ihren rechten Arm nicht bewegen kann. Ein Blick über die Schulter hinab enthüllt den Grund: die Frau sitzt auf ihrer Hand. Wie merkwürdig, daß ihr das nicht vorher aufgefallen war. Jetzt aber, da sie es weiß, wird sie sich auch des Schmerzes bewusst - die Sitzbeine der Nachbarin bohren sich mit einer Kraft in ihren Handteller, die die schlanke Statur der jungen Dame nicht vermuten ließe. Ihre Hand ist wie festgenagelt: jeder Versuch, sie unter dem Po hervorzuziehen, sind vergebens. Die Hand ist schon ganz warm.
Ihr Gegenüber scheint davon nichts zu bemerken. Im Gegenteil, sie rutscht mit ihrem Gesäß gemächlich etwas hin und her, als ob es so richtig gemütlich wäre.
M. musste die Zähne fest zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien, als ihre Hand unter den Beckenknochen regelrecht gemahlen wird. Sie sieht sich schnell im Bus um, aus Angst, jemand könnte die peinliche Situation beobachten. Erleichtert stellt sie fest, daß der Bus außer ihr und der jungen Frau vollkommen leer ist. Das gibt ihr die Möglichkeit, erstmal so zu
tun, als sei nichts geschehen und zu überlegen, wie sie sich aus dieser Situation befreien kann.
Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie ihr die Frau den Kopf zuwendet, also dreht sie sich schnell zum Fenster. Sie rauschen gerade an ihrer Haltestelle vorbei. M. versucht, trotzdem möglichst gelassen nach draußen zu schauen, als sie auf einmal das Gesicht ihrer Nachbarin bemerkt, daß sich in den dunklen Abendschatten in der Scheibe spiegelt.
Es gefällt M., es strahlt Stärke aus: kräftiges Kinn, breite, scharfe Wangenknochen, hohe Stirn. Es erinnert sie an ihre Stiefmutter, auch weil es sehr jung ist: die Frau ist garantiert noch keine Dreißig, denn M. ist recht gut im schätzen solcher Dinge. überrascht stellt sie fest, daß die Frau den Blick erwidert. Sie lächelt. Nur leicht, aber deutlich; und nicht freundlich, sondern selbstsicher; siegesgewiß. M. ist verzweifelt, sie ist jetzt kurz davor, zu weinen. Sie versucht verzweifelt, sich zusammenzureißen, denn diese Demütigung könnte sie nicht ertragen. Aber es ist schwer.
Wie kann sie dieser Frau entkommen? Die Frau wendet sich wieder ab. In der Scheibe sieht M., wie ihre Widersacherin langsam den Kopf in den Nacken legt und sich mit den Fingern der linken Hand die Haare nach hinten kämmt. Eine Flutwelle herben Parfums überrollt M., und sie fühlt sich benebelt. Ihre Nachbarin rutscht wieder etwas hin und her. Es tut weh, und M. könnte schwören, daß die Frau dabei ihren Po anspannt -sie kann es fühlen. Die Frau hört gar nicht mehr auf zu rutschen, und M. laufen jetzt die Tränen.
Die Frau lässt die Haare fallen und dreht M. wieder das Gesicht zu. Sie lächelt jetzt breit. Als sie die Tränen sieht, macht sie kurz einen mitleidiges Gesicht, und grinst dann um so breiter.
M. glüht innerlich vor verzweifelter Wut. Sie kann dem Blick der Frau nicht standhalten; sie sieht weg. Die Tränen laufen jetzt rasch. Sie guckt nach vorne, ob der Fahrer denn nichts bemerkt. Der Bus fährt sehr schnell. Auf der Haltestellenanzeige steht "Dienstfahrt". Hat der Fahrer den nicht bemerkt, dass noch jemand an Bord ist? Der Bus bremst auch kaum in den Kurven, und M. wird rutscht in ihre Ecke hin und her.
Die Hand ist jetzt sehr heiß. Die Frau hat wieder begonnen zu mahlen. Fester noch als zuvor, mit schwungvollem Rhytmus. Der Schmerz wird unerträglich. Die Hand muss bluten, den M. fühlt eine heiße Flüssigkeit über ihr Handgelenk laufen. Verzweifelt versucht sie, sich zu befreien, aber jede Bewegung des Armes verstärkt die Qual.
M. fühlt, wie sie eine Hand an den Haaren packt und sie zwingt, aufzusehen. Das Gesicht der Frau ist jetzt ganz nah, und der Triumph unverhohlen. "Du bist also die kleine M.", sagt die Frau, "ich hoffe wir werden uns gut verstehen. Wir werden uns ab jetzt ja öfter sehen." Der Blick der Frau breitet sich in ihr aus wie langsames Gift, und der Schmerz wird unerträglich.
Schließlich öffnet M. den Mund und schreit auf. Das Gewicht auf ihrer Hand verschwand. Sie zog sie langsam weg. Der Bus bremste sehr stark, und M. rutschte vom Sitz.
Der Busfahrer stand im Gang und fragte, warum sie denn nicht schon früher etwas gesagt hätte. M. rappelte sich auf und lief mit schamrotem, feuchten Gesicht aus dem Bus.