Die Klinge
Die Klinge
Als er in den Zug stieg und ein Abteil nach dem Anderen durchquerte, sah er einen Jungen, den er gleich wieder erkannte. Seine roten Haare und die blasse Haut, hätte er auch nach Hundert Jahren nicht vergessen. Der Junge lehnte mit dem Kopf an der Scheibe und die orangefarbenen Lichter schienen stoßweise in sein Gesicht, erhellten die geschlossenen Lider.
Die drei Plätze um ihn herum waren frei. Er setzte sich ihm gegenüber. Sofort suchte er nach der Narbe auf seiner Backe und fand sie, obwohl sie fast unsichtbar war. Nur ein dünner, blasser Strich. Von dieser Narbe wusste er nur, weil er sie von ihm
hatte. Damals vor einem Jahr im Winter. Es war kein Versehen und gleichzeitig war es eines. Als er ihn so friedlich schlafen sah, hätte er es am Liebsten gleich nochmal getan. Schwierige Familienverhältnisse hin oder her. Die alte Wut kam wieder in ihm hoch. Ein leises Geräusch unterbrach ihn in seinen Gedanken, bevor er sich weiter hineinsteigern konnte. So leise, so subtil, dass er es eigentlich nicht hörte, sondern nur unterbewusst wahrnahm. Es ließ ihn aufsehen und sein Blick fiel wieder auf das Gesicht des Jungen. Er merkte, dass darin irgendetwas nicht stimmte. Es sah wie versteinert aus. Tot wie ein Abdruck in Zement. Früher sah es nicht so aus. Vor einem Jahr.
Das Geräusch hörte nicht auf und ertönte in maschinenartiger Präzision immer im gleichen Abstand. Eine ältere Frau in einem lilafarbenen Mantel schien es zu bemerken; sie nahm den Blick von ihren gefalteten Händen und sah sich stirnrunzelnd im beinahe leeren Abteil um. Sie sah in die Richtung des Jungen, kehrte aber wieder zu ihren Händen zurück, als sie die Quelle des Geräusches nicht fand.
Der Zug holperte in den Schienen, als wäre er über einen Stein gefahren. Die Wucht ließ die wenigen Menschen kurz auffliegen um sie im nächsten Moment wieder in ihre Sitze zu werfen. Der Kopf des Jungen löste sich von der Scheibe und fiel schlapp und schwer nach vorne. Nun sah der Körper des Jungen so aus, als würde er ihm jeden Moment entgegenfallen. Die roten Haare, ihm entgegen leuchtend.
Er hörte ein leises Scheppern.
Er schaute zu seinen Füßen und sah ein silbriges, glänzendes Blättchen. Das ausgestanzte Muster ist unverkennbar. Einzigartig. Es liegt in einer Lache, in die jede Sekunde ein roter Tropfen fällt.
Als er den Blick wieder hebt, weiß er plötzlich was mit dem Gesicht nicht stimmt.