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Die Kantine der Protagonisten
(nach seiner Idee in "Der Herr Meier bringt es alleine zu einem Ende")
Kennen Sie Herrn Meier? Und wenn ja, haben Sie sich auch schon gefragt, was er wohl den ganzen Tag eigentlich so macht?
Fliegenfischen? IKEA Möbel nach Anleitung zusammenbauen? Das Meer in zwei Hälften teilen?
Mir liess die Ungewissheit einfach keine Ruhe, deshalb fing ich an, eine Geschichte zu schreiben.
Eine Geschichte auf den Spuren von einem, der auszog seine eigene Geschichte zu schreiben...
Es war bitter kalt. Die Landschaft hatte sich über Nacht in eine winterliche Märchenlandschaft verwandelt. Die Bäume trugen schwer ob der weissen Pracht und auf einem zugeschneiten Feld stand einsam ein grosser Schneemann...
***
"Ist hier noch frei?"
Herr Meier war eben damit beschäftigt aus seiner Nachspeise eine kleine Weltraumstation zu basteln, als der Schneemann an seinen Tisch herantrat. Er balancierte sein Tablett mit zittrigen Besenhänden vor seinem weissen Bauch und schaute hoffnungsvoll auf den freien Stuhl.
"Wie? Äh, klar."
"Danke", sagte der Schneemann und liess sein Tablett ungeschickt auf den Tisch krachen. Meiers Weltraumstation fiel in sich zusammen.
"Oh, tut mir leid."
Der Schneemann versuchte tropfend seinen Körper zwischen Stuhl und Tisch zu quetschen.
"Ganz schön warm hier."
"Sie sind wohl neu?" fragte Herr Meier und legte seine Gabel weg.
"Weiss nicht, doch, äh, ja, sieht man das?" fragte der Schneemann und versuchte mit seinen Besenhänden das Besteck zu greifen.
"Nur Neulinge nehmen das Menü eins, oder was meinst du dazu, Hamburger?"
Herr Meier faltete aus seiner Serviette eine Taube.
Der Schneemann schaute auf seinen Teller, wo sich gerade der Hamburger zu Herrn Meier umdrehte.
"Och Meier, alter Spielverderber. Hei Brüsseler, drei Minuten länger als beim letzten Mal, ich kriege 10 Euro."
Der Brüsseler brummelte etwas, kramte einen mit Salatsauce verschmierten Schein heraus und steckte ihn dem Hamburger zwischen die Brötchen.
"Huch, die leben ja."
"Sag ich ja. Aus welcher Rubrik kommen sie?" fragte Herr Meier und liess die Taube fliegen.
"Märchen, glaube ich." Der Schneemann rutsche unbehaglich auf seinem Stuhl herum.
"Aha, dachte ich mir fast."
Der Brüsseler und der Hamburger hatten sich vom Tisch geschlichen, um den nächsten Neuling zu ärgern.
"Na, wenigstens bleibt mir noch die Nachspeise, oder lebt die etwa auch?"
Der Schneemann stupste vorsichtig mit einem Astfinger den Pudding an, der ausser Wackeln sonst aber kein Lebenszeichen von sich gab.
***
Es gibt grausame Momente der Leere, die Idee wäre zwar da, nur die richtigen Worte lassen sich nicht zu einer zusammenhängenden Geschichte formen. Dann gibt es Momente, da fliessen die Gedanken förmlich über die Finger in einen sich steigernden Text, man schwebt davon auf einer Wolke aus Glücksgefühlen.
Himmel, ich habe ihn gefunden, ich bin ganz aufgeregt...
***
"Wie heisst ihr Autor?" fragte Herr Meier und baute einen Turm aus Zahnstochern.
Vier als Grundlage, dann immer einen über Eck.
"Mein wer?", fragte der Schneemann.
Erst jetzt bemerkte Herr Meier das aufdringliche Grinsen des Schneemanns, empfand jedoch im selben Augenblick Mitleid mit diesem unwissenden Geschöpf.
Mitleid?
Irgend ein Autor hatte sich diesen eins achtzig grossen Schneemann mit eingefrorenem Grinsen als Protagonist ausgedacht.
Hallo?
"Ok, sie können es nicht wissen, und was ich ihnen jetzt sage, werden sie mir nicht glauben."
Der Schneemann hob den Kopf und grinste.
"Jeder Gast dieser Kantine hier ist in Wahrheit eine erfundene Gestalt."
Herr Meier steckte sich einen Zahnstocher in den Mundwinkel und lehnte sich zurück.
Normalerweise genoss er den verwirrten Ausdruck, den seine Aussage bei Neulingen zurückliess, doch diesmal blieb der Ausdruck seines Gegenübers verständlicherweise unverändert.
"Mann, da hatte der Autor aber wirklich kein Herz mit Ihnen. Was mussten sie bisher denn so machen?"
"Machen? Also, bevor ich durch diese birkenlaminierte Tür da eintrat...", er schnellte seinen Kopf um hundertachtzig Grad herum. Herr Meier bekam einige Spritzer Wasser ins Gesicht,
"...stellte ich mich in diese Reihe da und bekam mein Mittagessen. Dann suchte ich mir einen freien Tisch nahe der Klimaanlage..."
"Ja, das weiss ich. Aber was war hinter der Tür? Was hatten sie dort drinnen gemacht?"
"Drinnen?" Der Schneemann rotierte seinen Kopf wieder zurück.
"Nein, ich - stand draussen. Rechts ein Haus und links ein Holzzaun, dahinter ein Wald. Alles war tief verschneit. Hmm, schöner, kühler, weisser Schnee und über mir der strahlend blaue Himmel."
"Kitschige Fantasie."
"Nein, es war so."
"Ich meinte ja auch Ihren Autor."
Ok, anscheinend hat Herr Meier meine Anwesenheit noch nicht mitbekommen.
"Das nützt dir gar nichts. Eingeschobene Kommentare in Kursivschrift sind nicht automatisch unsichtbar. Das einzige, was wir Protagonisten hier nicht mitbekommen, steht zwischen den Zeilen!"
Der Schneemann grinste weiter, als würde er die Worte von Herrn Meier...
"Hör mal zu, du Klugscheisser, ich rede mit dir und nicht mit deinem naiv lächelnden Schneemann. Wenn du dich hier schon ungefragt reinschreibst, dann ziehen wir das auf meine Art durch, klar?"
Touché!
"Aber ich bin tatsächlich etwas enttäuscht. Irgendwie dachte ich, Sie hätten sich was besseres ausgedacht, als das hier."
Herr Meier verdrehte die Augen.
"Nee, verdrehe ich nicht, ich bin frei klar?"
Herr Meier verdrehte seine Augen, weil er es wollte.
"Schon besser. Na, jedenfalls dachte ich, ich wäre frei, bis ich durch diese blöde Tür da hinten kam. Damals wusste ich noch nicht, dass mein Autor nicht weiter als bis zur Tür gedacht hatte."
"Und was war daran so schlimm?"
"Er vergass die Kantine der Protagonisten!"
"Bitte?"
"Hast du schon mal überlegt, wo dein Schneemann ist, wenn du nicht weiter schreibst?"
"Na, auf dem Feld, wo ich ihn zurückgelassen habe."
"Falsch! Alles Blödsinn. Wir Protagonisten können doch nicht tagelang auf irgend einem eisigen Feld rumstehen, nur bis sich der Autor erwärmt, weiter zu schreiben."
"Nicht?"
"Nein. Wir warten hier in der Kantine, bis es weiter geht."
"Ach."
"Aber, wie kann ich eine Geschichte schreiben über diese Kantine, wenn doch alle nur da sind, wenn nicht weiter geschrieben wird?"
"Weil es nur eine Geschichte ist, über die Kantine, die - ach, verflucht, ich habe die Schnauze voll. Über ein Jahr hänge ich nun schon hier rum, dabei könnte alles so schön sein.
Ich rieche den Bratenduft, ich fühle die Brise der Klimaanlage und ich sehe die farbenfrohen Blumenmuster auf der Tapete."
"Also, wo ist das Problem?
"Es ist nicht DIE FREIHEIT."
Herr Meier knallte die Faust auf den Tisch und die Zahnstocher verteilten sich über den grünen Linoleumboden.
"Zweihundertachtunddreissig", schallte es aus einer Ecke herüber.
"Schnauze, Rainman."
Ich fing langsam an zu verstehen.
"In meiner Not habe ich mich sogar bei meinem alten Autor für ein paar Rollen angebiedert, nur, um etwas Abwechslung in dieses öde Kantinenleben zu bringen."
"Aber Sie sind doch frei, warum haben Sie sich nicht einfach einen zweiten Ausgang erdacht?"
Herr Meier sah mich finster an.
"Wissen Sie, was mein Autor als Schlusssatz geschrieben hat?"
"Ja, ich kenne die Geschichte."
"Und?"
Herr Meier drückte die Klinke nach unten, öffnete die Tür, trat hindurch und... nun, das ist eine andere Geschichte. Aber die muss jemand anders erzählen.
"Aber es hat sie bisher noch niemand erzählt, folglich sitze ich seither in dieser langweiligen Kantine fest. Keine Gesprächspartner, alles willenlose Protagonisten."
Herr Meiers Augen wurden tatsächlich feucht.
"Nein, das kommt von deinem blöden Schneemann! Ach, ist ja auch egal. Ich möchte einfach nur endlich den Fichtenwald riechen, den lauen Frühlingswind auf meiner salzigen Haut spüren und mit meinen Augen in einem Feld aus Wildblumen versinken."
Der Schneemann liess sich vom Stuhl rutschen und landete in seiner eigenen Pfütze. Er war bereits auf die Hälfte seiner Grösse geschmolzen, lange würde er es nicht mehr machen, ich musste mich beeilen.
Mit einem 'Plopp' zog er sich seine Mohrrübe aus dem Gesicht und fing an, ein grosses Loch in die Tapete zu schneiden.
"Ei, geht denn das?"
"Wenn ich es so schreibe?"
"Oh, ich vergass."
Als der Schneemann mit Schneiden fertig war, zeugte nur noch eine grosse Wasserpfütze und zwei herumliegende Besen von seiner Existenz. Hinter dem Loch erstreckte sich eine weite Ebene. Felder aus Wildblumen zogen sich über leichte Hügel hinweg bis zum Rande eines mächtigen Fichtenwaldes. Die Sonne schien und die Vögel sangen ihr Lied vom Frühling.
"Na, besser so?"
Herr Meier krabbelte staunend durch das Loch und sog geräuschvoll die frische Luft ein.
Dann drehte er sich um und schaute noch einmal zum Loch herein.
"Danke."
"Nicht der Rede wert. Machen Sie's gut, und, hei, Ihre Haare sind ja tatsächlich blond."