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Die letzte Fahrt
Ungeduldig wartete ich vor dem alten Zürcher Haus am Hügel. Ich hatte an der Tür geklingelt, aber niemand öffnete. Eine Telefonnummer hatte ich nicht, also hupte ich kurz. In Zürich wird nicht gehupt und diesem Quartier am Hang wurde es bestimmt nicht gerne gesehen. Gehört. Ich starrte auf die dunkle Holztür und wartete. Es war meine letzte Fahrt heute und ich beschloss, noch einmal zu klingeln und dann wegzufahren, falls sich nichts tat.
Die Treppe zur Eingangstür war voller vertrockneter Blätter, die von der Eiche stammen musste, die vor dem Haus meterhoch aufragte. An der Tür angekommen, hörte ich etwas. Ein Schlurfen, ein Poltern, wie wenn jemand etwas Schweres die Treppe runtertrüge. Ich klingelte nochmal, geduldiger als ich mich fühlte. Eine alte Frau öffnete die Tür. Sie trug ein dunkelgrünes, tailliertes Kleid und einen dazu passenden Hut. Die kleine, schwarze Handtasche hatte sie sich um ihr Handgelenk gehängt. Ihre weissen Haare stachen aus dem grünen Hut mit schlaffer Krempe hervor. Sie sah aus, als wäre sie aus einer Zeitmaschine ausgestiegen, aus den Vierzigern ins Heute. Eine Erscheinung. Ich musste lächeln, sie erinnerte mich an meine Grossmutter. Auch wenn diese nie so teure Kleider getragen hatte.
„Danke für Ihre Geduld, ich bin nicht mehr so schnell unterwegs“, entschuldigte sie sich und lächelte mich schüchtern an. Ihre Augen hatten die Farbe ihres Kleides, was bestimmt kein Zufall war. „Tropisch“, dachte ich. Ich hielt ihr die Tür auf und nahm ihr den Koffer ab. „Warten Sie hier.“, bat ich sie und brachte den Koffer ins Auto. Danach stieg ich die kurze Treppe zum Haus wieder hoch und reichte ihr meinen linken Arm. Sie nahm ihn dankbar an und wir gingen langsam, sehr langsam zum Auto. „Sie sind ein guter Junge“, sagte sie und tätschelte mir die Schulter. Ich half ihr, sich auf die Rückbank zu setzen. Mit einem Seufzer sank sie nieder, nahm ihre schicke Handtasche auf die Knie und schaute mich erwartungsvoll an.
„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte ich sie. Ich war sehr neugierig, wo eine so alte Frau – ich schätzte sie um die 90 – so apart gekleidet hin wollte. Sie hatte einen Koffer dabei, aber ob sie so in Urlaub fuhr? Vielleicht hatte sie ein Date, dachte ich schmunzelnd.
„Ich möchte gerne durch die Stadt fahren und sie ein letztes Mal sehen.“ Mein Blick zeigte wohl deutlich meine Frage, aber sie fügte nichts hinzu. Wieder dachte ich an meine Grossmutter, die nie alleine war. Wir waren eine grosse Familie, sie hatte 9 Kinder. Wir waren wie jede südländische Familie sehr laut und unberechenbar, aber wir waren da für sie. Vor allem für sie, für unsere Siddo, die den Laden zusammenhielt.
„Wie ist ihr Name?“, fragte ich sie, weil mir ein Gefühl sagte, dass diese Fahrt länger dauern könnte. „Seiler. Rosa Seiler.“ „Angenehm, ich bin Rafik Hayek.“ Stellte ich mich vor und setzte mich ans Steuer. „Sie wollen Zürich sehen? Etwas Bestimmtes oder die Touristentour?“. Rosa lächelte. Ich wollte sie Rosa nennen. Das Kleid, das sie trug, erinnerte an die schöne Frau, die sie ohne Zweifel einmal gewesen war. Die junge Rosa.
„Fangen Sie mit der Touristentour an und ich sage ihnen dann, wie weiter.“, sie lehnte sich nach hinten. Sie war Zürcherin, das konnte sogar ich hören. Ich stellte den Zähler meines Wagens diskret aus und fuhr los. Den Berg runter, Richtung Zentrum. Am Schauspielhaus war die Ampel rot, ich musste halten. „Hier habe ich meinen Mann kennengelernt. Genau hier.“ Sie zeigte auf die Bushaltestelle am Pfauen. „Er war falsch ausgestiegen und wusste nicht mehr, wo er war. Franzose“, sie zwinkerte mir zu, als wäre das etwas Verruchtes. „Meine Mutter ist auch Französin“, antwortete ich und zwinkerte zurück. Sie nickte, wie um zu bestätigen, dass Franzosen etwas ganz Besonderes waren.
Ich fuhr weiter Richtung Bellevue. „Hier habe ich immer meine Tanz-Sachen gekauft.“, Rosa zeigte rechts aus dem Fenster. „Sie waren Tänzerin?», fragte ich. Nicht, dass es mich erstaunt hätte. Ihr zierlicher Körper hätte durchaus einer Primaballerina gehören können. „Nicht Ballett“, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Tutus waren was für Spiesser.“, sie zwinkerte mir zu. Ich lachte.
Am Bellevue angekommen, strahlte uns die Sonne entgegen. „Fahren Sie über die Brücke? Ich liebe die Aussicht von der Brücke aus.“ Ganz langsam fuhr ich Richtung Bürkliplatz, klappte die Sonnenblende runter und beobachtete Rosa im Rückspiegel. Sie sah links auf den See und blinzelte in die Sonne. Ihr faltiges Gesicht schien das Licht aufzusagen.
So fuhren wir die nächsten zwei Stunden rum, sie zeigte mir ihre erste Wohnung, die sie mit ihrem Mann bezogen hatten, Zürich Enge. Das Büro, indem sie als Stenotypistin gearbeitet hatte. Also doch keine Berufstänzerin. Als wir an einem Schulhaus vorbeifuhren, fragte sie mich, ob ich Kinder hätte. „Noch nicht“, antwortete ich, ohne nachzudenken. „Wieso gehen Sie davon aus, dass Sie welche haben werden?“. Ich fühlte mich ertappt. „Ich weiss es nicht. Weil alle bei uns Kinder haben. Mein Vater ist Libanese.“, erwähnte ich achselzuckend. Als wäre das die Erklärung dafür, dass ich mit Kindern rechnete. Araber hatten schliesslich immer Kinder. Sie schaute mich durch den Rückspiegel an. „Man kann nie wissen im Leben.“ Ihre grünen Augen verdunkelten sich.
„Könnten Sie wieder zum See fahren?“, Rosa sah müde aus. „Ich möchte den Sonnenuntergang sehen.“ Ich fuhr zu einem Taxistand möglichst nahe am See, damit sie nicht weit gehen musste. Langsam half ich Rosa aus dem Auto, sie hakte sich unter und wir gingen über die Strasse zur Seepromenade. Die erste Bank war besetzt, ein junges Pärchen sass Händchen haltend darauf und schaute in die Sonne. Ich bat sie, ein wenig Platz zu machen, was sie sofort taten. Wieso wurde über die heutige Jugend immer genörgelt? Meine Erfahrungen waren durchwegs positiv. Aber wahrscheinlich hatten sich die Alten auch über unsere Generation beschwert. Und bestimmt auch schon, als Rosa jung war.
Wir setzten uns auf die Bank, Rosa fröstelte. Ich legte ihr meine Lederjacke um die Schultern, sie drückte meine Hand. In dem schwarzen, glänzenden Leder sah sie noch fragiler aus, aber irgendwie auch cool. Ich lächelte sie an, sie schaute auf den See. Hinter uns gingen Touristen vorbei, Familien mit Kinderwagen, Kinder auf dem Laufrad, gestresste Angestellte und eilige Velofahrer. Vor uns lag das Wasser, die Sonne würde bald untergehen. Die Enten und Schwäne durfte man nicht mehr füttern, hatte ich gelesen. Das Licht tauchte alles in verdünnte Milch, „Apérolicht“, wie ich es für mich nannte. Rosa seufzte und legte ihren Kopf auf meine Schulter.
Nach einer Weile machte sie Anstalten aufzustehen. «Bringen sie mich jetzt an mein eigentliches Ziel bitte.» Ich schaute sie nur fragend an, wusste aber sogleich, wohin sie gefahren werden wollte. Musste. Ich fuhr sie also wieder über die Limmat, den Berg rauf, bei der Kirche Fluntern rechts runter. Als ich hier aus dem Wagen half, lächelte sie mich nochmal müde an. „Sie sind ein guter Junge Rafic.“
- Quellenangaben
- Offenbar gibt es die Geschichte schon in New York. Mir wurde sie erzählt und sie hat mich inspiriert.