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Die Lösung
Die Treppe ist steil und lang und führt in die Tiefe. Dort ist das Becken. In den ausgetretenen weißgelben Marmorstufen sammeln sich Reste des Regens der letzten Tage.
Mia macht einen Schritt nach vorne.
„Liebling, pass auf! Die Stufen können glitschig sein.“
Sie zieht ihren Fuß zurück, steht still.
Verwilderte, langrispige Weinstöcke säumen die Treppe und überranken sie an manchen Stellen. An ihrem Fuße glitzert das Wasser des Schwimmbads.
Jan hat seine Hand auf Mias Arm gelegt. Sein Blick wandert abschätzend über die Stufen. „Das sind sicher vierzig. Warum muss das Becken so weit unten sein?“
Mia und ich achten nicht auf das, was Jan sagt. Wir sind ergriffen von der abendlichen Szenerie auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Die Abendsonne hat den Hang und das Dorf in ein tiefes Rot getaucht. In der Mitte des Dorfes steht eine kleine Kirche. Ihr Läuten reißt uns aus unseren Betrachtungen. Es ist acht.
Ein plötzlich spürbarer Windhauch lässt mich frösteln.
„Mir wird kalt. Lasst uns ins Haus gehen und unsere Koffer auspacken.“
Wir kommen an der kleinen blauen Holztür mit den bunten Glasornamenten vorbei. Sie ist nur angelehnt und Mia möchte hineingehen.
„Lass nur, Schatz. Wir haben morgen noch Zeit, uns alles genauer anzuschauen. Jetzt wollen wir erst mal ins Haus, wie Ruth es vorgeschlagen hat“, sagt Jan, seinen Arm um meine Schwester Mia legend.
Marco, der neue Besitzer des Landguts, hat uns erzählt, dass sich hinter der Tür eine kleine Hauskapelle befindet. Auch ich bin interessiert, verschiebe aber die Besichtigung und schlendere mit den beiden zur Tür, vor der wir unsere Koffer abgestellt haben, als uns Marco begrüßte.
Marcos Auto steht bei unserer Ankunft am Tor zur Einfahrt. Er ist Architekt und hat das Haus vor dem völligen Zerfall gerettet.
Stolz zeigt er uns unsere Zimmer, die ersten, die schon fertig sind.
Er ist aufgeregt, bittet uns vor das Haus. Wir spüren, jetzt kommt etwas Besonderes. Am Ende des verwilderten Gartens öffnet er ein kleines Tor. Wir stehen vor einer schmalen, langen Treppe. Marco zeigt nach unten. „Gestern ist das Becken fertig geworden. Ihr seid die Ersten, die es benutzen können. Und das ohne Aufschlag.“ Marco weidet sich an unserer Begeisterung. Wie alte Freunde verabschieden wir uns. Wir werden uns in vierzehn Tagen wiedersehen.
Die hölzerne Eingangstür ist schwer und gedrungen. Jan nimmt die beiden Koffer, ich folge ihm mit meinem. Er muss sich ein bisschen beugen, damit er mit dem Kopf nicht an den niedrigen Sturz stößt. Von der kleinen Küche führt eine enge, gewundene Treppe in den ersten Stock. Jan ist groß und schwer und hat Mühe, mit dem Koffer die Balance zu halten. Mia steht vor mir, sie greift nach dem zweiten Koffer.
„Wartet bitte. Ich komme sofort und hole eure Koffer“, hören wir Jan von oben. Mia zieht ihre Hand zurück.
Jan fällt es nicht leicht, die unbequeme Treppe zu meistern. Endlich sind alle Koffer oben. Mia und ich steigen ihm nach. Schwer atmend und japsend sitzt Jan auf seinem Bett, sein Kopf ist tiefrot.
„Das war zu viel, nicht wahr“, sagt Mia. „Wo hast du dein Spray?“
„Das ist in der rechten Seitentasche. Aber lass nur, ich hab das gleich.“ Schwerfällig erhebt sich Jan und geht leicht taumelnd zu seinem Koffer. Das Spray hilft schnell, er atmet wieder gleichmäßiger.
Ich blicke ihn beunruhigt an. „Hast du das öfter?“
„Ja, manchmal.“
Die Casa ‚Olmo’ ist ein verwunschener Traum: Sie steht auf einem Hügel, umgeben von Weinfeldern, die nicht mehr bewirtschaftet werden. Auf ihnen blühen wilde Sträucher und Akazien. Zu der Ulme, die dem Haus ihren Namen gab, gesellten sich im Laufe der Zeit Platanen und Zypressen. Sie umstehen und verbergen das Haus, es ist von der kleinen Straße aus unsichtbar. Weit und breit gibt es kein anderes Gebäude. Die Straße endet wenige Meter hinter der Einfahrt zum Haus.
Dieser Abend ist kühl und wir verabschieden uns bald.
Die lange Reise hat mich müde werden lassen. Trotz des an- und abschwellenden Bellens der Hunde jenseits des Tals falle ich schnell in einen tiefen Schlaf.
Marco hat die Gästezimmer im ehemaligen Speicher mit großen Fenstern ausstatten lassen. Ich öffne die Holzläden, lasse die toskanische Sonne ins Zimmer und schaue auf den kleinen sandigen Vorplatz, der von Oleandern und Bougainvilleen umstanden ist. Ein strahlender Tag. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand setze ich mich auf die altertümliche grüne Bank mit den gusseisernen Füßen. Der süße Duft der Glyzinien über dem Vordach der Haustür steigt mir in die Nase. Die Hunde sind verstummt. Nur das Zwitschern der Vögel ist zu hören. Es ist Mai und ich genieße die Sonne und die Atmosphäre des alten Natursteinhauses. Die türkisfarbenen Türen und Holzläden komplettieren das Postkartenmotiv.
Unsere Reise ist ein kleines Experiment: Wir sehen uns sehr selten und es ist das erste Mal, dass ich mit meiner Schwester und ihrem Mann reise. Ich suche noch meine Rolle in dieser Dreier-Konstellation. Bis jetzt halte ich mich zurück, versuche herauszufinden, wie die Dinge zwischen den beiden liegen und wie wir die nächsten Tage zu einem gelungenen Erlebnis machen können. Aber irgendetwas Angespanntes liegt in der Luft. Ich kann es nicht greifen.
Um mir ein Buch zu holen, stelle ich die Kaffeetasse auf die Steinmauer und gehe ins Haus. Die beiden scheinen noch zu schlafen.
Im unteren Bereich des Hauses ist es dunkel und muffig. Die kleinen Fenster in den dicken Mauern werden selten geöffnet. Hier gibt es noch viel zu tun für Marco und seine Helfer.
Ich setze mich auf die geschwungene Holzbank, vergesse das Buch auf meinem Schoß, schließe die Augen und gebe mich den wohlig-warmen Strahlen der morgendlichen Sonne hin. Minuten vergehen.
„Grüß dich.“ Es ist Mia. „Oh, ich wollte dich nicht erschrecken.“
Ich öffne die Augen und erwidere ihren Gruß. Sie ist noch im Pyjama, zieht einen Gartenstuhl ran und setzt sich zu mir. Im letzten Jahr ist sie rundlicher geworden.
„Na, wie war die erste Nacht? Habt ihr auch das Gebell der Hunde gehört?“, frage ich.
„Ja, aber nur kurz, dann sind wir eingeschlafen. Es ist traumhaft hier. War eine gute Idee von dir, hierher zu fahren.“ Auch Mia wendet ihr Gesicht der Sonne zu und schließt die Augen.
„Schade, dass Helge nicht mitfahren konnte.“
„Ja, finde ich auch. Aber der Termin ließ sich nicht aufschieben. Schläft Jan noch?“
„Er kommt gleich. Er macht uns Frühstück.“
Ich will mich erheben. „Sollen wir ihm nicht helfen?“
„Er macht das schon. Er kümmert sich gern um alles.“
„Ja, so einen Mann wünsche ich mir auch.“
„Wirklich?“ Mia öffnet die Augen, sieht mich direkt an. Ich wundere mich über den leicht gereizten Ton in ihrer Stimme.
„Ja, durchaus. Helge und ich leben wie zwei Junggesellen miteinander. Jeder hat seinen eigenen Planeten. Mir gefällt das sogar, bedeutet aber auch, dass ich oft auf mich allein gestellt bin.“
„Findest du das schlecht?“
„Eigentlich nicht. Aber ich würde hin und wieder auch gerne so umsorgt werden.“
„Ja, Jan sorgt sich um alles: um die Kinder, die Enkel, das Haus, den Einkauf, das Auto, einfach um alles.“ Ihre Stimme ist etwas lauter geworden, jetzt schwingt Aggressivität mit.
Sie fängt sich. „Aber es ist wohl gut so, wie es ist.“
Wir lehnen uns zurück, schließen die Augen und drehen uns wieder der Sonne zu.
Jan trifft mit einem großen Tablett ein. Er stellt es neben mich auf die Bank, holt den Tisch zu uns heran und beginnt mit dem Eindecken. Ich möchte ihm helfen. „Nicht nötig, ich hab das gleich.“
Über den Tisch blickend und kontrollierend, ob alles da ist, fragt er: „Mia, hast du an deine Tabletten gedacht?“
„Gleich.“
Mia streicht Butter auf ihren Toast. Jan steht auf, geht ins Haus und kommt mit den Tabletten zurück. Wortlos legt er zwei neben ihre Tasse.
„Danke“, sagt Mia, legt die angebissene Scheibe zögernd auf den Teller und nimmt die Tabletten mit etwas Orangensaft.
Jan ist mit seinem Frühstücksei beschäftigt. „Das ist schon wichtig, dass du die Tabletten immer zur gleichen Zeit nimmst.“
„Ja, Schatz. Ich denke daran.“
Auch Jan ist schwer geworden. Ich bin sicher, dass er keinen Sport mehr treibt.
Als er den Tisch rüberholte, hörte ich es wieder, dieses raue, stoßweise Atmen.
Mir fällt der gestrige Abend ein. „Brauchst du das Nitro-Spray oft?“
„Eigentlich nicht. Aber ich sollte es in der Nähe haben. Deshalb habe ich immer eins bei mir: im Bademantel, in der Hosentasche, am Bett, im Auto. Meine Herzklappen wollen nicht mehr so recht und bei einer Überanstrengung fehlt mir schon mal die Luft. Ist schon besser, wenn man es dann bei sich hat.“ Er unterbricht sich. „Wir wollen von etwas anderem reden: Was machen wir heute?“
„Wie wär’s mit Lucca“, schlage ich vor. „Das ist nicht weit und sicher ganz interessant. Wie ist es mit euch?“
Jan sieht Mia fragend an. „Was meinst du?“
„Mir ist alles recht.“
In Lucca trottet Mia schweigend hinter uns her. Jan redet ununterbrochen auf mich ein, während ich mir die alten Gebäude betrachte und meinen eigenen Gedanken nachhänge. Seine langen Jahre als Lehrer haben ihn geprägt und er kann nicht anders, als mir das zu erklären, was ich ohnehin sehe. Mich amüsiert der Gedanke, dass er immer zu einer imaginären Schulklasse spricht. Auch ein Teil seiner ständigen Besorgtheit ist wohl seinem Beruf zuzuschreiben.
Als wir am späten Nachmittag zurückkommen, beschließen wir, das Schwimmbad zu testen.
In der kleinen Kapelle warte ich auf die beiden. Zwei kleine Reihen geschnitzter Bänke, davor, etwas erhöht, der Altar mit einer rosa-blauen Madonna. Der Raum wirkt wie die Miniatur einer Kirche. Ich setze mich in die erste Reihe und stelle mir vor, wie die alten Besitzer vor oder auch nach der Arbeit am Altar knieten und ein kurzes Gebet zur Madonna schickten, manchmal vielleicht ihre Wünsche mit dem Anzünden einer Kerze unterstrichen. Durch die bunten Scheiben fällt sanftes Sonnenlicht.
Die Pfützen auf den Marmorstufen sind verschwunden. Die Treppe ist wirklich unangenehm steil und wir müssen vorsichtig hintereinander gehen, uns sogar hin und wieder irgendwie festhalten. Das Geländer ist an vielen Stellen durchgerostet und zur Seite weggebogen.
Wir bleiben eine Weile zu dritt im Wasser. Mia schwimmt ruhig hin und her. Ich hänge am Rand, mache ein paar Übungen mit meinen Beinen und blicke über das Tal zur romanischen Kirche auf der anderen Seite. Die tiefe Ruhe wird nur von ein paar leisen Vogelstimmen unterbrochen.
Das Schwimmbad befindet sich auf einem Absatz des Hügels. Marco sprach davon, dass er eine Reihe von Problemen mit den Pumpen bewältigen musste. Es hat sich gelohnt, das Becken freizulegen: Der Blick über das Tal zum Dorf und zu den dahinterliegenden Bergen ist grandios.
Während Jan im Wasser bleibt, machen wir es uns in den Liegestühlen unter den Zypressen bequem.
„Wunderschön ist es hier. Alles nur für uns.“ Mias Gesicht ist entspannt. Mir kommt der Gedanke, dass dies das erste Mal so ist, seit wir angekommen sind.
„Wie geht es euch jetzt?“, frage ich.
„Gut“, kommt Mias prompte Antwort.
„Fehlt Jan die Schule nicht?“
„Ja, manchmal.“ Die einsilbigen Antworten Mias machen es mir schwer weiterzufragen. Ihr Gesichtsausdruck ist nun wieder verschlossener, abweisender. Sie betrachtet ihren schwimmenden Mann. Was ist das in ihren Augen? Ich kann es nicht deuten.
Ohne mich anzusehen, fährt Mia fort: „Jan hat jetzt fast alles übernommen.“ Ein kurzes, trockenes Lachen. „Er besorgt die Einkäufe, deckt den Tisch, räumt ab, liest die Post und sagt unserer Hilfe, was sie tun soll. Ja, so ist das. Wenn ich es recht überlege, bleibt mir einzig das Kochen. Mal sehen, wie lange noch.“ Es ist nicht nur Ironie in ihrer Stimme. Da schwingt auch noch etwas anderes mit.
Wie gut kenne ich meine Schwester eigentlich?
Mia war die Dritte von uns Vieren. Mag sein, dass ihr diese Position nicht besonders gefiel. Ich weiß es nicht. Ich war sechs Jahre älter und gerade in der Pubertät, hatte meine eigenen Probleme und bekam nur nebenbei mit, was meine jüngeren Schwestern machten. Mia löste ihr Problem: Sie wurde ein Großelternkind. So oft sie konnte, war sie bei den Eltern meiner Mutter. Hier war sie nicht mehr eine unter Vieren, hier war sie der Mittelpunkt.
Vierundvierzig Stufen. Ich habe sie beim Hinuntergehen gezählt.
Obwohl ich recht beweglich bin, muss auch ich in der Mitte kurz stehen bleiben, Luft holen. Jan folgt mir. Ich höre seinen schweren Atem hinter mir. Er schnappt nach Luft, beugt sich sehr weit nach vorne, versucht erneut Luft zu holen und fasst in seine Bademanteltasche. Er führt das Spray unter die Zunge, sprüht und wartet auf die Wirkung.
Mia ist uns langsam und behäbig gefolgt.
Sie schaut Jan an. „Diese Treppe ist wirklich nichts für dich.“
„Geht nur schon hoch und wartet nicht auf mich. Ich komme gleich nach“, schickt Jan uns voraus. Wir setzen uns in Bewegung und warten in der kleinen Kapelle auf ihn.
Auf die Madonna schauend sage ich besorgt: „Das mit Jan ist ernster, nicht wahr.“
„Ja, aber er will es nicht wahrhaben. Ich kann nichts machen.“ Pause. „Ich kann sowieso nichts machen.“
Am nächsten Tag ‚Vinci’. Wir stellen unser Auto vor dem Ort ab, steigen aus und folgen der sich windenden Straße nach oben ins Dorf. Über die grünen Bergkuppen blicken wir in die Ebene mit den Zypressen-Reihen. Wir hätten es vielleicht wagen sollen, mit dem Auto in den Ort zu fahren, denn der Weg ist weiter als gedacht. Am Ende sind wir froh, als wir vor dem Kastell stehen, in dem sich das Museum befindet. Es war Jans Idee, hierher zu fahren und dieses kleine, feine Museum anzuschauen, dass die Konstruktionen Leonardos in einer unaufgeregten Weise zeigt.
Jan ist geschafft, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Mia trifft später ein, ist weit hinter uns zurückgeblieben.
Erschöpft beschließen wir, im Straßencafé neben dem Museum einen Cappuccino zu trinken.
„Hier ist wohl Selbstbedienung. Ich geh mal rein“, sagt Jan.
Mit einem Tablett, auf dem die Tassen stehen, kommt er zurück.
„Ich hab zwei Ansichtskarten mitgebracht. Mia, du wolltest doch noch den Kindern schreiben.“
Jan stellt die Tassen vor uns auf den Tisch und legt die beiden Karten neben seine Tasse. Ich betrachte mir den kleinen Platz. Er ist ruhiger als erwartet. Nur wenige Touristen haben hier hoch gefunden.
Jan beschriftet die Karten und schiebt sie über den Tisch zwischen unsere Tassen.
„Ich hab schon mal ein paar Zeilen geschrieben. Wenn ihr eure Namen darunter gesetzt habt, bringe ich sie dort drüben zum Briefkasten.“
Wir unterschreiben. Allmählich entwickle ich einen leichten Zorn auf Jan. Seine Fürsorglichkeit beginnt mich zu stören.
Mia schöpft mit dem Löffel den Schaum von ihrem Cappuccino und schleckt ihn auf. Mir gefällt ihr leerer Gesichtsausdruck nicht. Ich spüre eine diffuse Beklemmung.
Es wird spät. Wir machen noch einen Umweg durch die Hügellandschaft mit ihren Olivenhainen und Weinfeldern. Der Himmel am Horizont hat die Braun- und Orangetöne der alten Meister angenommen. Leonardo kommt mir ganz nah: Hier ist er aufgewachsen, von hier ist er nach Florenz aufgebrochen. Meine Phantasie geht spazieren.
Der Tag war heiß, sehr heiß für Mai. Mich zieht es nach unten ins Schwimmbad. Marco hat längs der Treppe kleine Solarleuchten gesetzt, sodass die Stufen gut erkennbar sind. Die Luft ist noch warm. Auch heute sind die Hunde zu hören. Ich halte mich am Rand des Beckens fest und schaue in den faszinierenden Sternenhimmel.
Meine Gedanken sind bei meiner Schwester. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Ich spüre es, kann aber nicht sagen, was es ist. Es ist ihr Blick, der mich irritiert. Etwas geht in ihr vor.
Mia und Jan sitzen vor dem Haus unter der Außenlampe und lesen. Ein friedliches Bild.
„Morgen gibt es drüben im Dorf ein Festival. Sollen wir uns das mal anschauen?“, fragt Jan. Er hat einen Zettel in der Hand, den er als Lesezeichen benutzt hat.
„Gute Idee. Vielleicht können wir den Vormittag hier vertrödeln und nachmittags rüberwandern. Wir können auch ein Taxi rufen. Marco hat uns eine Nummer dagelassen.“
Mia schaut von ihrem Buch auf, beteiligt sich aber nicht an unserem Gespräch.
„Lass uns das morgen entscheiden“, sagt Jan.
Die beiden frühstücken vor dem Haus. Sie haben ihre Badesachen angezogen, ihre Bademäntel und zwei Bücher liegen auf der Bank.
„Ah, Frühsport“, begrüße ich sie mit einem Blick zur Bank.
„Ja, haben wir uns so gedacht. Hast du Lust mitzukommen?“, fragt Jan.
Auch Mia schaut mich fragend an.
„Ach nein, ich war ja gestern Abend erst. Ich nehme mir mein Buch, setze mich in den Schatten und lese. Geht ihr nur.“
Sie sind schon an der Gartenpforte, da sehe ich etwas leuchtend Rotes auf dem Boden vor der Bank. Es ist das Spray-Fläschchen. Auf mein Rufen kommt Jan zurück.
„Danke dir. Es ist einfach wichtig, dass ich es immer bei mir trage“, sagt er und steckt es in die Tasche.
Das Festival gefällt uns. In den Straßen des Dorfes sind lange Reihen von Tischen aufgestellt. An den Ständen gibt es fette Würste, Schinken, Käse und Weine aus der Region. Überall erklingt Musik, an manchen Plätzen wird getanzt. Wir genießen die südliche Heiterkeit. Jan kann gar nicht genug bekommen vom kräftigen Käse und von den pikant gewürzten Salsiccie-Würsten. Auch der Wein schmeckt uns ausgezeichnet. Das Taxi, mit dem wir gekommen sind, bringt uns zurück.
Die Luft ist immer noch sehr warm und schwül, für die Nacht ist ein Gewitter angekündigt.
Wir setzen uns eine kleine Weile auf die Bank und lauschen dem allgegenwärtigen Zirpen der Grillen.
Ich verabschiede mich, gehe auf mein Zimmer. Beim Schließen der Holzläden sehe ich, dass der Himmel sich verändert. Wolken ziehen auf.
Unbeeinträchtigt vom Bellen der Hunde und den Geräuschen des ausklingenden Festivals sinke ich in einen weinseligen Schlaf.
Ich wache auf. Regen peitscht gegen die Holzläden, es donnert und die Fenster schlagen an ihre Rahmen. Ich stehe auf, zucke zusammen. Ein anderer Laut hat sich in die Geräuschkulisse gemischt, etwas wie ein entferntes Stöhnen oder Schreien. In den nächsten Minuten horche ich angestrengt, höre aber nur das laute Prasseln des Regens. Ich scheine mich getäuscht zu haben. Vielleicht war es nur der Schrei eines Nachtvogels.
Die geschlossenen Fenster dämpfen die Geräusche und lassen mich ruhig wieder einschlafen.
Irgendwann später steht Mia in der Tür. Sie ist aufgelöst.
„Jan ist nicht da.“
„Wieso, nicht da? Was ist passiert?“
„Keine Ahnung. Wir waren schon im Bett, als mir einfiel, dass ich mein Buch unten am Becken vergessen habe. Ich konnte ihn nicht zurückhalten. Er fürchtete, dass es nass werden würde, hat was übergezogen und ist los. Ich bin eingeschlafen und gerade erst wach geworden. Er ist nicht da.“
Ich ziehe eine Weste über.
„Komm, lass uns nachschauen. Ich hole die Taschenlampe.“
Das Wetter hat sich beruhigt. Auch der Wind hat sich gelegt. Die Nacht ist dunkel, nur die kleinen Solarlampen markieren den Weg. Jan ist nicht zu sehen. Wir öffnen die kleine Gartentür. Meine Lampe bestreicht mit ihrem Strahl die Treppe. Nichts ist zu erkennen.
„Mia, bleib bitte hier. Ich gehe runter. Es reicht, wenn einer nachsieht.“
Vorsichtig nehme ich Stufe für Stufe. Auf ihnen hat sich wieder Regenwasser gesammelt. Am Schwimmbad ist nichts. Ich finde auch kein Buch und steige wieder hinauf.
Mia steht wartend an der Gartentür.
„Nichts“, sage ich.
Wir gehen zum Haus, kommen an der kleinen Kapelle vorbei. Ich schiebe die Tür auf, leuchte in die Dunkelheit und sehe Jan merkwürdig gekrümmt vor dem Altar liegen. Neben ihm Mias Buch.
Herzversagen. Marco ist gekommen und hat uns geholfen, die Formalitäten zu klären. Der Leichenwagen hat Jan abgeholt. Er wird nach Deutschland überführt werden. Wir können abreisen.
Mia sitzt in der dunklen Küche und blickt auf die Treppe, ohne sie zu sehen. Ihr ausdrucksloses Gesicht verbirgt ihre Gefühle. Ich weiß nicht, wie ich sie ansprechen kann, und gehe nach oben.
Während ich unsere Sachen packe, überdenke ich die letzten Tage. Jans Bademantel hängt am Haken, er ist noch etwas feucht. Vielleicht sollte ich ihn in einen Plastikbeutel legen. Ich falte ihn zusammen und streiche über den samtigen Frotteestoff. Meine Hand bleibt liegen. Wie aus einem Nebel steigt in mir ein verwirrender Gedanke auf. Ich fasse in die Seitentasche. Nichts. Auch die andere Tasche ist leer.
Ich will Gewissheit, gehe an Mia vorbei, überquere den Hof, öffne die Tür der Kapelle.
Meine Augen suchen den Boden ab. Nichts. Langsam gehe ich zur Gartenpforte, bleibe stehen, schaue über die Treppe in die Tiefe. Die kleinen Pfützen auf den weißgelben Stufen halten meinen Blick fest.
Ganz allmählich begreife ich. Meine Suche ist sinnlos. Ich werde nichts finden.
Die Erkenntnis der Wahrheit macht mich fassungslos. Niedergeschlagen trenne ich mich vom Anblick der Treppe und gehe zurück zum Haus.
Es ist kühler geworden und stiller. Die Grillen sind verstummt.