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Karte des ithilianischen Kernlands: https://ibb.co/W664tZb
(Hinweis: Die Karte ist mit der Gratisversion des Inkarnate Map-Editors erstellt und somit nicht maßstabsgetreu, sowie mit begrenzten Mitteln erstellt, da mir die Premiumversion zu teuer war.)
Die Kinder Ithilias: Bürde des Erstgeborenen
"Und ich sage dir, es waren zu viele!"
"Pah! Nur eine Ausrede für deine mangelnde Opferbereitschaft!"
"Du warst nicht da! Du hast sie nicht bekämpft!"
"Doch, habe ich! Im Dunkelschacht, erinnerst du dich? Lange bevor du auch nur einmal deine Lanze dreckig gemacht hast!"
Sol'naryas Antwort auf Dal'ne'maras erneute Provokation blendete der König von Ithilia aus. Es war schlimm genug, dass die beiden Engel untereinander rivalisierten, aber jetzt hielt ihre Streiterei auch noch den Kriegsrat auf. Er spürte erneut die Wut in sich aufsteigen. Ithilia war angegriffen worden, und seine Beschützer hatten nichts besseres zu tun, als aufeinander loszugehen? Waren seine beiden Geschwister denn zu blind, um den Ernst der Lage zu erkennen? Er würde...
Bevor er den Gedanken zu Ende führen konnte, legte sich ihre Hand auf seine. Und wie jedes Mal bei ihrer Berührung verschwand seine Wut und sein Kopf klärte sich. Er blickte hinüber zu ihr, in die Augen seiner Königin. Zeit, dem ein Ende zu setzen. "Seid still, beide von euch!", sagte er laut und bestimmt, während er die flache Hand auf den Tisch aus Sternglanz-Kristall niederfahren ließ, weniger aus Frustration als um die Aufmerksamkeit der beiden Schwestern auf sich zu ziehen.
Dal'ne'mara und Sol'narya verstummten sofort. Der Schlag ließ die bläulich schimmernden Abbilder des Ersten Beschützers und der neun Engel in der Luft leicht flackern. Diese Kristalltische waren zwar solideste Zwergenarbeit, aber ihre meisterhaft ersonnene Komposition aus Kristall und Magiekernen war auch nicht ganz unempfindlich. Nun, diese Art der Kommunikation war auf jeden Fall besser, als mit dem Verschicken von Brieftauben und Boten wertvolle Zeit zu verschwenden.
"Wir haben keine Zeit für eure Streitereien. Hebt euch das für den Feind auf! Sol'narya, fahre fort mit deinem Bericht."
Mit einem Räuspern begann der Schildengel, die Ereignisse der letzten Stunden weiter darzulegen: "Wie ich bereits sagte, wir haben so viele Überlebende geborgen wie wir konnten und mussten uns dann angesichts der Übermacht dieser Kreaturen zurückziehen. In den anderen Dörfern, in die ich Truppen entsandt habe, fand sich ein ähnliches Bild. Sie wurden alle von der Welle überrascht und dann von den Monstern überrumpelt."
"Nicht Monster. Hör auf, sie so zu nennen.", unterbrach Alnima ihre Schwester. "Monster sind Kreaturen aus diesem Universum, die zwar Scheusale sind, aber nach den Regeln unserer Physik und Biologie funktionieren. Das, was uns angegriffen hat, sind Dämonen. Ausgeburten der Dunkelheit, von jenseits unserer Realität."
Sol'narya schnaubte. "Mir ist egal, was sie sind. Sie haben uns angegriffen und dafür werden sie bezahlen!"
Gerade als der König sich wieder genötigt sah einzugreifen, erhob Mal'nel'ra ihre Stimme. Der Schwertengel war immer schon eine Vermittlerin bei Streit zwischen ihren Schwestern gewesen. Es war erstaunlich, dass sie so lange ruhig geblieben war. "Wichtig ist doch, dass wir uns gegen sie wehren müssen! Sie greifen unser Volk an, diejenigen, die wir zu beschützen verpflichtet sind! Die Frage nach ihrer Herkunft können wir auch dann noch stellen, wenn die Schlachten gewonnen sind, oder etwa nicht?"
Unter den Engeln war zustimmendes Gemurmel zu hören, bis der Erstgeborene Sohn Ithilias wieder seine Stimme erhob.
"In der Tat, wir wurden angegriffen und bei dem heiligen Namen unserer Mutter, wir werden antworten. Mit Feuer und Stahl, wie wir es schon einmal getan haben. Aber wir müssen überlegt vorgehen, Übereifer darf uns nicht den Sieg kosten.
Dal'ne'mara, bereite deine Schwarze Schar darauf vor, morgen früh schon auszureiten. Die Dämonen sind in die Landstriche hinter der Südküste eingedrungen und wir werden dort eine schnelle Eingreiftruppe brauchen, bis wir genug Truppen für eine echte Gegenoffensive versammelt haben."
Dal'ne'mara nickte und wirkte fürs Erste zufrieden.
"Was die Küstenstädte angeht, haltet aus so lange ihr könnt. Bindet den Feind an euren Mauern, sodass wir im Hinterland leichteres Spiel haben."
Bei diesen Worten blickte der König zu seinem Bruder, sowie Sol'narya, Alnima und Yul'ne'mara, deren Städte direkt an der Küste lagen. Unter der Führung der Engel würde es für die Dämonen schwer werden, dort Fuß zu fassen.
"Alle anderen von euch, sammelt eure Truppen. Elindóra, deine Waldläufer müssen die Flanke des Kernlands schützen. Nichts darf durch die Wälder auf die Ebenen gelangen. Mal'nel'ra, deine Truppen müssen die zweite Verteidigungslinie im Hinterland bilden. Die Dämonen dürfen nicht über den Fluss nach An'mal'nara oder Ethelion gelangen. Was mich zu dir führt..." Als der König zu An'mal'nara hinüber sah, erhob die zierliche, sanfte Frau bereits ihre Stimme: "Meine Heiler werden bereit sein. Ich kann morgen schon Kontingente meines Ordens in alle Himmelsrichtungen aussenden, sowohl an die Front als auch zu den Flüchtlingstrecks."
Der König lächelte. "Schwester, du kennst deine Aufgabe nur zu gut, wie es scheint. Ich muss mir wohl keine Sorgen um ihre Ausführung machen."
Und er meinte es auch so. Wenn man sich bei An'mal'nara auf eines verlassen konnte, dann auf ihr angeborenes Verlangen, jenen in Not zu helfen. Sie mochte zwar die Letztgeborene unter den Engeln sein, doch die Gabe, die ihr die Göttin mit dem Leben einhauchte, machte sie auf ihre eigene Weise zu einer der stärksten unter den himmlischen Schwestern.
"Mein König?", warf Yuldanee nun von der Seite aus ein, "Mir ist bewusst, dass die strategische Lage es von mir verlangt, die Ostküste zu schützen, aber mit deiner Erlaubnis würde ich gerne mindestens ein Regiment meiner Phalanx entsenden, um den Süden zu unterstützen."
Der König konnte sich schon denken, warum sie diese Frage stellte. Und in der Tat, noch während sie sprach, tauschte sie einen Blick mit Sol'narya. Die beiden Schildengel waren schon seit dem Tag des Erwachens unzertrennbar gewesen. Seitdem sie jeweils ihre eigene Stadt zu regieren hatten, nutzten sie bereitwillig jeden Vorwand, einander zu sehen.
"Gehe ich richtig in der Annahme, dass du dieses Regiment selbst anzuführen gedenkst?"
"Ja." Yuldanee wirkte ertappt, auch wenn ihre Beweggründe für jeden im Raum offensichtlich waren. Der König seufzte. So eigennützig es auch von seiner Schwester war, musste er dennoch eingestehen, dass Sol'narya und sie zusammen am besten kämpften. "Nun denn, im Namen der Göttin, tu was du tun musst. Ich werde zusehen, dass die Verteidigung der Ostküste in deiner Abwesenheit von General Ethelion übernommen wird." Yuldanee nickte, sichtlich erfreut. Der König fuhr fort. "Ich werde den Senat und den Hochkönig der Zwerge in Kenntnis setzen. Dem Volk soll die Nachricht noch bis morgen früh erspart bleiben, dann werde ich den Kriegszustand ausrufen."
"Was ist mit den Kolonien und dem Volk unter den Wogen?", fragte Yul'ne'mara, offensichtlich bedacht auf die strategische Gesamtlage. Der Sohn Ithilias seufzte. "Ich habe noch keine Nachricht aus dem Norden und Westen erhalten. Vermutlich sieht es dort ähnlich aus wie im Kernland. Wir können durch die unterirdischen Straßen der Zwerge Truppen dorthin schicken, aber nur die Göttin weiß, was sie finden werden. Was Süd- und Ost-Ithilia angeht, so trennt sie ein Ozean voller Feinde von uns. Bis wir einen Weg finden, ihn zu überqueren, sind die Siedler dort auf sich allein gestellt, so ungerecht das auch ist. Wenn sie klug sind, flüchten sie in die Berge und die Wüsten. Dorthin werden diese Meeresdämonen ihnen wohl nicht folgen." Er bemerkte An'mal'naras Blick, welche ganz klar gegen den Befehl aufbegehren wollte, die Kolonien jenseits des Meeres ihrem Schicksal zu überlassen. Mit nur einer Geste brachte er sie zum Schweigen, gerade als sie den Mund öffnen wollte. "Die Verteidigung des Kernlands hat oberste Priorität. Wir können es uns nicht leisten, wertvolle Truppen zu verschwenden, um Siedlern zu helfen welche womöglich längst ausgelöscht wurden. Ich weiß, dass du helfen willst, Schwester, aber tu es dort, wo auch eine Aussicht auf den Sieg besteht."
An'mal'nara senkte den Blick. Es tat ihm im Herzen weh, seine jüngste Schwester in ihrer grenzenlosen Güte so einschränken zu müssen, doch hier stand das Schicksal ihres gesamten Volkes auf dem Spiel. Die Krone, die er trug, stellte ihn in die Verantwortung ein solches Schicksal abzuwenden, koste es was es wolle. "Ithilianisches Blut bezahlt den Preis...", dachte er für sich, bevor er sich wieder an die Runde wandte. "Was das Volk unter den Wogen angeht, so müssen wir davon ausgehen, dass die Dämonen mitten unter ihnen sind. Wir können ihnen in den Tiefen nicht helfen. Alles was wir tun können, ist den Überlebenden Zuflucht zu gewähren. Dieser Krieg wird an unseren Küsten entschieden, zu unseren Bedingungen."
Zustimmendes Raunen ging durch die Reihen der Engel, die sich alle bereits im Hintergrund mit ihrem eigenen Stab zu beraten schienen.
"So ist es nun entschieden. Wir werden erneut alle gemeinsam in den Krieg ziehen, bis unsere Welt vom Übel befreit ist! Möge die Göttin ihre schützende Hand über uns halten!"
Mit diesen Worten zog der König den kleinen Kristall aus dem Tisch, den er stets um den Hals trug. Die schimmernden Bilder verschwanden aus der Luft und ließen nur ihn und seine Königin in dem Raum zurück. Das Summen der Magiekerne im Tisch verstummte und der einzige blaue Schimmer, der im Raum verblieb, war der in ihren Augen.
"Ich werde mit dem Hochkönig reden.", sagte sie und trat an ihn heran. "Du brauchst Zeit zum Denken. Lass uns diesen einen Abend lang noch so tun, als würde der Frieden weiterbestehen. Nur für diesen Moment, mein Liebster." Er lächelte. Drachen, Ungeheuer und Heerscharen von Kreaturen der Dunkelheit zu bezwingen, das waren schwierige, doch erfüllbare Aufgaben. Aber ihr einen Wunsch abzuschlagen, das war für ihn unmöglich. Er nickte und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen.
"Ich werde etwas durch die Stadt gehen. Es gibt viel vorzubereiten, tausende Flüchtlinge werden kommen. Wir sehen uns heute Abend, meine Sonne."
Draußen vor der Tür wartete Lu'thana auf ihn. Er bezweifelte, dass sich die Kommandantin der Königsgarde während dem knapp einstündigen Kriegsrat auch nur einen Fußbreit bewegt hatte. Wie selbstverständlich stand sie in voller Rüstung dort, ein silbern glänzender Harnisch, zusammen mit dem weißen Umhang und der roten Bauchbinde, die sie als Kommandantin auszeichneten. Eine Hand hatte sie auf den Knauf ihrer langen, schmalen Klinge gelegt. "Eure Befehle, mein König?", fragte sie ohne zu zögern. Sie kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er sie ins Vertrauen über die Ereignisse ziehen würde. Sie war eine der Ersten Tausend, eine Veteranin aller Schlachten ihres Volkes. In allen von ihnen, von der Rebellion der Drachen bis zum letzten Gefecht an den Hängen des Andûran hatte sie an der Seite ihres Königs und ihrer Königin gestanden, zusammen mit den Elitekriegern, die sie in ihrer Garde ausbildete. In diesem Krieg würde es nicht anders sein, soviel war sicher.
"Ithilia ist im Krieg, und in den nächsten Tagen werden tausende Flüchtlinge in der Stadt ankommen und ebensoviele Soldaten sie verlassen.", antwortete er Lu'thana. "Wir müssen vorbereitet sein. Schick deine Krieger los, zu allen Herbergen und Waisenhäusern, die sie vor Sonnenuntergang erreichen können. Lass sie die Nachricht verbreiten, doch nur an die Leiter des jeweiligen Hauses. Es soll keine Panik ausbrechen. Morgen werde ich es öffentlich verkünden. Informiere auch den Kommandanten der Stadtgarde. Wahrscheinlich werden wir vor den Mauern und in den Parks Zelte errichten müssen. In den Palastgärten wirst du ein Lazarett einrichten, für diejenigen unter den Flüchtlingen, die mit schweren Wunden hierherkommen."
Die Kommandantin sah ihn an, für einen langen Moment, bevor sie nickte. "Es wird getan werden, mein König." Er lächelte. "Ich würde niemand anderem mit dieser Aufgabe vertrauen. Nun entschuldige mich, ich wünsche einige der notwendigen Schritte selbst einzuleiten." Sie nickte erneut. "Eure Eskorte wird bereitstehen."
"Nein. Ich möchte eine Weile allein sein."
"Aber..."
"Der Feind ist noch nicht hier, Lu'thana. Deine Krieger sind heute auf den Straßen besser aufgehoben als an meiner Seite. Das ist ein Befehl."
Sie wirkte beinahe geknickt. Dennoch salutierte sie ohne zu zögern und wand sich zum Gehen, um seine Befehle auszuführen.
Während sie in Richtung der Kaserne ihrer Garde verschwand, wandte er sich zur entgegengesetzten Richtung des langen Korridors im Westflügel des Palastes, hin zu den Gärten. Sein Weg führte ihn über mehrere versteckte Wendeltreppen nach unten, durch die Quartiere und Lagerräume der Gärtner bis zu einer Seitentür abseits der Prunkallee, die hinter hohen Hecken vor den Augen von Besuchern versteckt war. Als er ins Freie trat, schloss er die Augen und atmete tief ein. Der Duft des Sommers hing noch in den kunstvoll angelegten Gärten, jener einzigartige Geruch, den Gras annahm, wenn es lange von einer heißen Sonne beschienen wurde. Die Wärme des anbrechenden Morgens kitzelte sein Gesicht. Jedoch nur für einen Moment lang, dann war sie wieder da:
Die Gabe. Seine Verantwortung und sein zweifelhaftes Privileg. Er sah durch Augen, die nicht die seinen waren.
Seine Königin gab ihren Zofen einige Anweisungen, bevor sie zu den Zwergen aufbrach.
Sein Bruder stand auf der Festungsmauer von Ithiliade und blickte auf die Bucht hinab, in der hunderte Schiffe vor Anker lagen. Eine gesamte Flotte, nutzlos gemacht durch die übermächtige Position des Feindes. Es würde tollkühne Seeleute mit einer gehörigen Prise Wahnsinn erfordern, um auf ein Meer voller Dämonen auszulaufen.
Dal'ne'mara kniete im Tempel ihrer Stadt vor der Statue der Göttin und betete, ein allzu vertrautes Bild. Im Glauben fand seine Schwester ihre Stärke. Sie würde sie brauchen.
Yul'ne'mara besprach sich mit den Offizieren ihrer Stadtwache, auf einem Balkon von dem aus man die stets verschneiten Hänge jenseits ihrer Stadtmauern sehen konnte. Er brauchte sich um sie keine Sorgen zu machen, sie würde jeder Bedrohung mit eiskalter Präzision begegnen, wie sie es immer tat.
Mal'nel'ra hingegen flog hoch über ihrer Zitadelle. Mit weit ausgestreckten Flügeln zog sie ihre Kreise, höchstwahrscheinlich um ihren Verstand zu klären. Die Winde waren ihre Freunde, und sie lauschte ihren nur für sie verständlichen Geschichten.
Sol'narya war am Strand vor ihrer Stadt und wütete unter den Dämonen. Zähne, Klauen, Schwerter, Speere, alles glitt von ihrem Schild ab und mit tödlicher Anmut fand die Spitze ihrer Lanze Herzen und Kehlen. Es sah aus, als wäre der Hauptangriff bereits abgeebbt, sie und ihre Soldaten führten nun einen Ausfall aus, um den Feind zurück ins Meer zu fegen.
Yuldanee stand in einem Hof voller Krieger, die vor ihr exerzierten. Er wusste, am liebsten wäre sie auch auf dem Strand bei ihrer Schwester, so viele Meilen entfernt.
Elindóra lag auf ihrem Bett und starrte auf das Deckenrelief in ihrer Kammer. Es war ein schönes Bild, welches den Tag des Erwachens zeigte, als sie alle gemeinsam aus dem Licht geboren wurden. Was in ihren Gedanken vorging, konnte der König nur erahnen.
Alnima hatte sich in ihrem Labor eingeschlossen und sezierte einige Dämonenleichen. Ihrer Ansicht nach waren es Informationen über den Feind, welche Kriege gewannen. Stahl und Truppenstärke waren in ihren Augen zweitranging. Bevor dieser Konflikt endete, würde sie mehrere Bücher mit ihrem neu erlangten Wissen gefüllt haben.
Királna streifte durch die Wälder außerhalb ihrer Stadt, ohne Zweifel um sich bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Jagd, einen Plan für die nächsten Tage zu überlegen.
Und An'mal'nara saß auf einem Stuhl in ihren Gemächern, auf ihrem Schoß ein aufgeklapptes, längliches Kästchen aus poliertem Ebenholz. Darinnen lag, gebettet in roten Samt, ihre Waffe, Lichtbringer. Der Griff des Doppelschwertes hatte lange Zeit nicht mehr an ihrem Gürtel gehangen. Trotz der Tatsache, dass An'mal'nara wie auch alle ihre Geschwister gemeinsam mit ihrer Waffe erschaffen wurde, hasste sie es, sie anzurühren. Es waren Jahrhunderte vergangen, seit sie zuletzt die beiden Klingen mit nur einem simplen Gedanken aus dem Griff beschworen hatte. Und nun war sie gezwungen, erneut zu töten, um ihr Volk zu beschützen. Der König bemitleidete seine jüngste Schwester. Sie war solch eine unschuldige und reine Seele. Eine wahre Heilerin, kein Werkzeug göttlichen Zorns wie viele ihrer Schwestern. Er konnte sich vorstellen, wie sehr dieser Moment sie quälen musste. Er verweilte für einige Augenblicke bei ihr, bis ihre zierliche Hand sich um den Griff aus göttlichem Stahl schloss. Dann zwang er seinen Geist zurück ins Hier und Jetzt.
Die Gabe des Erstgeborenen war sowohl Segen als auch Fluch für ihn. Er hielt die Geschicke des Reiches in der Hand, und durch die Augen seiner Geschwister sehen zu können, erleichterte ihm vieles in den Regierungsgeschäften und auch auf dem Schlachtfeld. Der Sohn der Ithilia seufzte, als er die Augen wieder öffnete. Die Schattenseite seiner Gabe war die Tatsache dass er, außer sehr spät nachts, fast nie mit seinen Gedanken allein war, ohne dass sich ihm eine andere Perspektive aufzwingen wollte.
Tief in Gedanken erreichte er das Tor des Palastdistrikts, welches die Wachen nach einer knappen Geste von ihm hastig öffneten. Noch waren die Straßen der Hauptstadt wenig bevölkert, doch das würde sich sehr schnell ändern. Es war Erntezeit und noch immer Hochsaison für die Fischer, also würden die Märkte voll mit frischen Lebensmitteln sein. Bald würde die Tempelglocke zum Morgengebet rufen, und die Handwerker würden ihre Arbeit beginnen. Der König war stolz auf die Stadt, welche sein Volk nach der Schlacht an den Hängen des Andûran hier aufgebaut hatte, aus nichts als den schwelenden Ruinen der Überlebenskriege. Seitdem waren seine Geschwister und seine Vertrauten unter den Ersten Tausend in die Welt hinausgezogen, hatten Städte gegründet, Straßen, Kanäle und Schleusen gebaut und das Reich erschaffen, welches er heute regierte. Es hatte Frieden geherrscht, achttausend Jahre lang. Und nun waren erneut die Feinde allen Lebens in die Welt seiner göttlichen Mutter eingedrungen. Dieses Mal konnte er sich nicht für einen gut gemeinten Rat und ein beruhigendes Lächeln an sie wenden, sie war am Ende der Überlebenskriege zurück in ihre goldenen Hallen im Himmel aufgestiegen. Das Schicksal ihrer Schöpfung lag nun allein in seiner Hand. Er hatte keine andere Wahl, als dieses wunderschöne Land erneut in Krieg und Leid zu stürzen, mit nur einem Erlass. Dies war eine Bürde, die selbst die Engel nicht nachvollziehen konnten.
Doch für heute würde er ihr noch entfliehen. Er würde diesen Tag genießen, würde Abschied nehmen von dem friedlichen Ithilia, welches er so zu lieben gelernt hatte. Ohne festes Ziel trat er von der Prunkallee hinunter und bog in eine der Gassen ein. Er hatte noch Zeit, bis der Senat für seine täglichen Geschäfte zusammentrat. Für den Moment würde er einfach nur dem Geruch nach frischem Brot folgen.