Die letzte Chance
6 Uhr. Das unangenehm penetrante Geräusch des Digitalweckers ertönt. Ich winde mich in meinem Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und versuche mit aller Kraft den nahenden Tag zu ignorieren. „Nützt ja doch nichts“, denke ich mir und quäle mich aus dem Bett. Ich betätige den Knopf der Erlösung und der unerwünschte Klang, der nichts Gutes verheißt, verstummt. Ich sitze einige Minuten auf der Bettkante und realisiere den Morgen.
In diesen Minuten der Ruhe, die ich genieße bevor der triste und sinnlose Alltag seinen Lauf nimmt, kommen mir meiner Meinung nach die besten Gedanken. Ich denke häufig daran, was ich hier eigentlich tue und wer mich vermissen würde, wenn ich einfach mal aus dem Fenster spränge oder auf der Treppe „ausrutsche“. Ich habe oft Selbstmordgedanken. Manchmal denke ich auch daran, wofür es sich lohnt jetzt den Tag zu beginnen, zur verhassten Arbeit zu gehen und nachts mit leerem Kopf einzuschlafen. Meist bin ich zu faul diese Gedankengänge zu Ende zu führen und reiße mich dann doch zusammen, stehe auf und drücke den Lichtschalter.
Ich ziehe mir rasch die Klamotten des Vortages über den Körper. Ich meine, wen interessiert wie ich aussehe? Schlaftrunken stolpere ich über Pizzakartons und finde schließlich die Tür. Da ich auf dem Weg zur Küche durch die Diele muss, komme ich zwangsweise am Spiegel vorbei und muss in mein langweiliges Gesicht schauen, das mir so zuwider ist, dass ich schnellen Schrittes zur Küche eile. Warum besitze ich diesen Spiegel eigentlich? Mein Magen und leider auch der Kühlschrank sind leer und der Beschluss zur nahen Bäckerei zu gehen ist nichts Besonderes. Ich nehme das Notwendigste mit, ziehe meine unansehnlichen Schuhe an und trete hinaus. Wie fast jeden Tag, wird mir erst vor der Tür klar, dass ich vergessen habe mich zu waschen und bin wie immer zu faul umzukehren.
Ich schlurfe den Weg zur Hauptstraße entlang und stoße mit dem Fuß gegen den Bordstein. Der Schmerz in drei meiner Zehen ist mir eine willkommene Abwechslung. Ich erreiche die Bäckerei und sehe wie immer die belebte Straße und die Schlange vor der Theke. Wie so oft stelle ich mich brav an und warte darauf, dass ich endlich an der Reihe bin. Eine Greisin schaut mich mit schiefem Blick an und rümpft die Nase. Ich denke es liegt an meinem Gestank, meinem ekligen Aussehen, meiner miesen Laune oder an meinem Gesichtsausdruck, der so ziemlich jedem Angst einjagen könnte. Vielleicht auch alles zusammen. Ist mir auch völlig egal, die letzte Frau, die noch vor mir war, verlässt die Bäckerei und ich kann endlich etwas essen. Ich will gerade bestellen, als die Bäckerin beiseite tritt und eine Aushilfe an die Theke heranrückt. Ich bin völlig erstarrt.
Ich bin ganz und gar eingenommen von ihrer Ausstrahlung und weiß gar nicht, was ich nun denken soll. Ist dieses himmlische Wesen Wirklichkeit? Träume ich? Ich schlucke einen riesigen Klos hinunter und betrachte sie genauer. Sie ist so perfekt: Ihre schönen braunen Augen, ihr schulterlanges Haar, diese süße Nase, dessen Kontur man gerne folgt um diese vollen und wunderschönen Lippen zu betrachten, die Worte formen, die ich nicht verstehen kann. Sie will wohl wissen, was ich bestellen will, schätze ich mal. Ich unterdrücke den Impuls über die Theke zu springen und sie an mich zu reißen und bestelle einen Kaffee und ein Croissant. Ein leerer Tisch nahe der Theke lädt ein und ich setze mich. Ich glotze wie ein Spanner auf ihren Körper, der ohne die Schürze bestimmt noch schöner aussäh und schäme mich sofort, dass ich die morgendliche Hygiene vernachlässigt habe. Ich aß noch nie so langsam ein so kleines Croissant und der kalte Kaffee schmeckte auch nicht besonders. Ich stand auf, starrte noch eine Weile auf die neue, zum niederknien schöne Aushilfe und ging.
Ich vermisse sie jetzt schon. Ich trete den Weg zur Arbeit an. Ich habe einen miesen Job im Büro und keinen Kontakt zu den Kollegen. Ist mir aber auch egal. Sie interessieren mich nicht wirklich. Was mich interessiert ist, wie ich nun am schnellsten wieder zur Bäckerei, zu dieser Göttin in Schürze gelangen kann. Ich kann die ganze Zeit nur an sie denken und bekomme keinen klaren Gedanken gefasst. Ich fühle mich wie ein pubertierender Junge, der sich voll verknallt hat. Ich schaue auf die Uhr und zähle die Sekunden. Nach 4 quälenden Stunden kann ich endlich in die Mittagspause und haste fast rasend zur Bäckerei. Als ich gerade eintreten will, spähe ich durch das Fenster und sehe, dass sie nicht mehr da ist. Ich bin enttäuscht und schlendere zurück zur Arbeit. Hunger hatte ich sowieso nicht.
Ein langweiliger Arbeitstag, wie ich ihn schon abertausende Male erlebt habe, ging zu Ende und ich machte mich auf den Heimweg. Als ich zu Hause ankam hatte ich statt nichts, wie es normalerweise der Fall ist, nur eine einzige Sache im Kopf: Sie.
Ich raufe mir die Haare und bekomme Kopfschmerzen. Ich bin wütend auf mich, dass ich so hässlich bin, dass meine Wohnung so schrecklich aussieht und dass mein Leben einfach nur zum Kotzen ist. Ich kann nur noch an diese junge Bäckeraushilfe denken und wie sie auf meine Frage hin reagieren würde, ob wir zusammen einen Kaffee trinken wollen. Ich bekomme schlagartig einen Stich in mein Herz. Ich rege mich wieder auf und zertrete einen Pizzakarton. Das kann so nicht weitergehen. Ich nehme alle Pizzakartons auf, entsorge sie im Mülleimer und gehe in mein Zimmer. Ich ordne die gesamte Wäsche, die nur auf dem Boden herumlag, in saubere und schmutzige. Ich wische den Schreibtisch, putze die Fenster, fege den Boden, beziehe mein Bett neu und wische sogar Staub. In meinem Putzanfall stürme ich in die Küche und spüle das Geschirr. Ich lege meine schmutzigen Klamotten in die Waschmaschine und schalte sie an. Als ich gerade denke, dass ich zufrieden sei, gehe ich in die Diele und sehe mich im Spiegelbild. Halbnackt, nur in Unterhosen, da meine Klamotten schmutzig waren, betrachte ich mich und betrete das Badezimmer. Ich gehe duschen, putze meine Zähne bis sie schmerzen, richte meine Haare und gehe erneut vor den Spiegel. So aussichtslos ist die Sache gar nicht. Ein wenig abnehmen und ein paar mehr Muskeln und du bist gar nicht so hässlich. Ich schaue auf die Uhr und bleibe fassungslos stehen, während meine Lippen die 4 Uhr morgens formen, die von der alten Uhr in der Küche angezeigt werden. Ich realisiere, was ich getan habe. Ich habe mein Leben, wie ich es schon seit Langem lebe umgekrempelt. Ich gähne und bin schrecklich müde. Ich lege mich ins Bett und freue mich schon auf den nächsten Tag, da ich frei habe und vorallem weil ich sie wiedersehen werde.
Ich wache mit unglaublicher Vorfreude um 11 Uhr auf und stehe mit einem Satz auf. Die Bäckerei hat bis 12 Uhr auf. Ich muss mich beeilen. Hoffentlich ist sie da. Ich renne ins Badezimmer und wasche mich, wie ich es vor ein paar Jahren mal getan habe und kämme mir die Haare. Ich schnappe mir neue, saubere Klamotten, betrachte mich vor dem Spiegel und kann Hoffnung in meinem Gesicht erkennen. Ich nehme genug Geld, meine Schlüssel und Kaugummis mit. Ich gehe mit dem Gefühl, dass ich Bäume ausreißen könnte aus dem Haus und schreite zur Hauptstraße. Ich sehe die Bäckerei von Weitem und versuche schon zu erkennen, ob sie da ist. Ich kann durch die Spiegelung im Fenster nichts entdecken und gehe weiter auf die Bäckerei zu. Als ich näher kam, konnte ich mein Glück kaum fassen. Die Bäckerei war völlig leer und sie stand alleine an der Theke und wartete auf mich. Sie kann sich bestimmt noch an mich erinnern. Ich werde da rein gehen, sie mit meinem neuen Aussehen beeindrucken, sie fragen ob wir miteinander ausgehen und wir werden Hand in Hand die Hauptstraße entlang schlendern. Wie bei einem Happy-End in einem romantischen Film. Ich werde ihr sagen, dass ich sie liebe und alles für sie tun will und sie wird es erwiedern. Oh mein Gott, ich freue mich schon so sehr! Endlich kann mein Leben beginnen! Scheißjob? Scheißleben? Egal! Hauptsache mit ihr zusammen! Los jetzt! Ich gehe in die Bäckerei und bekomme augenblicklich ihre Aufmerksamkeit. Ich behalte direkten Augenkontakt zu ihr und bewundere wieder einmal ihre Schönheit. Sie lächelt mich an und jetzt bin ich mir völlig sicher. Das klappt.
„Wollen Sie mit mir einen Kaffee trinken gehen?“
Sie lacht. Sie lacht mich aus. Meine Welt bricht zusammen. Die Wände drehen sich und stürzen ein, ich höre nur noch ihr Lachen. Diese Freude über die Lächerlichkeit meiner Frage. Dieses grauenvolle Lachen, welches durch dieses einst so wundervolle Wesen, das sich nun in ein Monster verwandelt hat, in mein Gesicht geschlagen wird. Freudentränen schlagen sich ihren Weg über ihr wundervolles Gesicht und sind für mich unerträglich. Das Lachen hört nicht auf. Es bohrt sich in meinen Kopf. Ich kann es nicht glauben. Nicht fassen.
Ich falle. Ich falle in ein bodenloses Loch, das ich schon vor ihr kannte. Sie war meine letzte Chance mich aus diesem Albtraum zu retten, den ich Leben nenne.