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Die Legende von Schwalben und Möwen
Die Legende von Schwalben und Möwen
Die Wellen schlugen gleichmäßig gegen die stählerne Außenwand des kleinen Ausflugsdampfers. Oskar stand am Steuerrad und schaute durch die auf Hochglanz polierte Frontscheibe der Kabine direkt auf den kleinen Anlegesteg. Im Aschenbecher neben der erkalteten Kaffeetasse glomm eine Zigarette schon seit Minuten ungeraucht und einsam vor sich hin.
Der Kloß in Oskars Hals wurde von Minute zu Minute größer und belastender. Noch ein Anlegemanöver, dann war´s vorbei. Die zwei einzigen Gäste an Bord standen, in ihre dicken Winterjacken gehüllt, an der Reling und unterhielten sich lautstark, um das Getöse der alten Motoren zu übertönen. Oskar verstand nicht ein Wort. Und er wollte auch nichts verstehen.
Er war vor vier Tagen 66 Jahre alt geworden und nun stand mit dem Ende dieser Fahrt nicht nur seine Rente an, sondern auch die Verschrottung der „Schwalbe“. 36 Jahre lang war er ihr Kapitän gewesen. 36 Jahre lang hatte er sie gehegt und gepflegt, sie durch Regen, Stürme, Hitze und Besucherflauten gesteuert und 36 Jahre lang war sie sein einziges wirkliches Zuhause gewesen. Wie oft hatte er mit seiner Wolldecke auf einer der mit rotem Kunstleder bezogenen Besucherbänke im Aufenthaltsbereich geschlafen? Wie oft mit einer Luftmatratze im Sommer zwischen den Holzbänken oben an Deck? Und alles nicht nur, um nicht in seine leere, stille und einsame Wohnung zu müssen, sondern vor allem, um bei ihr zu sein.
Er steuerte das kleine Schiff vorsichtig an das Kai. Das Gummi der alten Reifen berührte die eiserne Mauer fast zärtlich. Er stellte die zwei Dieselmotoren auf Leerlauf, trat hinaus auf`s Deck, nahm eines der Taue, sprang geschickt an Land und legte es mehrmals um einen der gelben Poller. Innerhalb weniger Sekunden war er wieder an Bord, griff sich ein zweites Tau und wiederholte den Vorgang vorne am Bug des Schiffes. Die Passagiere sahen ihm dabei verwundert und schweigend zu. Er war einer der wenigen, die es schafften (und es sich zutrauten), das Anlegemanöver mit dem immerhin 28-Meter langen Schiff alleine und ohne Hilfe durchzuführen.
Er kletterte zurück an Deck, betätigte die Hebelvorrichtung der hölzernen Gangway und drehte sie, mit Hilfe einer kleinen Kurbel, in die richtige Position. Dann löste er die Eisenkette und gab den Weg an Land frei. Die zwei Gäste gingen, vermummt und fröstelnd, an ihm vorbei. Nicht einer sah ihn an; nicht einer richtete ein Wort des Abschieds an ihn. Sie wollten nur noch schnell in ihr warmes Auto, das einsam auf dem viel zu leeren Parkplatz der Reederei Jochansen stand.
Gedankenverloren lehnte sich Oskar mit dem Rücken gegen die Reling und ließ seinen Blick traurig über sein Schiff wandern. Es dämmerte bereits; in weniger als einer halben Stunde würde es dunkel sein. Dann setzte sich Oskar plötzlich in Bewegung und binnen weniger Sekunden waren die Taue wieder gelöst.
***
Als Becker den Funkruf erhielt, spielte er gerade eine Partie Schach mit einem jungen Burschen, der soeben die Polizeischule beendet hatte. Als Polizist war dieser eine Niete, doch Schach spielen konnte er ausgezeichnet. Becker war froh, endlich mal wieder einen gleichwertigen Gegner zu haben, um sich die langen Wartezeiten zwischen den Einsätzen ein wenig zu vertreiben.
„Ja,....aha.....! Und wir sollen ihn stoppen?....O.K.....wird gemacht!“
Becker drehte sich zu seinem jungen Kollegen um.
„Wir müssen das Spiel verschieben. Es gibt Arbeit !“
***
„Das ist ja ne geile Story.... Natürlich mach ich das.... Ich bin in wenigen Minuten da... Kurz vor Leer? Na, das wird aber knapp...egal, schaffe ich schon...Und das Kamerateam ist schon da?... An der Gorster-Schleuse...in Ordnung...bis dann!“
Karin sprang von ihrem Schreibtisch auf, warf sich ihre braune Lederjacke über, griff nach Handtasche und Handy und verließ das Redaktionsbüro ohne auch nur einmal in den Spiegel zu schauen. Sie hatte ihren Porsche direkt vor dem Haupteingang des Fernsehsenders geparkt. Sie stieg ein, ließ den Motor aufheulen und verließ mit quietschenden Reifen das Gelände von „TV Niedersachsen“. Es war ihrem Fahrstil anzumerken, dass sie mehr sein wollte, als die Freundin des Programmdirektors und Tochter eines Landrats. Sie wollte es alleine schaffen...und zwar heute Nacht.
***
Das Wasser vor ihm war schwarz und ruhig. Die zwei Dieselmotoren tuckerten gleichmäßig und dankbar vor sich hin. Oskar stand rauchend am Steuer, die Kaffeetasse dampfte und verbreitete einen angenehmen Duft. Links und rechts am Ufer waren endlos viele Lichter zu sehen. Scheinwerfer erhellten die Nacht und Lautsprecher zerstörten die Stille. Oskar legte die Stirn in Falten. Bis Papenburg war es ein Klacks gewesen, doch so langsam wurde es eng. Die Tankuhr lächelte ihn beruhigend an. „Keine Sorge, alter Freund! Keine Sorge, ich halt´ durch.“
Der alte Mann lächelte zurück und erhöhte die Geschwindigkeit. Er wusste nicht genau, ob das, was er tat, klug war, doch er wusste, dass es das Einzige war, was er tun konnte.
***
„Was, der alte Steffans !?! Ist der Kerl wahnsinnig ? So wie ich informiert bin, müsste er sich doch eigentlich seit wenigen Stunden im Ruhestand befinden. Zusammen mit seinem rostigen Kahn!“
Kurt Jochansen saß gerade mit seiner Frau beim Abendessen, als das Telefon geklingelt hatte. Nun lief er mit gerötetem Gesicht durch das geräumige Wohnzimmer.
„Weiß die Polizei Bescheid ? Und die Küstenwache ?“
Er stürmte zurück ins Esszimmer und kippte das Glas Rotwein, das neben seinem Teller stand, in einem Zug hinunter.
„Hat man schon versucht, ihn anzufunken ?.....Und auf dem Diensthandy ? ..... Ständig besetzt! ... Gut, ich komme !“
Jochansen warf das Telefon auf den Tisch und nickte seiner Frau wortlos zu. Dann war er auch schon im Flur, im Mantel, im Wagen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass der alte Kahn ihm jetzt noch Ärger machte. Er wurde kreidebleich bei dem Gedanken, dass die „Schwalbe“ bereits seid 10 Tagen offiziell abgemeldet und ohne Versicherungsschutz lief.
***
Es war kurz vor Mitternacht. An der Schleuse hatten sich viele Dutzend Menschen versammelt. Reporter, Fotografen und Kameraleute waren in Stellung gegangen, um das Ereignis aus nächster Nähe zu betrachten und um auf keinen Fall etwas zu verpassen. Karin fror fürchterlich. Sie hatte sich das Gesicht gepudert und die Haare gekämmt. Die Testaufnahme war schon in Ordnung gewesen. Jetzt würde es jedoch noch besser werden, denn fast sekündlich kamen neue Lichter und Scheinwerfer hinzu, die das unvermeintliche Drama beleuchteten.
Ihr Kameramann hielt eine Hand hoch und zeigte ihr fünf Finger. Vier. Drei. Zwei.
***
Das Meer schien aus seinem Schlaf zu erwachen, als sich die seltsame Kunde verbreitete. „Sie kommt, sie kommt“, flüsterten zwei Möwen den immer höher schlagenden, rauschenden Wellen zu. Dann stiegen sie wieder empor in den schwarzen, mit Sternen gefüllten Nachthimmel, um es diesen zu erzählen. Doch sie wussten es natürlich schon. Sie wussten es schon lange. Sie hatten es bereits seit dem Morgen gewusst. Noch bevor es ein anderer auch nur geahnt hatte.
Enttäuscht flogen die Möwen zum Mond, doch der wollte von der ganzen Sache nichts wissen.
„Ach geht mir doch weg, mit diesen Vogelgeschichten,“ brummte er. „Es ist doch immer das Gleiche. Da flippt einer aus und schon interessiert sich niemand mehr für mich. Und dabei leuchte ich heute so schön klar. Kommt, verschwindet!“
Und damit war für den Mond die Sache gegessen. Die Möwen zogen beleidigt davon. „Das war das letzte Mal, dass wir dem was erzählen“, schnäbelte die große Graumöwe.
„Genau“, gab eine kleine Flatterschwanzseemöwe zurück, „der soll sich in Zukunft nicht wundern, wenn gar keiner mehr mit ihm redet. Der eingebildete Schnösel.“
***
Eins. Action !
„Meine sehr geehrten Damen und Herren. Mein Name ist Karin Schoh und ich stehe hier direkt an der Gorster-Schleuse, etwa 20 km nördlich von Leer. Was sich hier auf der Ems heute Nacht abspielt ist wirklich kaum zu glauben. Hinter mir sehen Sie das Unfassbare. Hunderte von Menschen haben sich um diese Uhrzeit am Emsufer versammelt, um Zeugen eines einmaligen Schauspiels zu werden. Zeugen eines Ereignisses, das dramatischer und zugleich faszinierender nicht sein kann. Es kann sich hier nur noch um wenige Minuten handeln, bis...“
***
„Und Sie haben angerufen, weil Sie meine Sendung nachts immer hören und mit jemandem sprechen wollen?“
„Ja“
„Und Sie sind jetzt gerade auf dem Wasser ?“
Erwin Schulte, der Moderator der Telefon-Radioshow, die gerade live ausgestrahlt wurde, konnte es kaum glauben.
„Ja.“
„Und links und rechts von ihnen fahren Polizeiboote?“
„Ja. Zumindest sofern es die Flussbreite zulässt. Manchmal fahren sie auch vor mir. Oder hinter mir. Je nachdem.“
„Und warum kommen die Polizisten dann nicht an Bord und stoppen Sie ?“
Schulte fingerte, nach einem Hinweis seines Tontechnikers, an der Fernbedienung eines kleinen, stumm geschalteten TV-Gerätes herum. Als er den Sender fand, stockte ihm der Atem. Da war der Ausflugsdampfer. Und da die Boote der Wasserschutzpolizei. Und an den Ufern hunderte von Menschen mit Scheinwerfern und Kameras. Schulte konnte es nicht fassen. Da geschah einmal etwas Großes und er war dabei. Er sah die Medienpreise schon auf sich zufliegen und lächelte erregt. Vielleicht konnte er ihn ja zum Aufgeben bringen.
Die Stimme des Alten auf seinem Kopfhörer klang plötzlich sehr entschlossen:
„Sie wollen wissen, warum mich niemand stoppt? Sie wollen wissen, warum sie mir sogar bereitwillig die Schleusen öffnen und mich passieren lassen?“
Schulte ging näher an sein Mikrofon heran.
„Natürlich möchte ich das wissen. Und unsere Zuhörer sicherlich auch.“
Stille in der Leitung. Fünf Sekunden. Zehn Sekunden. Fünfzehn Sekunden. Schulte begann zu schwitzen. Fünfzehn Sekunden Stille im Fernsehen waren akzeptabel, doch für eine Radioshow war das absolut tödlich.
Dann sprach der Alte:
„Ich habe eine Bombe bei mir an Bord, die so groß ist, dass man die Explosion sogar bis nach Afrika hören würde.“
Schulte wackelte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
„Eine Bombe. Oh mein Gott. Und Sie würden sie detonieren lassen?“
„Äh, na klar. Wenn mich jemand stoppt, dann macht`s Bumms. Da fackel ich nicht lange.“
Und nach einer kurzen Pause: „Ich habe mir alles genau überlegt. Ich hatte ja Zeit genug zum Planen. Und deshalb habe ich auch die 25 Passagiere, äh, Geiseln hier an Bord.“
***
Becker, der mit seinem Polizeiboot direkt hinter der „Schwalbe“ fuhr, traute seinen Ohren nicht.
„Was hat der gesagt? 25 Geiseln ? Hatte der Besitzer des Schrottkahns nicht gesagt, dass sich normalerweise keine Passagiere mehr an Bord befinden dürften?“
Sein junger Kollege zuckte nur mit den Achseln. Nun fuhren sie schon über drei Stunden hinter der „Schwalbe“ her und sie hatten noch keinen Zugriffsbefehl erhalten. Becker hatte Probleme damit, die Situation klar einzuschätzen. Er war es gewesen, der das rot blinkende Etwas direkt zu Anfang dieser Aktion in der Hand des Alten gesehen und die Kollegen darüber informiert hatte, dass es sich unter Umständen um eine Bombe handeln könnte. Der Einsatzleiter, der im Boot vor der „Schwalbe“ fuhr, hatte daraufhin erneut mit dem Alten gesprochen und Becker wenig später bestätigt, dass es tatsächlich eine Bombe war. Sie sollten einfach nur aufpassen und dran bleiben. Aber auf jeden Fall sollten sie den Alten nicht reizen.
***
- Ich bin`s noch mal. Wollen Sie nicht lieber aufgeben. Sie haben doch keine Chance. An der nächsten Schleuse ist die Fahrt zu Ende.
- Nein, ich fahre weiter.
- Jetzt sein Sie doch nicht so bockig, Mann. Ich kann ja verstehen, dass es schmerzhaft ist, nach so vielen Jahren von heute auf morgen mit dem Arbeiten aufzuhören, doch das Leben geht weiter.
- Ohne die „Schwalbe“ nicht.
- Steffans, jetzt lassen Sie uns doch mal vernünftig miteinander reden. Sie sind doch ein kluger Kopf. Bis jetzt ist noch nichts passiert. Sie halten den Kahn...
- Die „Schwalbe“ ist kein Kahn !
- Nun gut. Es tut mir Leid. Also, Sie halten die „Schwalbe“ einfach an, wir kommen an Bord und alles ist in Ordnung.
- An Ihrer Stelle würde ich mich einfach fahren lassen.
- Warum?
- Na...nur so. Ich mein` ja nur.
- Hat das etwas mit dem Ding in Ihrer Hand zu tun?
- Äh, was denn für ein Ding?
- Steffans, es reicht. Sagen Sie uns was Sie bei sich in der Kabine haben. Sofort!!
- Ich, äh...weiß nicht, wovon Sie sprechen.
- Verkaufen Sie uns nicht für dumm. Wir haben es durch´s Fernrohr gesehen.
- Ach ja?
- Ja, und wir wissen, dass es eine Bombe ist, die Sie da mit sich führen.
- Ach ja? ... Wenn Sie also schon wissen, was ich hier habe, würde ich mich lieber fahren lassen.
- Steffans, wir wollen kein Blutvergießen. Mensch. Sie waren lange Jahre ein zuverlässiger Kapitän. Ich habe mit Ihrem Chef gesprochen. Herr Jochansen hat Sie in den höchsten Tönen gelobt.
- Der soll´s Maul halten. Ich fahre weiter. Bis es nicht mehr geht.
- Spätestens die nächste Schleuse wird nicht mehr für Sie geöffnet. Darüber sollten Sie sich im Klaren sein.
- Dann fliegt eben alles in die Luft. Mir egal. Ich will nur die „Schwalbe“. Und meine Ruhe.
***
„Und Steffans, freuen Sie sich?“
Oskar saß auf seinem Hocker in der Kabine der „Schwalbe“ und starrte Jochansen an, der in seinem teuren Anzug lässig im Türrahmen stand und eine Zigarre rauchte.
„Muss doch ein großer Tag sein. In Rente gehen. Mann oh Mann. Wie gerne würde ich mit Ihnen tauschen. Nur noch relaxen. Und reisen. Amerika, Australien, Spanien....nee, ne Weltreise würde ich machen. Natürlich ohne meine Frau, ha ha. Wir verstehen uns, was?“ Jochansen schlug Oskar mit der Faust an die Schulter und dieser war für eine halbe Sekunde versucht, direkt, nur mit etwas größerer Wucht, zurück zu schlagen. Er ließ es.
„Viel ist mit dem Kahn nicht mehr los, was?“
Jochansen kramte einige Unterlagen aus einer ledernen Aktenmappe hervor und begann zu lesen.
„Hm, die „Schwalbe“ schreibt seit Jahren nur noch rote Zahlen. Zu alt, zu unansehnlich, zu langweilig. Leute von heute wollen Unterhaltung, Entertainment. Da reicht es nicht mehr, langsam mit `nem schweigsamen Seebär über die Ems zu tuckern. Heute muss alles ein Event sein. So mit Disco, Tanz, Bar und Restaurant. Und Themen. Steffans, ich sage Ihnen: Themen sind das Zauberwort der Zukunft. Letzte Woche habe ich auf der „Delphin II “ eine mexikanische Fahrt veranstalten lassen. Wissen Sie, so mit speziellen Drinks, Musik und halb nackten Mädchen. Ich sage ihnen: die Leute sind ausgeflippt, am helllichten Tag. Haben gesoffen, getanzt, geflirtet und eine Unmenge von Geld an Bord gelassen. Stellen Sie sich das doch mal auf der „Schwalbe“ vor.“
Oskar nippte an seinem kalten Kaffee. Es ging ihm hundeelend. Seine Hände zitterten und ihm war schrecklich kalt. Er wünschte sich nur, dass sein Chef bald wieder verschwand.
Jochansen schüttelte den Kopf.
„Steffans, Steffans. Sie sind wie der Pott hier. Sind einfach ´ne andere Gattung.“
Oskar nahm sich eine Zigarette aus seiner Hemdtasche und zündete sie sich an. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Den ganzen Tag über waren keine Ausflugsgäste gekommen. Und das, obwohl Herbstferien waren. Der Regen prasselte immer stärker auf das Dach der kleinen Holzkabine und Oskar musste sich anstrengen, um Jochansens Worte zu verstehen.
„Na ja, und deshalb ist jetzt auch bald Schluss mit der „Schwalbe““.
Oskar schaute seinen Chef an.
„Schluss?“
„Richtig gehört, Steffans. Schluss.“
„Verkauft?“
„Verkauft? Na ja. Wenn man´s so will. Das Ding hier geht auf den Schrott. In die Presse. Da bekomme ich wenigstens noch ein paar Scheine pro Tonne Stahl und Eisen raus. Das erste Mal seit langem, dass der Kahn mal wieder etwas Kohle abwirft.“
***
„Herzlich Willkommen zu den Spätnachrichten. Ein Drama spielt sich allem Anschein nach zur Zeit auf der Ems bei Leer ab. Ein 66-jähriger Mann hat in den frühen Abendstunden ein Ausflugsschiff gekapert und befindet sich nun auf dem Weg in Richtung Nordsee. Nach Informationen der Polizei hat er neben etlichen Geiseln auch Sprengstoff an Bord. Forderungen des Geiselnehmers sind noch nicht bekannt. Wir schalten jetzt direkt zu unserer Außenreporterin Karin Schoh, die sich momentan an der Gorster-Schleuse befindet und die Lage vor Ort analysiert.“
„Ja, vielen Dank nach Emden. Ich befinde mich unmittelbar am Ufer neben der Schleusen-Anlage, die mittlerweile von der Polizei geräumt wurde. Im Hintergrund sehen Sie Einheiten eines Spezial-Einsatzkommandos sowie der Bundeswehr. Auch niederländische Spezialisten sind inzwischen eingetroffen. Die Lage hier ist äußerst brisant. Der Ausflugsdampfer befindet sich nun ca. einen Kilometer vor der Schleuse. Man munkelt hier unter den anwesenden Reportern, dass das Ende der Geiselnahme unmittelbar bevor steht und dass es sich hier in der Schleuse abspielen wird. Noch ist nicht bekannt, ob es eine Stürmung des Schiffes geben wird oder ob nochmals versucht wird, den Geiselgangster zur Aufgabe zu bewegen. Aus Polizeikreisen war auch zu hören, dass unter Umständen nur noch der finale Rettungsschuss diese Tragödie hier beenden könnte. Denn man muss sich die Situation einmal vorstellen: Viele, viele Geiseln, darunter wahrscheinlich auch Kinder und Frauen, befinden sich in der Gewalt eines offenbar geistig verwirrten Geiselnehmers, der damit droht, sich, das Schiff und alle übrigen Menschen an Bord zu vernichten, wenn ihm nicht die freie Fahrt in den Dollart und somit auf´s offene Meer gewährt wird. Wie sie vielleicht schon dem Wetterbericht entnommen haben, wird das Wetter besonders in der Küstenregion von Minute zu Minute ungemütlicher. Über der Nordsee herrschen mittlerweile zwischen 8 und 9 Windstärken. Tendenz steigend. Da das kleine Ausflugsschiff nicht hochseetauglich ist, es hat nur 80 cm Tiefgang und keinen Kiel, würde es wahrscheinlich binnen weniger Minuten in der offenen See kentern und untergehen. Und das würde dann den Tod von vielen Geiseln bedeuten.“
***
Jochansen blies wütend eine dichte Rauchwolke aus seinem Mund. Er lief wie ein Tiger in Gefangenschaft unaufhörlich am Ufer auf und ab und brüllte dabei permanent in sein Handy:
„Nein, nein verdammt! Blödsinn. Der Typ ist kein Killer. Ich kenne ihn seit 20 Jahren und vorher ist er schon lange Zeit für meinen Vater gefahren. Der kann keiner Fliege was zu Leide tun....Nein, kann ich mir nicht vorstellen...es haben sich zwei ältere Menschen gemeldet, die aussagten, dass sie definitiv heute Abend die einzigen Gäste auf dem Schiff waren....wie sollte er denn 25 Menschen an Bord kriegen, das ist doch ein riesiger Bockscheiß...der blufft nur....und eine Bombe hat er auch nicht...niemals....der Mann will einfach nur auf seinem Dreckskahn sein, das ist alles.....der hat da mehr als sein halbes Leben drauf verbracht...nein, ich halte mich nicht da raus... ich werde nicht zulassen, dass sie einen alten Mann über den Haufen knallen, der unbewaffnet und völlig ungefährlich ist...!“
***
Die große Graumöwe und die kleine Flatterschwanzseemöwe hockten verwirrt auf einem Geländer der Schleuse. Sie konnten nicht glauben, was sie sahen. Sollten die vielen aufgeregten Menschen wirklich versuchen wollen, das zu trennen, was zusammen gehört? Das zu verhindern, was Schicksal und vorbestimmt war. Das zu zerstören, was einfach sein musste? Sie sahen einander an. Der Wind fuhr ihnen kalt und rau ins Gefieder. Ein Sturm hatte sein Kommen per Telegramm angekündigt und dunkle Wolken schoben sich vor den noch immer beleidigten Mond.
„Wir müssen etwas unternehmen, Flatterschwänzchen. Etwas unternehmen.“
„Natürlich, natürlich. Wir lassen doch einen alten Vogel nicht hängen, äh...schwimmen...äh...absaufen...“
„Sie ist aber eigentlich kein Seevogel, nicht wahr, nicht wahr?“
„Aber sie ist ein Vogel...basta !!!“
***
Schulte war durch und durch nass geschwitzt. Auf seinem Monitor konnte er verfolgen, dass der Kahn nun nur noch etwa 500 Meter von der Schleuse entfernt war. Scharfschützen waren links und rechts von der Schleuse in Stellung gegangen. Sämtliche Reporter, Kamerateams und Schaulustige standen in sicherer Entfernung hinter Absperrbändern und hielten den Atem an. Jetzt war seine Stunde gekommen. Erwin Schulte, der Radio-Gigant, würde einen gefährlichen Geiselgangster bezwingen. Ihn mit Psychologie und Intelligenz zur Aufgabe bringen und 25 unschuldige Menschen retten. Er sah sich schon bei „Menschen 2005“ auf der Couch von Johannes B. Kerner sitzen.
„Hallo, Sind Sie noch da?“
Stille. Schulte hatte in den letzten Stunden immer wieder mit dem Entführer gesprochen und war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dem alten Mann um einen höchst gefährlichen Psychopaten handelte.
„Hallo, Sind Sie noch am Telefon? Unsere Hörer interessiert es brennend, wie Sie sich jetzt fühlen. Was haben Sie vor? Werden Sie die Geiseln frei lassen?“
Stille. Über den Kopfhörer war nur das gleichmäßige Atmen des Entführers zu vernehmen.
***
„Wir unterbrechen unser Programm für eine Sondersendung. Unsere Reporterin Karin Schoh befindet sich noch immer am Ort des Geschehens. Karin, wie es aussieht, steht das Ende des Dramas kurz bevor?“
Karins Gesicht war leicht gerötet. Der Wind ließ ihr langes Haar wild hin und her flattern. Das Mikro in ihrer Hand zitterte.
„Ja, so sieht es aus. Ich kann jetzt das Führerhaus des Ausflugsschiffes deutlich erkennen und sogar...ja...ich kann den Umriss des Geiselgangsters sehen. Von den Gefangenen sehe ich nichts. Wahrscheinlich kauern sie im dunklen Gästebereich des Bootes. Die Schleuseneinfahrt ist geschlossen. Es scheint so, als wollten Polizei und Bundeswehr ihn nicht hineinfahren lassen. Vielleicht befürchten sie, dass eine mögliche Explosion im Inneren der Schleuse zu viel Schaden an der Gesamtanlage anrichten könnte. Aber sicher bin ich mir natürlich nicht. Journalisten werden hier äußerst kurz gehalten. Wir haben kaum Informationen. Wir wissen nur, dass mindestens 15 Scharfschützen sowohl an den beiden Ufern als auch auf dem Schleusenturm in Position gegangen sind. Verehrte Zuschauer an den Fernsehgeräten, bleiben Sie dran. Hier sind Sie direkt am Geschehen. Wir halten jetzt gleich einfach unsere Kameras auf das Schiff und dann sehen wir, was passiert. Mein Name ist Karin Schoh und Sie sehen „TV Niedersachsen“.
***
Becker legte den Hörer auf die Gabel zurück und sah seinen jungen Kollegen an. Diesem standen die Schweißperlen auf der Stirn. Er wirkte wie kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
„Tcha, Junge. Gleich ist´s vorbei. Die Würfel sind gefallen. Scheint so, als wäre unser Freund bald schachmatt“.
Der junge Polizist lächelte tapfer und drosselte die Geschwindigkeit.
***
Die Möwen bildeten einen riesigen Schwarm, der sich noch dunkler vor dem Mond abzeichneten als die Wolkenwand, die von Norden in Richtung Festland getrieben wurde. Sie flogen mit dem Wind, waren Verbündete des Sturms und Boten des Meeres. Luft und Wasser wurden zu Energie und die Kraft der Natur trieb sie vorwärts. Die große Graumöwe und Flatterschwänzchen hatten sich an die Spitze des Heeres gesetzt. Sie kannten den Weg und vor allem kannten sie ihr Ziel.
***
„Sie hören immer noch den Night-Talk mit Erwin Schulte. Wir sind live auf Sendung und ich habe den Ems-Geiselnehmer direkt am Apparat. Möchten Sie unseren Hörern noch was sagen?“
Wieder Stille. Dann ein Räuspern:
„Ja“. Oskars Stimme klang ruhig und sachlich. „Vielleicht, dass ich in Wirklichkeit immer nur auf meinem Schiff sein wollte. Glauben Sie mir: ich habe hier an Bord weder eine Bombe noch....“
Der Knall zerfetzte Schulte binnen Millisekunden beide Trommelfelle.
***
Jochansen stand gegen einen Baum gelehnt und zitterte wie Espenlaub. Tränen waren ihm in die geschäftstüchtigen Augen getreten. Durch die salzige Körperflüssigkeit hindurch sah er etwas, was er sein ganzes langes Leben nicht mehr vergessen sollte. Und doch sah er nichts.
Innerhalb weniger Sekunden war es am Ufer der Ems völlig dunkel geworden. Scheinwerfer und Strahler schienen zu sterben und menschliche Pläne und Schachzüge waren dahin. Der Wind, nein, der Sturm nahm sie alle gefangen. Trug sie fort von ihren Plätzen. Durchfuhr sie wie ein Hauch der Warnung und der Drohung. Er hörte einen weiblichen Reporter hysterisch brüllen, dass jemand das Licht wieder anschalten solle. Sie wäre schließlich live auf Sendung und ihren Zuschauern diese Sensation schuldig. Doch es blieb dunkel. Es blieb dunkel. Es blieb dunkel.
***
Becker legte seinen Arm um den heulenden Kollegen. Ihr Boot hatte an der Schleuse festgemacht. Überall rannten Menschen umher. Ratlose Gesichter sahen in ratlose Gesichter. Reporter, Fotografen, Polizisten, Soldaten und vor Verzweiflung weinende Moderatorinnen. Alle sie sollten nie verstehen, wie es im Jahre 2005 geschehen konnte, dass ein 28 Meter langes Ausflugsschiff innerhalb weniger Sekunden vor den Augen von 100.000 blinden Narren live und ohne Farbe einfach so verschwand.
***
Und der Schwarm flog über das Meer. Vereint und stark mit dem sich drehenden Wind. In ihren Fängen die Schwalbe, die eigentlich immer eine Möwe gewesen war. Und sie kam nach Hause. Unverletzt. Frei. Und die Sterne lächelten, obwohl sie das alles schon lange gewusst hatten. Und Flatterschwänzchen zeigte dem eingeschnappten Mond einen Vogel. Und dann waren da wieder die Wellen. Und darauf einer, der sich glücklich einen rot blinkenden Plastikanstecker mit Batterie an den Hemdkragen steckte. Ein Touristen-Anstecker, den es noch vor wenigen Jahren zu jeder gekauften Karte gratis dazu gab. Ein Anstecker, als Erinnerung an die „Schwalbe“.
ENDE