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Die Insel

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14.10.2005
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Die Insel

Ein gottloser Ort. Diese Vermutung erhärtet sich mehr und mehr mit jedem Ruderschlag, mit dem ich der Insel näher gebracht werde. Der dichte Nebel lichtet sich an manchen Stellen und gibt den Blick auf eine Kirche frei, die in dieser Umgebung unwirklich, gar feindselig erscheint. Das kleine Fischerdorf im Tal darunter ist nur spärlich zu erkennen. Nur einzelne Lichtpunkte der Öllampen durchdringen die Nebelwand bis hin zu uns. Der Ruderer kämpft gegen die starken Wellen an. Ein komischer Mensch.

Der trübe Schein meiner Laterne streift immer wieder sein verschlossenes Gesicht, ich erkenne eine hässliche Narbe an seiner Wange. Welche harte und zermürbende Lebensgeschichte wohl hinter diesem unnahbaren Menschen steckt? Ich beobachte ihn, während er sich weiter schweigend durch die klatschende Gischt arbeitet. Ich verkrieche mich noch tiefer in meinen Mantel, als könnte ich mein wachsendes Unbehagen dadurch abschirmen. Ich versuche meine Gedanken zu sortieren. Der Brief, der mich vor vier Tagen erreichte, hatte mich sehr verwirrt. Ich war zunächst freudig überrascht, nach so langer Zeit von Sir Tenisson zu lesen, wir hatten uns über die Jahre leider aus den Augen verloren. Aber zwischen den Zeilen der freundlichen Einladung, ihn doch über die Feiertage zu besuchen las ich mehr, als nur den Wunsch, eine fast vergessene Freundschaft wieder zu beleben und in alten Erinnerungen zu schwelgen. Die Worte waren hastig aufs Papier geworfen, ganz ohne Muse, fast wie angetrieben von Angst. Die Aufforderung, ihn doch sehr bald aufzusuchen, wirkte wie ein Hilferuf, mehr noch, wie ein Hilfeschrei. Tausend Gedanken schießen mir den Kopf, ich stelle Vermutungen an, erfinde zahllose Nöte, in denen mein Freund stecken könnte. Ein dumpfer Ruf reißt mich aus meinen Sorgen. „Wer da?“. Mit suchendem Blick kann ich endlich durch den Nebel den dunklen Umriss eines Mannes erkennen. Er steht am Bootssteg des Fischerdorfes, das wir inzwischen beinahe erreicht haben. Nach wenigen Minuten legen wir an. Unbeholfen klettere ich aus dem schwankenden Boot, der Ruderer unterhält sich indes mit gesenkter Stimme mit dem Nachtwächter, der mich verstohlen von der Seite anblickt. Ich bedanke mich beim Ruderer, gebe ihm die ausgemachte Geldsumme und stolpere den steinigen unheimlichen Weg zum Dorf entlang.

Verflucht, ich hätte mich wärmer anziehen sollen, der kalte Wind peitscht mir unbarmherzig ins Gesicht. Ich kann mich des Eindrucks nicht verwehren, beobachtet zu werden. In der Manteltasche in die sich meine Hände schutzsuchend tiefer graben, erspüre ich den von mir zerdrückten Brief Sir Tenissons. Immer und immer wieder hab ich ihn mir auf meiner Reise durchgelesen. Und doch stört mich etwas daran. Sir Tenisson ist nicht die Art Mensch, der sich leicht aus der Ruhe bringen lässt. Er ist an sich ein feiner Kerl, ich sehe ihn ungern in Schwierigkeiten. Was kann es sein das ihm so eine Angst einjagt. Nun gut, ich bin ja fast da und werde es schon noch erfahren. Vorerst gewinnen die Gedanken an eine warme Unterkunft. Ah, da ist es. Der massive Türgriff bedarf einiger Kraftanstrengung um überhaupt bewegt zu werden. Langsam wird die Tür von innen geöffnet. Ein langer dunkler Gang breitet sich vor mir aus.„Guten Abend, Sie werden erwartet. Bitte folgen sie mir.“ Die kleine dürre Person hätte ich beinahe übersehen, nicht sehr verwunderlich, da nur ihr silbergraues Haar, streng nach hinten gebunden, sich von der Schwärze des Ganges abgrenzt.

An den nackten Wänden hängen Fackeln, Teerfackeln, die gusseisernen Verankerungen sind fest im groben Mauerwerk verwurzelt. Dieser Geruch ist das erste, das ich wahrnehme. Schwer. Süßlich. Rauchig. Teerfackeln, denke ich, und unterdrücke ein verächtliches, aber auch leicht nervöses Lachen, während mein Blick weiter den langen Gang hinunterschweift und sich schließlich im schier endlosen Dunkel verliert.

Gottlos? Unwirklich? Langsam gewinne ich den Eindruck ins Mittelalter zurückversetzt worden zu sein. Heute morgen war ich noch in London, und ehe ich mich versah fand ich mich auf diesem mysteriösen Ruderboot wieder- Sir Tenisson hatte immer schon einen Hang zum Dramatischen, aber ein altes Schloss, ohne elektrischen Strom an der rauen Ostküste Schottlands, noch dazu nurper Boot zu erreichen- so einen ausgefallenen Wohnsitz hätte ich selbst ihm nicht zugetraut. "Kommen Sie" reißt mich die dünne Stimme der Alten aus meinen Gedanken. Ich folge ihr den finsteren Gang entlang, vorbei an den feuchten, mit Moos bewachsenen Wänden, die im diffusen Licht der Fackeln seltsam schimmern und frage mich, wer wohl älter sein mag, dieses alte, verfallene Haus, oder die kleine, faltige Dame, die mir mit schnellem Schritt den Weg weist. Doch schon im nächsten Moment schäme ich mich für diesen Gedanken, macht die Alte alles in allem doch einen respektablen, höflichen und ehrlichen Eindruck auf mich. Auf jeden Fall passt sie besser
hierher als ich in meinem viel zu dünnen Mantel, dem leuchtend roten Kostüm und meinen neusten Manolo Blahniks, denen das schottische Wetter schon gewaltig zugesetzt hat. Was sie wohl über mich denken mag, frage ich mich, während sich die Hand in meiner Manteltasche enger um den zerknitterten Brief schließt, und meine eigene Besorgnis schlagartig zurückkehrt. Plötzlich taucht aus dem düsteren Nichts des Ganges eine weitere Tür auf.

“Das Diner ist serviert”, teilt mir die alte Dame mit, während sie die schwere Tür des Esszimmers mit erkennbarer Anstrengung langsam öffnet. Der Raum, der sich mir dahinter erschließt, ist gewaltig: An der einen Wand hängen teure Wandteppiche, eigentlich nicht mein Geschmack, aber Sir Tenisson hängt anscheinend immer noch sehr an ihnen. Auf der anderen Seite des Raumes kann man durch riesige Fenster auf die raue See und das nahe gelegene Fischerdorf blicken. Das einzige Mobiliar des Esszimmers besteht aus einer langen Tafel aus sicherlich sehr teurem Edelholz, dazu mehrere Stühle aus demselben Material. Lediglich zwei Gedecke wurden angerichtet, an den gegenüberliegenden Seiten der Tafel. Fast zehn Meter vor mir, am Ende des großen Tisches sitzt er. Obwohl er mittlerweile bestimmt siebzig Jahre alt sein müsste, wirkt Sir Tenisson noch äußerst attraktiv: Sein silbern schimmerndes Haar ist streng zurückgekämmt und die eisblauen Augen unter den buschigen Brauen wirken freundlich und neugierig. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich Sir Tenisson schon nicht mehr gesehen habe, aber irgend etwas an ihm erscheint mir seltsam. Während ich noch die Worte für eine angemessene Begrüßung suche, blitzt es draußen und lenkt mich für einen Augenblick ab. Zum Glück bin ich nicht mehr bei dem Ruderer in dem kleinen Boot, denke ich, während ich kurz aus dem Fenster schaue. Das Unwetter ist urplötzlich aufgezogen und ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn ich jetzt noch da draußen säße. Ich wende mich wieder Sir Tenisson zu, der mich noch immer mit dem selben Blick mustert, als ich das Esszimmer betreten habe. “Sir Tenisson. Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, sie zu sehen” beginne ich. Keine Reaktion. “Sir Tenisson? ...Henry, ist alles in Ordnung?” Ich umrunde langsam den Tisch und bemerke zum ersten mal, dass der alte Herr noch immer gerade aus und direkt an mir vorbei in Richtung Tür blickt. Als ich ihn vorsichtig an der Schulter anstoße, fällt Sir Tenisson nach vorn, mit dem Gesicht direkt auf den silbernen Teller, der vor ihm steht.

Im nächsten Moment schreck ich einen Schritt zurück dennoch ziehe ich Sir Tenisson augenblicklich mit seinem Gesicht aus dem vor ihm stehenden Teller und drücke ihn gegen die Auflage seines Ornamentbestücktem Stuhls. Leblos hängt sein Kopf über der der Lehne während an seinem silbernen Haare sich Reste der Pilzboillonsuppe in Richtung Boden pendeln. Wortlos und erschlagen von der Situation stehe ich nun vor ihm und versuche ihm mit meinen erstarrten Händen Augen und Nasenlöcher frei zu legen. Erst jetzt öffnet sich mein Kehlkopf mit einem ziehenden Schmerz und ich rufe erstmals mit voller Hysterie seinen Namen. Plötzlich zuckt Sir Tenissons Mund für den Bruchteil eines Sekunde. Wieder erstarre ich, doch jetzt packe ich Sir Tenisson und versuche das ebengezeigte Lebenszeichen von ihm mit heftigem Rütteln zu verstärken. Er flüstert etwas…ich bewege meinen Kopf auf seine Höhe und drehe mein Ohr an seinen verschmierten Mund. Leise stammelt er etwas von irgendwelchen Buchstaben.» Y...A….Y...A «

Panisch versuche ich genauer hinzuhören…aber ich verstehe noch immer nichts außer dem Gestammel. Langsam fängt er an Geräusche von sich zu geben die in ein dunkles Summen übergehen. Ich trete zwei Schritte zurück und bleibe stehen. Das Summen wird lauter…noch lauter. Langsam hebt sich sein Kopf von der Lehne weg während die erstarrten Suppenreste sein immer wacher werdendes Gesicht herunter bröckeln. Er steht auf und läuft mir mit aufgerissen Augen langsam entgegen. Jetzt stell ich mir vor wie ich einfach umfalle und sterbe…einfach so…Hauptsache weg von hier. Doch irgendwas holt mich zurück in die jetzige Situation. Etwas bekanntes…eher Angenehmes. Es waren nicht die Buchstaben Y....A sondern der Auftakt zu der Hymne »YMCA« So tanzt Sir Tenisson nun vor mir herum, singt eine Schwulenhymne, grinst über beide Ohren und wischt sich lachend die Suppe aus den Augen. Sir Tenissons Hang zum Dramatischen, immer wieder erfrischend.

Erst jetzt registriere ich, dass sich der riesige Raum hinter mir nach und nach gefüllt hat und Stimme für Stimme zu dem Lied einsetzt. Gewaltig und doch irgendwie zart zugleich, bringen all diese Leute die Luft zum vibrieren. Fasziniert blicke ich mich um und stelle einige, zum Teil leicht bekleidete Menschen fest, die Transparente in die Höhe strecken. Darauf steht eindeutig: „Kate for President!“ Bitte was?! Meine Hände tasten sich an meinem Körper entlang, wohl um zu überprüfen, ob ich wach bin. Die ganze Situation ist so etwas von unwirklich und übertrieben, dass all das nur ein Scherz von Sir Tenisson sein kann. Für ihn wäre es auch kein Problem so etwas auf die Beine zu stellen, immerhin gilt er als einer der reichsten Menschen Englands. Sir Tenisson und ich kennen uns schon ziemlich lange. Er war der erste Chirurg, der eine Geschlechtsumwandlung praktizierte. Und ich lag dabei unter dem Messer. Doch es ist kein Scherz. Mit seinem verschmierten Gesicht gibt er mir etwas anderes zu verstehen: Er habe die Insel gekauft, um den ersten souveränen Staat für homosexuelle Menschen zu gründen, welcher dann „Erdbeermundland“ heißen soll. Urplötzlich entweicht die Luft aus meiner Brust, als ob ein Faustschlag sie herausgepresst hätte. Wohl Minuten später komme ich wieder zu mir. Sir Tenisson und seine Gefolgschaft möchten mich als Präsidentin des zukünftigen Staates, weil so sichergestellt wäre, dass eine gewisse Neutralität gegenüber den Geschlechtern und die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens nicht bedroht wären. Und wieder wird es dunkel.

Für viele ein gottloser Ort.

 

hallo,

Ich freue mich über jegliche kommentare... ;) danke.

greetz,
[maniac]

 

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