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Die letzte Fahrt

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05.09.2022
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Die letzte Fahrt

Ungeduldig wartete ich vor dem alten Zürcher Haus am Hügel. Ich hatte an der Tür geklingelt, aber niemand öffnete. Eine Telefonnummer hatte ich nicht, also hupte ich kurz. In Zürich wird nicht gehupt und diesem Quartier am Hang wurde es bestimmt nicht gerne gesehen. Gehört. Ich starrte auf die dunkle Holztür und wartete. Es war meine letzte Fahrt heute und ich beschloss, noch einmal zu klingeln und dann wegzufahren, falls sich nichts tat.

Die Treppe zur Eingangstür war voller vertrockneter Blätter, die von der Eiche stammen musste, die vor dem Haus meterhoch aufragte. An der Tür angekommen, hörte ich etwas. Ein Schlurfen, ein Poltern, wie wenn jemand etwas Schweres die Treppe runtertrüge. Ich klingelte nochmal, geduldiger als ich mich fühlte. Eine alte Frau öffnete die Tür. Sie trug ein dunkelgrünes, tailliertes Kleid und einen dazu passenden Hut. Die kleine, schwarze Handtasche hatte sie sich um ihr Handgelenk gehängt. Ihre weissen Haare stachen aus dem grünen Hut mit schlaffer Krempe hervor. Sie sah aus, als wäre sie aus einer Zeitmaschine ausgestiegen, aus den Vierzigern ins Heute. Eine Erscheinung. Ich musste lächeln, sie erinnerte mich an meine Grossmutter. Auch wenn diese nie so teure Kleider getragen hatte.

„Danke für Ihre Geduld, ich bin nicht mehr so schnell unterwegs“, entschuldigte sie sich und lächelte mich schüchtern an. Ihre Augen hatten die Farbe ihres Kleides, was bestimmt kein Zufall war. „Tropisch“, dachte ich. Ich hielt ihr die Tür auf und nahm ihr den Koffer ab. „Warten Sie hier.“, bat ich sie und brachte den Koffer ins Auto. Danach stieg ich die kurze Treppe zum Haus wieder hoch und reichte ihr meinen linken Arm. Sie nahm ihn dankbar an und wir gingen langsam, sehr langsam zum Auto. „Sie sind ein guter Junge“, sagte sie und tätschelte mir die Schulter. Ich half ihr, sich auf die Rückbank zu setzen. Mit einem Seufzer sank sie nieder, nahm ihre schicke Handtasche auf die Knie und schaute mich erwartungsvoll an.

„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte ich sie. Ich war sehr neugierig, wo eine so alte Frau – ich schätzte sie um die 90 – so apart gekleidet hin wollte. Sie hatte einen Koffer dabei, aber ob sie so in Urlaub fuhr? Vielleicht hatte sie ein Date, dachte ich schmunzelnd.

„Ich möchte gerne durch die Stadt fahren und sie ein letztes Mal sehen.“ Mein Blick zeigte wohl deutlich meine Frage, aber sie fügte nichts hinzu. Wieder dachte ich an meine Grossmutter, die nie alleine war. Wir waren eine grosse Familie, sie hatte 9 Kinder. Wir waren wie jede südländische Familie sehr laut und unberechenbar, aber wir waren da für sie. Vor allem für sie, für unsere Siddo, die den Laden zusammenhielt.

„Wie ist ihr Name?“, fragte ich sie, weil mir ein Gefühl sagte, dass diese Fahrt länger dauern könnte. „Seiler. Rosa Seiler.“ „Angenehm, ich bin Rafik Hayek.“ Stellte ich mich vor und setzte mich ans Steuer. „Sie wollen Zürich sehen? Etwas Bestimmtes oder die Touristentour?“. Rosa lächelte. Ich wollte sie Rosa nennen. Das Kleid, das sie trug, erinnerte an die schöne Frau, die sie ohne Zweifel einmal gewesen war. Die junge Rosa.

„Fangen Sie mit der Touristentour an und ich sage ihnen dann, wie weiter.“, sie lehnte sich nach hinten. Sie war Zürcherin, das konnte sogar ich hören. Ich stellte den Zähler meines Wagens diskret aus und fuhr los. Den Berg runter, Richtung Zentrum. Am Schauspielhaus war die Ampel rot, ich musste halten. „Hier habe ich meinen Mann kennengelernt. Genau hier.“ Sie zeigte auf die Bushaltestelle am Pfauen. „Er war falsch ausgestiegen und wusste nicht mehr, wo er war. Franzose“, sie zwinkerte mir zu, als wäre das etwas Verruchtes. „Meine Mutter ist auch Französin“, antwortete ich und zwinkerte zurück. Sie nickte, wie um zu bestätigen, dass Franzosen etwas ganz Besonderes waren.

Ich fuhr weiter Richtung Bellevue. „Hier habe ich immer meine Tanz-Sachen gekauft.“, Rosa zeigte rechts aus dem Fenster. „Sie waren Tänzerin?», fragte ich. Nicht, dass es mich erstaunt hätte. Ihr zierlicher Körper hätte durchaus einer Primaballerina gehören können. „Nicht Ballett“, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Tutus waren was für Spiesser.“, sie zwinkerte mir zu. Ich lachte.

Am Bellevue angekommen, strahlte uns die Sonne entgegen. „Fahren Sie über die Brücke? Ich liebe die Aussicht von der Brücke aus.“ Ganz langsam fuhr ich Richtung Bürkliplatz, klappte die Sonnenblende runter und beobachtete Rosa im Rückspiegel. Sie sah links auf den See und blinzelte in die Sonne. Ihr faltiges Gesicht schien das Licht aufzusagen.

So fuhren wir die nächsten zwei Stunden rum, sie zeigte mir ihre erste Wohnung, die sie mit ihrem Mann bezogen hatten, Zürich Enge. Das Büro, indem sie als Stenotypistin gearbeitet hatte. Also doch keine Berufstänzerin. Als wir an einem Schulhaus vorbeifuhren, fragte sie mich, ob ich Kinder hätte. „Noch nicht“, antwortete ich, ohne nachzudenken. „Wieso gehen Sie davon aus, dass Sie welche haben werden?“. Ich fühlte mich ertappt. „Ich weiss es nicht. Weil alle bei uns Kinder haben. Mein Vater ist Libanese.“, erwähnte ich achselzuckend. Als wäre das die Erklärung dafür, dass ich mit Kindern rechnete. Araber hatten schliesslich immer Kinder. Sie schaute mich durch den Rückspiegel an. „Man kann nie wissen im Leben.“ Ihre grünen Augen verdunkelten sich.

„Könnten Sie wieder zum See fahren?“, Rosa sah müde aus. „Ich möchte den Sonnenuntergang sehen.“ Ich fuhr zu einem Taxistand möglichst nahe am See, damit sie nicht weit gehen musste. Langsam half ich Rosa aus dem Auto, sie hakte sich unter und wir gingen über die Strasse zur Seepromenade. Die erste Bank war besetzt, ein junges Pärchen sass Händchen haltend darauf und schaute in die Sonne. Ich bat sie, ein wenig Platz zu machen, was sie sofort taten. Wieso wurde über die heutige Jugend immer genörgelt? Meine Erfahrungen waren durchwegs positiv. Aber wahrscheinlich hatten sich die Alten auch über unsere Generation beschwert. Und bestimmt auch schon, als Rosa jung war.

Wir setzten uns auf die Bank, Rosa fröstelte. Ich legte ihr meine Lederjacke um die Schultern, sie drückte meine Hand. In dem schwarzen, glänzenden Leder sah sie noch fragiler aus, aber irgendwie auch cool. Ich lächelte sie an, sie schaute auf den See. Hinter uns gingen Touristen vorbei, Familien mit Kinderwagen, Kinder auf dem Laufrad, gestresste Angestellte und eilige Velofahrer. Vor uns lag das Wasser, die Sonne würde bald untergehen. Die Enten und Schwäne durfte man nicht mehr füttern, hatte ich gelesen. Das Licht tauchte alles in verdünnte Milch, „Apérolicht“, wie ich es für mich nannte. Rosa seufzte und legte ihren Kopf auf meine Schulter.

Nach einer Weile machte sie Anstalten aufzustehen. «Bringen sie mich jetzt an mein eigentliches Ziel bitte.» Ich schaute sie nur fragend an, wusste aber sogleich, wohin sie gefahren werden wollte. Musste. Ich fuhr sie also wieder über die Limmat, den Berg rauf, bei der Kirche Fluntern rechts runter. Als ich hier aus dem Wagen half, lächelte sie mich nochmal müde an. „Sie sind ein guter Junge Rafic.“

 
Quellenangaben
Offenbar gibt es die Geschichte schon in New York. Mir wurde sie erzählt und sie hat mich inspiriert.

Hallo @Wordnerd!

So liest man sich wieder. Nach dem ersten Absatz bin ich in diese Geschichte schneller rein gekommen, als in deine erste. Mein Problem mit dem ersten Absatz erläutere ich dir gleich genauer:

Ungeduldig wartete ich vor dem alten Zürcher Haus am Hügel. Ich hatte an der Tür geklingelt, aber niemand öffnete. Eine Telefonnummer hatte ich nicht, also hupte ich kurz. In Zürich wird nicht gehupt und diesem Quartier am Hang wurde es bestimmt nicht gerne gesehen. Gehört. Ich starrte auf die dunkle Holztür und wartete. Es war meine letzte Fahrt heute und ich beschloss, noch einmal zu klingeln und dann wegzufahren, falls sich nichts tat.
In meinem Kopf klingelt der Taxifahrer an der Tür, lauft dann wieder zum Auto, um dann wieder an der Tür zu klingeln. Das kommt mir recht sinnlos vor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand das so macht. Wenn dann bleibt man gleich sitzen und hubt oder man steigt meinetwegen aus, klingelt und denkt sich, die ist kaputt oder zu leise und geht deshalb zurück ins Auto und hubt dann - aber dass man zuerst klingelt, dann hubt und dann wiederk lingelt, dass ist schon recht seltsam. Auch die Tatsache, dass in Zürich nicht gehubt wird, ist ja wenig relevant, weil es keine Auswirkung auf die Geschichte hat. Ich würde das Hupen generell streichen.

Die Treppe zur Eingangstür war voller vertrockneter Blätter, die von der Eiche stammen musste,
"Die Treppe zur Eingangstür war voller vertrückneter Blätter, die von der eiche stammen musste(n)." Die Blätter stammen ja von der Eiche. Allerdings spielt die Eiche auch keine Rolle mehr, also reicht es zu wissen, dass die Eingangstür voller vertrockneter Blätter ist.

Ich klingelte nochmal, geduldiger als ich mich fühlte.
Wie klingelt man geduldig? Ich denke, du wolltest damit aussagen, dass er geduldiger war als er sich fühlte, aber so klingt das komisch.

Nach einer Weile machte sie Anstalten aufzustehen. «Bringen sie mich jetzt an mein eigentliches Ziel bitte.» Ich schaute sie nur fragend an, wusste aber sogleich, wohin sie gefahren werden wollte. Musste. Ich fuhr sie also wieder über die Limmat, den Berg rauf, bei der Kirche Fluntern rechts runter. Als ich hier aus dem Wagen half, lächelte sie mich nochmal müde an. „Sie sind ein guter Junge Rafic.“
Das Ende verstehe ich nicht ganz. Die Anspielung darauf, dass die Frau bald sterben wird und dass es auch ihre letzte Fahrt ist, geht auf, das habe ich soweit verstanden, aber ich weiß nicht, wohin er sie fährt - vielleicht kenne ich mich dafür in der Ortschaft (oder Stadt) auch zu wenig aus, aber so war mein erster Gedanke recht makaber.

LG Luzifermortus

 

... ach, schau mal an, da weiß ich ja auch, warum ich mich mit allgemeinen Ratschlägen sonst zurückhalte: Weil es halt doch immer auch eine persönliche Sache ist. (Ist aber trotzdem im Allgemeinen besser, sparsam zu dosieren, glaub mir.)

 

Ich finde deine Inputs sehr wertvoll, danke! Mehr weglassen. Das Lustige ist ja, dass ich immer das Gefühl habe, ich müsse mehr reinpacken, damit es Fleisch am Knochen hat. Daran arbeite ich noch... Und ja, wer in Zürich lebt, weiss, wo er hin fährt. Ins Lighthouse, eine palliative Einrichtung. Aber vielleicht kann ich das noch etwas besser machen. Auf jeden Fall danke ich dir für deine Zeit!

 

Hallo Wordnerd
Ich habe Deine Geschichte gerne gelesen und da ich in Zürich aufgewachsen bin, kenne ich die Plätze, die Du beschrieben hast. An das Lighthouse habe ich sofort gedacht, wobei ich nicht weiss, ob diese Einrichtung alle in Zürich lebenden kennen.

Gerne wäre ich den Beiden weiter durch die Stadt gefolgt. Wo waren sie in den zwei Stunden, die sie herumfuhren? Welche Geschichten der alten Frau und des Taxifahrers wurden (noch) nicht erzählt?

Hier noch ein paar Anmerkungen:

In Zürich wird nicht gehupt
Wie wahr....

wie wenn jemand etwas Schweres die Treppe runtertrüge
wieso nicht....hinuntertrüge oder hinunterträgt

Tropisch“, dachte ich
Tropisch weil grün? Bei grün denke ich nicht unbedingt an tropisch, aber vielleicht gehts nur mir so.

Ich hielt ihr die Tür auf und nahm ihr den Koffer ab
Ich glaube ein ihr genügt, ich würde das erste weg lassen

sie hatte 9 Kinder.
neun

Vor allem für sie, für unsere Siddo, die den Laden zusammenhielt.
sehr schön

Ihr faltiges Gesicht schien das Licht aufzusagen
aufzusaugen, oder?

Das Büro, indem sie als Stenotypistin
in dem auseinander

„Noch nicht“, antwortete ich, ohne nachzudenken. „Wieso gehen Sie davon aus, dass Sie welche haben werden?“. Ich fühlte mich ertappt. „Ich weiss es nicht. Weil alle bei uns Kinder haben. Mein Vater ist Libanese.“, erwähnte ich achselzuckend. Als wäre das die Erklärung dafür, dass ich mit Kindern rechnete. Araber hatten schliesslich immer Kinder. Sie schaute mich durch den Rückspiegel an. „Man kann nie wissen im Leben.“ Ihre grünen Augen verdunkelten sich.
deutet eine traurige Geschichte an, ohne sie im Detail zu erzählen. Gefällt mir gut

In dem schwarzen, glänzenden Leder sah sie noch fragiler aus, aber irgendwie auch cool.
kann ich mir gut vorstellen, "cooles" Bild

Die Enten und Schwäne durfte man nicht mehr füttern,
ist das so? Wusste ich gar nicht.

Als ich hier aus dem Wagen half,
Als ich ihr aus dem Wagen half.....

Du brauchst häufig die Kurzform der Wörter "hinunter", "hinauf" etc... , also rauf, runter usw. Hast Du diese Form bewusst gewählt? Ich fände die ausgeschriebenen Wörter eleganter und da ich die ganze Geschichte stilvoll geschrieben finde. würde dies für mich besser passen.

Gerne gelesen.
Viele Grüsse
Aida Selina

 

@Aida Selina Tolles Feedback, herzlichen Dank! Ich werde die Geschichte überarbeiten, das hilft wirklich sehr. Danke dir!

 

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