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Die Klinge
Es war still. Man hörte nur wie die Regentropfen leise an die Fensterscheibe klopften.
Misaki saß wie jeden Tag an ihrem Fenster und dachte nach.
Sie hatte erneut einen Schultag überstanden, doch sie fragte sich, wofür.
Es war wie jeden Tag: Sie kam in die Schule, doch niemand interessierte sich dafür.
Niemand begrüßte sie, niemand schaute sie an, niemand beachtete sie.
Misaki existierte nicht. Für ihre Mitschüler war sie wie Luft. Und genau das war es, was die Braunhaarige so traurig machte.
Das junge Mädchen schaute aus dem Fenster und versuchte krampfhaft, ihre Tränen zu unterdrücken.
Sie wollte nicht weinen. Sie durfte nicht weinen.
Langsam krempelte sie ihre Ärmel hoch und schaute sich ihre Arme an.
Ihre Handgelenke waren überseht von Narben.
Diese Narben waren für Misaki keine gewöhnlichen Kratzer, es waren für sie Zeichen von Stärke.
Zeichen dafür, dass sie eine Kämpferin war.
Langsam schaute Misaki zum Tisch und nahm die Klinge in die Hand.
Sie schloss die Augen. Ohne lange darüber nachzudenken, ließ sie die scharfe Klinge über ihr Handgelenk gleiten.
Sie spürte wie ihr Blut den Arm runterlief und letzendlich auf den Teppich tropfte.
Der schneeweiße Teppich verfärbte sich langsam blutrot. Erneut.
Erneut tat sie es. Sie versprach sich jeden Tag aufs neue, sich nicht zu verletzen.
Doch trotzdem saß sie jedem Abend mit blutenden Armen da und verabscheute sich dafür, was sie getan hatte.
Sie blieb seelenruhig sitzen und betrachtete ihre Handgelenke.
Doch anstatt das Blut von ihren Armen zu wischen, ließ sie es dort.
Sie blutete weiter, denn nur so funktionierte das Leben für sie.
Mehr brauchte die Braunhaarige nicht.
Wenn sie ihr eigenes Blut sah und die körperlichen Schmerzen fühlte, verschwanden die seelischen Schmerzen.
Und genau das war dass, was sie immer wollte.
Mittlerweile hatte sie so viele Narben an ihren Armen, dass man sie nicht mal mehr zählen konnte.
Misaki hatte Tränen in den Augen, doch trotzdem lächelte sie.
Sie lächelte weil sie ihre seelischen Schmerzen für diesen einen Moment vergessen konnte.
Sie war glücklich.
Während Misaki gedankenvertieft aus dem Fenster schaute, kam ihre Mutter plötzlich in das Zimmer.
Ihre Augen weiteten sich und sie starrte auf die Narben ihrer Tochter.
"Was hast du da?", fragte die Mutter besorgt und mit Tränen in den Augen.
"Narben. Zeichen von Stärke.", erwiderte die Braunhaarige lächelnd und schaute zu ihrer Mutter hoch.
"Warum tust du sowas?"
Misakis Blick wurde wieder ernst. Sie wandte ihren Blick von ihrer Mutter ab.
"Weißt du, Mama...niemand schneidet sich die Arme auf,
weil er im vorherigen Leben ein Zebra war und die Streifen so sehr vermisst..."
Misaki atmete tief durch und blieb sitzen. Stille. Niemand sagte mehr ein Wort.
Es würde sowieso nichts ändern. Es würde jeden Tag das gleiche sein.
Denn Misaki hatte nur einen wahren Freund: Die Klinge.