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Die Langeweile der Geschäftsreisenden
Deutschland, Freitag um halb zehn Uhr morgens, eine Zugfahrt von Süden nach Norden. Im Großraumabteil sammeln sich die unvermeidlichen Schlipsträger, dazwischen einige konventionelle Reisende. Am Bahnsteig hatte ich sogar zwei Rucksäcke gesehen. Ansonsten: Handys, Laptops, seriöse Tageszeitungen. Mehr oder auch weniger geschmackvolle Erkennungsmelodien der einzelnen Mobiltelefone: Walkürenritt, Rigoletto, manchmal aber auch ein ordinäres Dideldum. Ich ziehe mich zurück, in ein inneres, akustisches Reservat. Der CD-Player macht es möglich. Bach: Johannespassion. Ein Klangteppich von bewundernswerter Ruhe zieht vor meinem Ohr vorbei, draußen die Schrotthalden eines württembergischen Industriegebietes, dann ein Kraftwerk. Herr unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist! Bisher war ich alleine geblieben, ein verschüchtert wirkendes weibliches Wesen hatte kurz den Platz neben mir eingenommen, war aber nach kurzem und ohne Wortwechsel schon wieder ausgestiegen. Der Zug ist zu leer, als dass sich eine oder einer jener von Zeit zu Zeit vorbei schwebenden oder stolzierenden, gestylten Geschäftsreisenden in meiner Nähe niederlassen würde. So bleibe ich alleine und ein aufmerksamer Beobachter dessen, was sich da so tut. Heute sitzt weder ein krisengeschütteltes Pärchen in Hörweite, noch zwei alte Busenfreunde, die ihre jeweiligen Eheprobleme miteinander diskutieren.
Selbst wenn es so wäre, würde ich es nicht mitbekommen, dem CD-Spieler und Bach sei Dank. Immer noch Herr unser Herrscher, ein weiteres Industriegebiet. Reich ist unsere Zeit geworden, durchorganisiert, fixiert auf reibungslose kommerzielle Abläufe. Der Schaffner, der in unfreundlichem Ton einen Schlipsträger anpöbelt, sieht das sicher genau so. In der Sitzreihe vor mir lebt eine Geschäftsfrau, deren Aussehen ich noch nicht erhaschen konnte. Einziges Zeugnis ihrer Anwesenheit war ein kurzes Telefonat, es ging offenbar um die Ankunft irgendwelcher Gäste bei einer Freundin. ... echt unkompliziert, normalerweise, ... Isomatte und Schlafsack ... kein Stress ... Wen suchet ihr? Jesum von Nazareth! Ein schmierig, wolkenverhangener Himmel verbirgt die Sonne, niemand liebt mich, bei mir ruft niemand an ... offenbar bin ich nicht wichtig, nicht wichtig genug, noch zumindest. Stecke Dein Schwert in die Scheide. Soll ich den Kelch nicht trinken, dem mir mein Vater gegeben hat? Bei jeder Station steigen unterschiedliche Leute ein, manchmal sieht man es ihnen an, wo sie her stammen, vielfach wird es klar, sobald sie den Mund aufmachen. Deutschland, deine Dialekte. Wie war die Statistikg leich nochmal gewesen? Sächsisch am unteren Ende der Beliebheitsskala nur knapp geschlagen von schwäbisch? Zynische Gedanken, es war aber Kaiaphas, der den Juden riet, es wäre gut, wenn ein Mensch würde umbracht für das Volk.
Kurze Haare, ein Parfüm, das selbst meine grippegeschundene Nase in Sekundenschnelle durchbricht. Alter, um die Mitte vierzig, egal, vorüber ist vorüber, die Türen schließen sich. Menschen auf der Suche nach ihrem Platz, ablesen der Reservierungen, für kurze Zeit Heimat finden in jenem rollenden Blechkasten der nirgendwo zu Hause ist. Die Fahrtrichtung hat sich gedreht, die Dinge ziehen nicht mehr an mir vorbei, sondern kommen auf mich zu. Ein eindrucksvoller Wechsel der Perspektive, ohne dass ich etwas dafür tun musste. Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten und lasse dich nicht, mein Leben mein Licht. Querflöte, sanftes Pizzikato. Ist das eine ein Cembalo oder eine Gitarre? Jedenfalls klingt es so. Was für Banause bin ich doch, so wenig weiß ich über die Musik, die ich liebe. Bosch links, Bosch rechts, Zeugnisse schwäbischen Fleißes.
Pullover, mittellange Haare, Jeans, jung, das Selbstbewußtsein ist ihren Schritten anzusehen. Vorüber. Petrus aber stund bei ihnen und wärmete sich. Ich habe frei, öffentlich geredet vor der Welt. Ich habe allzeit öffentlich geredet in der Schule und dem Tempel. Ich habe nichts im verborgenen geredet. Als aber solches redete gab ihm der Diener einer, die dabei stunden einen Backenstreich. Der Zug ist auf jene schnurgerade Neubaustrecke eingefahren, auf welcher er endlich seine gesamte Kraft entfalten kann. Links Wälle, rechts Lärmschutzwände, dann ein Umspannwerk, dann ein Tunnel. Der Waggon hat sich gefüllt, dennoch bleibe ich, so wie die meisten derer, die mit mir reisen, alleine. In Gesellschaft alleine sein, noch 47% Energie enthält jener Akku meines Laptops, der es mir ermöglicht, meine Gedanken niederzuschreiben.
Nun habe ich sie gesehen, sie ist aufgestanden. Stiefel, Samtrock bis über die Stiefelkante. Oben eine Bluse, ein dezentes Halstuch. Understatement, Ohrstecker, leicht getönte Haare, zusammengespannt durch eine Haarklammer. Das Alter ist schwer zu schätzen im Profil, ich tippe auf Mitte bis Ende 30. Ruhig gleitet die Passion dahin, der Zug röhrt leicht schaukelnd durch einen weiteren Tunnel. Da ging Pilatus zu ihnen heraus und sprach: Was bringet ihr für Klage wider diesen Menschen? So nehmet ihr ihn hin und richtet ihn nach eurem Gesetze. Wir dürfen niemand töten. Flöten, Orgeln Streicher, rapides Descrescendo.
Blonde lange Haare, ein kleines Kind auf dem Arm. Toilette. Bist Du der Juden König? Was hast Du getan? Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Schütteres Haar, Bierbauch, einen noblen Eindruck erweckend nur durch seine Schritte. Vaterfigur, würde als König passen bei Shakespeare oder in der Oper, vorüber. Streicher, Chor, langsames Tempo. Mir fällt ein, dass ich nur die erste CD der Passion mitgebracht habe, mehr aus Zufall, denn ich hatte vergessen, sie aus dem Spieler zu nehmen. Was ist Wahrheit? Ich kann keine Schuld an ihm finden. Wollt ihr, dass ich diesen losgebe? Nicht diesen, sondern Barrabam. Barrabas aber war ein Mörder. Celli, Bariton, am Horizont ein Atomkraftwerk, der Himmel verdüstert sich. Noch 20 Minuten, dann muß ich einpacken, umsteigen, hoffen, dass der Anschlusszug pünktlich sein wird. Den zweiten Teil der Passion muss ich dann vor meinem geistigen Ohr abspielen. Eine Lärmschutzmauer zieht vorbei, kilometerlang, 5 Meter hoch. Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken in allen Stücken dem Himmel gleiche geht. Draussen regennasser Asphalt, der Zug wird langsamer, ein Tunnel. Man beginnt sich anzuziehen. Ich packe zusammen und mache mich bereit umzusteigen. Endzeitstimmung. Die Batterien meines CD-Players machen es nicht mehr lange, auch der Laptop wird bald seinen Geist aufgeben. Die Tenorarie zieht sich, dann kommt der Bahnhof.
Zugwechsel. Eurocity Hanseat, fast voll. Komplett andere Atmosphäre. Walküre erster Akt, noch 35% im Akku, bei 20% ist Schluss. Wes Herd dies auch sei, hier muss ich rasten. Witziger Zufall am Rande, die Geschäftsreisende aus dem ersten Akt ist auf dem Sitz mir gegenüber gelandet. Und was noch witziger ist, ihrer Lektüre nach scheint sie aus der Mikroelektronikbranche zu kommen, wenn mein Akku am Ende ist, werde ich mich wohl mit ihr unterhalten. Mutig dünkt mich der Mann. Was für ein Unterschied: Kindergequengel, lautstarke Unterhaltung, massives Geschaukel, dazu opulente Orchesterklänge. Eine Kollektion von Müllautos, dann Felder. Sie könnte auch aus dem universitären Bereich kommen, wir werden das klären. Auch Wagner nimmt sich Zeit, das Geschehen auszuwalzen. Während sich Siegmund süße Labung zuführt, zerrinnt mir die Zeit unter den Fingern, im wahrsten Sinn des Wortes. Dies Haus und dies Weib sind Hundings eigen. Das waren noch Zeiten. Und heute? Ein Handy klingelt, die Sonne lacht mir nun neu. Sie ist müde, die Studie oder der Vortrag, welchen sie eigentlich anschauen sollte oder wollte liegt auf dem Tisch, sie hat die Augen geschlossen. Wie kann man hier Ruhe finden? Ich versenke die Kopfhörer tiefer in den Ohren, doch immer noch dringt eine Mischung aus Gerumpel, Gemurmel von aussen auf mich ein. Auch Wagners weit ausgebreitete Klangteppiche helfen da nicht. Ein Held durchläuft den Großraumwagen, jung, mittellanges Haar, violettes Hemd, in der Hand einen Joghurt und ein belegtes Brötchen, allzu schnell entschwindet er meinen Blicken. Noch 32%, nicht bringst Du Unglück dorthin, wo Unheil im Hause wohnt. Sie ist wieder aufgewacht, kein Wunder, so wie es hier zugeht. Halbschlafend wirft sie eine Blick auf das Manuskript, um dann wieder aufzugeben. Hunding will ich erwarten. Ein weiterer Klangteppich, Streicher, piano, dann das Hornmotiv. Zweieinhalb Stunden muss ich in diesem Zug verbringen, mir graut bei der Vorstellung.
Hunding kommt hereingestampft, Sieglinde erklärt ihm, wo der hereingeschneite Typ zu ihren Füßen herkommt. Laubwald, das Hornmotiv, jemand trampelt auf meiner Laptop-Tasche herum, war das Hunding gewesen? Welche Schlimme Pfade schufen dir Pein? Der Zug scheint bald zu halten, es bricht Hektik aus. Noch 28%, nun ist es gleich vorbei. Ich könnte die moderne Technik manchmal verfluchen. Schon wieder ein Mosaikstück eines Klanggemäldes. Streicher, Holzbläser, piano. Sieglinde möchte den Namen Siegmunds wissen, eine ausgiebigere Diskussion entspinnt sich zwischen den beiden. Der Grund für die Hektik wird mir klar, nächster Halt ist Frankfurt Flughafen. Hornmotiv, Siegmund erzählt von seiner Jugend, seiner verschollenen Zwillingsschwester, dem Tod der Mutter. Verschwunden in Gluten der Schwester Spur. Ein trister Himmel deckt die Landschaft, Baubaracken, Einfahrt in den Bahnhof. Gleich wird aufkommen, wer Siegmund ist. Ein wunderbares Gewebe aus Hormmotiven begleitet Siegmunds Erzählung. Noch 25%, mich drängt es zu Männern und Frauen. Der Zug leert sich, was schlimm immer mir schien, andere gaben ihm Gunst. Die Zeit scheint still zu stehen, ebenso wie der Zug. Langsam tröpfeln neue Passagiere herein. Es ist immer wieder erstaunlich, wie so ein Zug von Station zu Station seinen Charakter ändern kann. Ruhe kehrt ein. Sterben sah ich die Maid. Mich hetzte das wütende Heer. Hinter mir scheint eine Blase lautstarker Deutschschweizer eingetroffen zu sein. Nun weißt du fragende Frau, warum ich Friedmund nicht heisse. Nun ist es heraus. Ein weiterer wunderbarer Klangteppich geht dem Wutanfall Hundings voraus, dann verhaltend startend die Explosion. Ich weiss ein wildes Geschlecht, verhasst ist es allen und mir. Zur Rache ward ich gerufen, Sühne zu nehmen für Sippenblut. Nun ist der Akku tatsächlich am Ende. Mit starker Waffe wehre dich morgen! Den Nachttrunk rüste mir und harre mein zur Ruh. Die restlichen Prozente spare ich mir, um später noch festhalten zu können, wer sie ist.
Nun bin ich informiert. Sie heißt Silke, ist promovierte Physikerin und arbeitete früher in Hamburg. Wieder einmal einer jener unglaublichen Zufälle, sie kennt eine ganze Reihe von Leuten, die ich auch kenne, unter anderem einen alten Freund von mir. Sie ist ehrgeizig, jung, stolz darauf, schnell studiert zu haben. Ansonsten Pokerface. Keinen Ehering, aber einen Doppelnamen. Studium in Hamburg, nun Arbeitsplatz in München. Von der Experimentalphysik in die Halbleiterei. Unterwegs war sie zur Vorstandssitzung der DPG in Bad Honnef, scheint da irgendwie mitzumischen und hat zu diesem Zweck Sonderurlaub bekommen. Aha. Insgesamt der Typ von Frau, den ich nicht ausstehen kann, zu glatt zu zielstrebig, zu ehrgeizig, würde über Leichen gehen? Verdammt wenig Angriffsfläche, keinerlei Einblick in das Privatleben. Mit keinem Wort hat sie nachgefragt, was ich eigentlich mache, wer ich bin. Arbeit als Lebensinhalt? Ob sie einsam ist, oder einfach zu beschäftigt, um darüber nachzudenken? Die Arbeit macht jedenfalls Spaß, junges Team, alles super. Unsere Wege haben sich getrennt, unverbindliches Lächeln, viel Spaß bei der Vorstandssitzung. Und Tschüß.
Einen Tag später, Samstag in Deutschland, unterwegs von Norden nach Süden, voller Akku. Immer noch Walküre, erster Akt, aber komplett anderes Publikum. Großmutter mit Enkel, Oma, Opa, Freizeit-Bahnfahrer. Im Fahrplan geht es darunter und drüber, wegen Bauarbeiten auf einer der Hauptstrecken. Ich bin gefangen in einem Zug, der die Umleitungsstrecke entlangkriecht. Ein Schwert verhieß mir der Vater, ich fänd es in höchster Not. Waffenlos bin ich in Feindes Haus, seiner Rache Pfand raste ich hier. Ein Weib sah ich wonnig und hehr. Entzückend Bangen zehrt mein Herz. Zu der mich nun Sehnsucht zieht, die mit süßem Zauber mich sehrt, im Zwange hält sie der Mann, der mich wehrlosen höhnt. Ein nett wirkendes Mädel hat sich mir gegenüber niedergelassen. Vielleicht Mitte zwanzig, vermutlich Studentin. Reisegepäck ein Rucksack. Sie ist schlank, geschmackvoll, aber nicht übertrieben weiblich gekleidet. Mir fällt ihre schmale Hüfte auf, und ihr Gesicht verstrahlt etwas leicht herbes. Werde ich erfahren, ob sich diese Herbheit in ihrem Wesen widerspiegelt? Ich bins, höre mich an. In tiefem Schlaf liegt Hunding, ich würzt ihm betörenden Trank. Eine Waffe laß mich dir weisen.
Langsam ziehen des Rheines Fluten vor meinem Auge entlang, vielleicht sollte ich die CD wechseln, doch besser das Rheingold? Ein Fremder trat da herein, ein Greis in grauem Gewand: Tief hing ihm der Hut, deckt ihm der Augen eines, doch des andern Strahl, Angst schuf es allen. Auf mich blickt er und blitze auf jene, als ein Schwert er in Händen schwang. Am Himmel dämmert der Tag seinem Ende entgegen, Siegmund versucht Sieglinde herumzukriegen, trotz des ausschweifenden Kompositionsstiles kostet es ihn nur wenige Takte. Meine mir gegenüber sitzende Sieglinde wühlt sich durch irgendein Uni-Skript. Winterstürme wichen dem Wonnemond. Oh Gott ist das schwülstig. Holde Düfte haucht er aus. Ächz. Mit zarter Waffenzier bezwingt er die Welt.
Was drücken wir eigentlich dadurch aus, wie wir uns kleiden? Was bedeutet jener weit hochgezogene Pullover, die grau geringelten Socken, die massiven Schuhe mit gutem Profil? Die bräutliche Schwester befreite der Bruder. Zertrümmert liegt, was je sie getrennt. Oh welche Unzucht! Draussen immer noch des Rheines bräunliche Fluten, eine unangenehme Assoziation steigt in mir hoch, braune Fluten, brauner Sumpf, Wagner. Süßeste Wonne, seligstes Weib. Eigentlich ekelt er mich an, seine Lebensgeschichte, sein Frauenbild. Und dennoch finde ich den alten Wüstling faszinierend.
Wie einfach ist das doch, einige wenige Takte, ein muskulöser Oberkörper, schmalzende Streichermotive und zack drüber. Männer sind Schweine. Hat Wagner hier seine innersten Phantasien ausgelebt? Wie würde das mir gegenüber sitzende Mädel dreinschauen, wenn sie wüßte, was ich hier schreibe? Ich verbrauche einige Gedanken, wie ich eine Konversation anfangen könnte. Du bist das Bild, das ich in mir barg. Ich müßte die Kopfhörer abnehmen, einen geeigneten Einstieg finden, was schwierig ist. Da ist es bei Wagner einfacher. Er sieht sie und sie sieht ihn, kein Kommunikationsproblem, dafür aber bald ein tödliches Ende, aber soweit sind wir noch nicht. Siegmund heiß ich und Siegmund bin ich!
Lastkahn an Lastkahn quält sich den Rhein nach oben. Ein Lächeln von meiner herben Schönheit gegenüber. Nothung so nenn ich dies Schwert. Nothung zeig Deine Schärfe, heraus aus der Scheide, zu mir, quiek. Siegmund, den Wälsung siehst du Weib. Als Brautgabe bringt er dies Schwert. Oh welche Unzucht! Fern von hier folge mir, fort in des Lenzes lachendes Haus. Dort schu"tzt dich Nothung, das Schwert. Oh je, du alter Traumtänzer. Du wirst Dich noch wundern. So blühe denn, Wälsungenblut, ein sich überschlagendes Orchester, ein auskomponierter Orgasmus, Ende des ersten Aktes.
Den nächsten Akt spare ich mir zur Hälfte, das Duett Wotan-Fricka finde ich einfach unerträglich. Ich steige da wieder ein, wo endlich Brünnhilde auftaucht. Siegmund, sieh auf mich! Ich bins der bald du folgst. Es ist faszinerend, wie unrealistisch diese Handlung ist und wie gleichzeitig mit absoluter Schonungslosigkeit die Charaktere gezeichnet wurden. Der fünfjährige Sebastian von nebenan spielt Löscheinsatz. Wer bist du, die so schön und ernst mir erscheint? Schön und ernst? Vielleicht ist herb, eine zu harte Terminologie. Abenddämmerung am Rhein und meine Schönheit gegenüber tritt mir sanft gegen das Schienbein. Ein langsames, dunkles Streichermotiv. Siegmund will wissen, was in Walhal gespielt wird. Ich versuche dem Skript anzusehen, was sie studiert. Vielleicht Biologie, oder Chemie? Wotans Tochter reicht Dir treulich den Trank. Das klingt doch gar nicht schlecht. Siegmund ist aber nicht vollständig überzeugt. Die herbe Schönheit bearbeitet ihren Taschenrechner, begleitet den Bruder, die bräutliche Schwester, umfängt Siegmund, Sieglinde dort? Erdenluft muß sie noch atmen, Sieglinde sieht Siegmund dort nicht. Grüße mir Walhal, grüße mir Wotan. Es ist ein Motiv, das mir kalte Schauer den Rücken herunter laufen läßt. Ein wunderschöner Tag geht zu Ende, blauer Himmel einzelne zarte Wolkenschleier, Brünnhilde prophezeiht Siegmund seinen Tod.
Sebastian ist nun endlich mit einem Bilderbuch ruhiggestellt. So jung und schön erschimmerst du mir: doch wie kalt und hart erkennt dich mein Herz. Ein hartes Urteil. Ich sehe die Not, die das Herz Dir zernagt. Und dann hat er sie auch schon herumgekriegt. Wie macht dieser Siegmund das bloß? Nun ja, aber schließlich zählt nur der endgültige Erfolg. Und wie wir wissen, wird der kleine in Kürze von seinem eigenen Vater erschlagen werden. Zunächst aber ein weiteres jener opulenten Klanggemälde, bevor Hunding herbeigetrampelt kommen wird. Sebastian hat eine Maus im Bilderbuch entdeckt, seine Erkenntnis dringt bis unter meine Kopfhörer durch. Eine Maus, mittlerweile wissen es alle. Wo bleibt Hunding? Wagner kann sich einfach nicht kurz fassen. So schlummere denn fort, bis die Schlacht gekämpft und Frieden Dich erfreut. Na du wirst dich wundern. Endlich kommt Hunding. Wehwald, Wehwald, blutrote Reste der Abenddämmerung, ein kurzer Blick von der herben Schönheit. Steh mir zum Streit, sollen nicht Hunde dich halten! Traue dem Schwert, Walkürenmotiv, Wotan kommt und Exitus. Das Ende eines Frauenheldes.
Die Nacht bricht herein über Deutschland, ein miniaturisiertes Trauermotiv, dann die Flucht der Walküre mit Sieglinde. Sie hat kräftige Hände, keine zarten schlanken Frauenhände. Die Hände passen zum Gesicht, wer ist dieses Mädel? Auch Hunding ist verstorben, Wotan bekommt seinen Wutanfall. Auskomponiertes Adrenalin, die herbe Schönheit ist mir auf den Fuß gestiegen. Dann endlich der Walkürenritt. Wie unspektakulär die Szenerie vor dem Fenster: Gebüsch, ein nahender Bahnhof, Straßenlaternen. Wie liebe ich dieses Motiv in seiner Urgewalt. Mir kommen Bilder in den Sinn, wie diese Musik mißbraucht worden ist: Voranstürmende deutsche Panzer im 2. Weltkrieg, amerikanische Hubschrauber in Vietnam. Urgewaltige Musik zu gewalttätigen Bildern, aber unbestritten wirksam. Es ist Nacht geworden, schemenhaft ziehen rauchende Indstrieanlagen draußen vorbei, während die Walküren ihren Felsen umkreisen. Nochmals das Walkürenmotiv, diesmal mit kräftig Schlagwerk. Hojotohe! Welch ein Stumpfsinn. Und dann dieses seichte Geplauder der Walküren. Ist das auskomponierter Frauenhass? Während die Walküren hartnäckig oberflächlich bleiben, habe ich genug und sowohl CD-Player als auch Laptop wandern in die Aktentasche.
Szenenwechsel, Stunden später, ein Psychogramm: Sie ist sportlich, studiert Umwelttechnik als Fernstudium, arbeitet untertags im Reisebüro. Ein nettes Mädel, natürlich, naturliebend, reisefreudig. Sie fährt Rennrad und Mountainbike. Irgendwie sieht man ihr die Sportlichkeit an, kein Gramm Fett und auch keine typisch weibliche Figur. Das mit dem Studium läuft nebenbei, der Bürojob hängt ihr zum Hals heraus, die Tätigkeit als Reiseleiterin hat ihr eine Weile Spaß gemacht, die lange Zeit im Ausland war ihr aber dann doch zu anstrengend. Geboren ist sie in einer oberbayrischen Kleinstadt, man hört es ihr aber überhaupt nicht an. Ich glaube fast, etwas hartes, slawisch wirkendes in ihrem Dialekt entdeckt zu haben, möglicherweise sind ihre Eltern nicht deutsch. Ich habe zu Rheingold gewechselt, harmonisches Geträller der Rheintöchter, von Zeit zu Zeit unterbrochen vom geilen Gegeifer Alberichs. Wer ist dieses Mädel? Ich weiß eine Aufreihung von Oberflächlichkeiten, deutlich mehr als von der Physikerin auf der Hinfahrt, tappe aber dennoch im Dunkeln. Fing eine diese Faust! Sie hält ihr inneres wohl gehütet, kein Hinweis daraufhin, was sie bewegt. Rheingold, Rheingold! Das Innerste Selbst als kostbarster Schatz, wohl gehütet von drei oberflächlich dahinträllernden Nixen. Ich gebe einen schlechten Alberich ab, von jenem goldene Kern habe ich noch nicht den geringsten Hauch gesehen.
Trekkingreise nach Nepal ist ein wertvolles Detail, aber mit wenig Aussagewert. Nur wer der Liebe Macht entsagt. Was sie wohl für ein Bild von mir hat? Die Rheintöchter sind eine wie die andere ziemlich treu doof, naiv, aber sie? Ich muß wieder an Wagners Frauenbild denken. Erzwäng ich nicht Liebe, doch listig erzwäng ich mir Lust! Männer sind Schweine, wenigstens kommen beide Geschlechter bei ihm gleich schlecht weg. Was wohl meine herbe Schönheit, deren Namen ich immer noch nicht kenne, von mir wohl denkt? Bin ich der lüsterne Alb für sie, oder eher die verschrullte Wissenschaftlerin? Nur wer der Liebe Macht entsagt geistert durch das Orchester, meine herbe Schöne hat sich in den Speisewagen zurückgezogen, um etwas zu trinken. In einer Stunde werden sich unsere Wege trennen. Ich erinnere mich an die Zeilen eines Gedichtes, die ich auf dem Flug von Amerika nach London geschrieben habe, leider ist mir der Großteil entfallen, aber die ersten Zeilen haften mir noch im Gedächtnis: Billardkugeln stoßen aneinander, um sich nach einem Moment der Berührung wieder voneinander zu entfernen. Reisebekanntschaften: Unverbindlich, oberflächlich, angenehme Abwechslung auf einer nervtötenden Fahrt.
Wotan, Fricka, Diskussion über Verträge, Freia und männliche Machtgier. Wir hatten kurz diskutiert, über das Leben an sich, über die Berge, über Städte, in welchen das Leben auszuhalten ist und andere, die auf die Dauer auf die Nerven gehen würden. Ich hatte einige Pfeile verschossen, die allesamt ins Leere liefen. Ich erinnere mich an die boshafte Bemerkung, die irgendjemand einmal in fernen vergangen Zeiten über eine Klassenkameradin gemacht hatte: Stille Wasser sind flach. Wie unterschiedlich die beiden Bekanntschaften auf dieser Reise: Weltgewandtes, demonstrativ selbstbewusstes Auftreten gegen ruhige Zurückhaltung, sportliches Understatement. Ist es der Altersunterschied, der Status, der familiäre Hintergrund? Freia ist mir nicht feil. Ich erinnere mich an eine Diskussion, die ich vor allzulanger Zeit am anderen Ende der Welt mit einer reisenden Schweizerin gehabt hatte: Auf Reisen ist es einfach, Kontakte zu knüpfen, etwas von seiner Persönlichkeit preiszugeben, geschützt durch eine Anonymität, durch die Einmaligkeit der Begegnung. Der Gedanke hat etwas faszinierendes, goldene Äpfel wachsen in ihrem Garten, sie allein versteht die Äpfel zu pflücken. Wer ist dieses Mädel, ich werde es wohl nie herausfinden. Sollten wir uns nicht zufällig in den Bergen noch einmal begegnen, werden wir uns nicht wiedersehen. Billardkugeln stoßen aneinander, sich für einen Augenblick berührend, um dann wieder auseinanderzustreben. Wie ging es weiter, ich kann mich nicht erinnern. Sie kommt aus dem Speisewagen zurück, es folgen noch einige Minute angeregter Unterhaltung. Sie ist lockerer geworden, ein nettes Lächeln, offen geradlinig wirkend. Dann hält der Zug an ihrer Station, wir verabschieden uns, das war es. Keine Namen, keine Telefonnummer, wir scherzen nur daß wir uns irgendwo im Gebirge wiedertreffen werde. Ich lege absichtlich nochmals die Johannespassion ein, der Kreis schließt sich. Herr unser Herrscher, ein hoch stehender Vollmond ziert den Nachthimmel. Noch eine halbe Stunde, dann noch 20 Minuten U-Bahn und dann das Bett. Ruhig zieht Bachs Harmonik an mir vorbei, großartig, fast ehrfürchtig lausche ich.
Draußen die finstere Nacht, ein halbleerer Zug, Abendruhe. Herr unser Herrscher! Wir hatten über die Menschen in Nepal geredet, die vielleicht glücklicher sind in ihrer Armut. Sie hat wirklich ein nettes Lachen. Leider ganz am Schluß waren wir auf Island zu sprechen gekommen, sie würde gerne einmal dorthin, hat aber niemanden, mit dem sie dorthin fahren könnte. Wen, suchet ihr? Jesum von Nazareth! Das Leben ist schon seltsam. Die Suche nach Dingen, die dann doch ganz anders kommen. Ob sie jemals einen Beruf finden wird, in welchem sie das anwenden kann, was sie gelernt hat? Sie weiß dies ebensowenig, wie ich es tue. Der Zug frisst sich durch die Nacht, Ich habe Sehnsucht nach meinem Bett. Reisen macht müde, Kommunikation auch. Nun sitzt sie in ihrem Anschlusszug, der sie hinausbringt in das Provinzstädtchen. Sie hatte wirklich ein nettes Lachen. Ob ich sie jemals wiedersehen werde? Ich würde mich freuen, ohne daß ich in Worte fassen könnte, warum. Das Leben ist seltsam.
Immer noch die Passion, Jesus wird zu Pilatus geführt. Der Zug hält an, inmitten der Nacht, 20 Minuten vor dem Erreichen meines Zieles. Eine Lautsprecherdurchsage, Personenunfall also Selbstmord? Ein hämisch grinsender Vollmond ziert den Nachthimmel. Wer hat dich so geschlagen, mein Heil und so mit Plagen dich übel zugericht? Mir geht ein Gesprächsfetzen durch den Kopf, den ich vorhin von der Oma des kleinen Sebastian mitbekommen habe: Ihr verstorbener Gatte war Lokomotivführer gewesen und hatte während seiner Laufbahn acht Selbstmorde erlebt, und einen einzigen verhindern können. Die Konsequenz waren psychische und physische Schäden, Herzinfarkte, Alpträume. Alles in allem kein Traumberuf. Eine halbe Ewigkeit später, der Zug rollt langsam weiter. Ich bin müde, muss an mein Bett denken. Wovon wohl werde ich träumen?