Die Herzen der Madame Juliette
„La Cuisine de Paul“, hieß ein kleines Restaurant in der Provence. Es lag in einem winzigen, idyllischen Dorf, das noch nicht vom Ansturm der Touristen überrannt worden war. Doch jedes Jahr im Juli, kurz nach Beginn der Sommerferien, fand in der Ortschaft ein großes Fest statt. Ein Klassentreffen der besonderen Art – die Nachkriegskinder der Gegend begingen ihr alljährliches Stelldichein.
Und jedes Jahr, wie der unwiderrufliche Wechsel der Jahreszeiten, reisten sie aus allen Ecken Frankreich an. Viele von ihnen hatten noch Familienangehörige im Dorf, andere wiederum pilgerten hierher, um Erinnerungen an ihre Jugendzeit wachzuhalten.
Wenn dann abends, alle im Restaurant versammelt waren und draußen der Wind über die sanfte Hügellandschaft wehte und den Duft des Lavendels in die Häuser brachte, dann begann die Zeit der Geschichtenerzähler.
Obwohl jeder sich mit einer Geschichte beteiligte, wussten alle im Voraus, dass keiner so gut erzählen konnte wie der lange Gaston. Aus diesem Grunde saß er auch am Kopf des Tisches, so, dass alle ihn gut hören konnten.
„Nun meine Freunde“, begann Gaston seine Erzählung „diesmal werde ich ihnen eine komische Geschichte erzählen. Ob sich dahinter eine gewisse Ironie versteckt - dass meine Freunde, überlasse ich ihnen.“
Der Gastwirt füllte schnell das Glas des Gendarmen nach, ohne jedoch seinen Blick von ihm abzuwenden.
„Ihnen ist sicher nicht entgangen, dass ich inzwischen in Montignac stationiert bin. Jedoch könnt ihr nicht wissen, dass in Montignac der Wochenmarkt am Sonntag ist.“
„Am Sonntag?“ ging es durch die Runde. “Komischer Tag für einen Wochenmarkt?“
„Genau - und genau an einem solchen Tag, spielte sich diese sonderbare Geschichte ab. - Es war kurz vor Mittag, wir saßen alle beisammen in der Hinterstube der Wache, als jemand das Büro betrat. Es war der Fischhändler. Er hatte beim Aufräumen seines Standes eine schwarze Einkaufstasche gefunden. Ich sah ihm aufmerksam zu, wie er sie behutsam vor mir auf die Theke abstellte, so, als verberge sie etwas Kostbares ... oder ... vielmehr etwas Zerbrechliches. Der Mann war sehr aufgeregt, so, als habe er etwas Schreckliches gesehen. Auch was er mir sagte, schien mir anfangs unbegreiflich“. Dann geriet der Erzähler leicht ins Stocken.
„Na los, Gaston, was sagte der Fischfritze?“ drängte man ihn.
„Er sagte zu mir: Gendarm, ich übergebe Ihnen hiermit diese Tasche und möchte vorab nichts mehr damit zu tun haben und er fügte hinzu, auch verzichte ich freiwillig auf einen eventuellen Finderlohn und wollte gleich wieder abhauen.“
„Was war denn in der Tasche?“ rief ein dicker Kerl mit rundem rötlichem Gesicht am anderen Ende des Tisches.
„Nun ja, neben dem üblichen Krimskrams, den Frauen mit sich schleppen, befand sich in der Tasche ein ziemlich großes Gefäß aus Glas ... ein ... Gurkenglas. Es war randvoll mit einer übelriechenden Flüssigkeit gefüllt. In dieser trüben Suppe schwamm ...“, nun hielt der Brigadier ein. Diese ungewollte Pause lockte mehrere Zuhörer zur unvermeidlichen Frage an:
„Was war ihm Pokal ... nun sag schon?“
Der Erzähler sah sich in der Runde um und erklärte ihnen mit bedächtiger Stimme: „Es war ein Organ ... das sowohl ein Mensch, als auch ein Tier besitzt und ohne dies das Leben unmöglich wäre.“
Die Männer und Frauen, die am Tisch saßen, sahen sich alle an. Jeder wusste, was er meinte, doch keiner traute sich, es auszusprechen.
„Nun liebe Freunde, ich weiß sehr wohl, dass alle wissen, welches Organ ich meine. Ich muss ihnen aber ehrlich gestehen, dass auch ich leicht schockiert war, als ich es sah. Aber es bestand kein Zweifel, es hatte die Form und die Größe ... eines menschlichen Herzens.“
Nun griff der Wirt erneut zu der Flasche, doch diesmal trank er selbst einen großen Schluck daraus. Und der Brigadier fuhr fort:
„Nun werden Sie sich sicher fragen, wie kam das Herz in das Gurkenglas und vor allem wem gehörte diese Tasche. Aber ich kann Sie beruhigen, liebe Freunde, noch am gleichen Tag erschien ein altes Mütterchen auf der Wache. Sie erklärte, dass sie ihre Handtasche auf dem Markt verloren hätte. Sie war schon recht alt und die wenigen Haare, die ihr Haupt noch zierten, waren schneeweiß.
Die Nachbarn nannten sie liebevoll Madame Juliette.“
Alle glaubten nun das Ende der Geschichte vorauszuahnen, doch noch blieb die Frage offen, wem wohl das Herz gehörte, das die alte Dame mit sich herumführte.
Der Erzähler fuhr fort:
„Als ich nun die alte Dame nach Hause begleitete und ihre Wohnung betrat, da grauste es mich.“
Totenstille brach plötzlich im Saal aus.
„Die alte Frau wohnte in einem kleinen Haus am Rande der Stadt. Sie lebte seit vielen Jahren allein. Nur eine Katze teilte die karge Wohnung mit ihr. Aber was mich beunruhigte und vor allem erschreckte waren die anderen Tiere.“
„Die anderen Tiere? “ wiederholte jemand in der Runde.
„Genau“, meinte der Gendarm, „denn es waren noch andere Tiere da.“
„Aber Gaston, du sagtest doch, sie lebte allein in dem Haus mit ihrer Katze“, berichtigte ihn ein Tischgenosse.
„Das stimmt auch“, erwiderte der Gendarm „ denn die anderen Tiere ... sie waren tot ... ausgestopft, fachmännisch ausgestopft. Ihr werdet jetzt behaupten, ich hätte Angst vor ausgestopften Tieren, nein ... das nicht. Aber wenn ich Ihnen verrate, dass diese Tiere Haustiere waren ... gewöhnliche Haustiere ... da waren ein Dackel, ein Schäferhund und mehrere Katzen, die mich mit ihren weit aufgerissenen Augen anstarrten. Zu dem, standen auf einem Holzbrett an der Wand kleine Gefäße, in welchen sie die Herzen der toten Haustiere aufbewahrte.“
„Die Frau ist verrückt“, meinte der Wirt, dem die Geschichte unheimlich vorkam und bereits ein weiteres Glas Rotwein hinunter kippte.
„Auf keinen Fall Paul“, meinte der Brigadier, „ die alte Dame erklärte mir, dass die Tiere sie überaus liebten. Sie war überzeugt davon, dass diese Liebe nur vom Herzen kommen konnte. Und aus diesem Grunde bat sie den Tierarzt, ihr die Herzen der verstorbenen Tiere zu überlassen.“
Während alle noch über diese eigenartige Frau nachgrübelten, ging die Geschichte weiter:
“Vor etwa zwei Jahren verlor die alte Dame ihren Mann. Nun war sie ganz allein und fühlte sich sehr einsam. Ihr Hausarzt riet ihr, in ein Altersheim zu gehen. Aber sie wollte im Hause bleiben und bat dem Arzt zu seinem Erstaunen, er solle ihr das Herz ihres Mannes überlassen. Die Frau bestand so sehr darauf, dass er zu guter Letzt ihrem Wunsch nachkam.“
„Das glaub ich nicht, man kann doch so etwas nicht verlangen, das ist doch unmenschlich, das grenzt an Leichenschändung!“, schrie jemand in den Raum.
„Das ist richtig“, berichtigte der Brigadier, „darum wandte ich mich vorerst an ihren Hausarzt. Dieser erinnerte sich noch sehr gut an die alte Dame. Er erzählte mir, dass er ihr diese verrückte Idee ausreden wollte. Aber die Frau beharrte darauf, sie drängte ihn förmlich und machte ihn regelrecht verrückt. Der Arzt wusste sich keinen Rat mehr. In seiner Verzweiflung rief er den Tierarzt an, der ein guter Freund von ihm war.“
„Da kam ihnen der Zufall zu Hilfe“, bekannte der Erzähler, „denn an jenem Abend wurde der Tierarzt in die Stadt, in den Wildpark gerufen. Dort lag nämlich ein alter Gorilla am Sterben.“
Es war das erste Mal, dass sich auf den versteinerten Gesichtszügen der Zuhörer ein kleines, aber verständnisvolles Lächeln breit machte.
„Madame Juliette starb vor drei Monaten an Alters- schwäche. Sie war sehr klein geworden und nahm nicht viel Platz im Sarg ein – doch die so lieb gewonnenen Herzen, die nahm sie mit ins Grab“, beendete Gaston seine Geschichte.