Die letzte Fliese
Die letzte Fliese
Es gibt Berufe, die sind einfach Gold wert. Als Manfred sein Handwerk erlernte, wurde ihm sehr schnell klar, dass das Geld auf der Straße liegt. Ein junger Kerl, der nach acht Stunden den sprichwörtlichen Hammer fallen lässt, hat Hunger auf mehr. Mehr Geld, mehr Leben.
Jeder Auftrag unter der Hand bringt mehr Geld, mehr Leben.
Gerade als junger Mensch muß man diese Möglichkeiten nutzen, um sich seinen persönlichen Lebensstandard aufzubauen. Und genau diese Möglichkeiten packte Manfred am Schopf.
Was war das doch für ein erhabenes Gefühl, als er sich zum Ende seiner Lehrzeit zum Opel-Händler begab und sich den flanschneuen Manta GTE bestellte. That’s life!
Natürlich gibt es auch Neider. Diese muß man auch zwangsläufig unter seinen Freunden ausmachen. So blieb Manfred nichts anderes übrig, seine Freunde neu zu sortieren – oder besser gesagt – sie sortierten sich selbst. Die wahren Freunde bleiben einem dabei immer erhalten. Genau wie die Frau. Die lernte Manfred auf einer Party einer seiner wahren Freunde kennen. Peter war schließlich bekannt für gute Partys. Manuela war in der Tat ein Traum von Frau, die Manfred alles vorher geschehene vergessen ließ. Sie verwöhnte ihn, wo sie nur konnte. Umgekehrt war es ebenso. Niemand anderes außer Manfred hatte so viel Kohle und einen flanschneuen Wagen. Dabei störte es Manuela wenig, dass Manfred aufgrund seiner Nebentätigkeiten kaum Zeit für sie hatte. Schon kurz nach der Hochzeit entschlossen sich die beiden, ihr eigenes Heim zu schaffen. Dank Manfreds Knowhow als Fliesenleger mit den entsprechenden Kontakten zu den Jungs vom Bau und der Extrakohle aus den Nebentätigkeiten ging dieser Wunsch schon bald in Erfüllung. Daß Manfred seinen Freunden
ebenfalls handwerklich nach Feierabend unter die Arme griff, war für ihn mehr als selbstverständlich. Wozu hat man Freunde. Und ganz nebenbei: Das Bier nach getaner Arbeit schmeckt mit den eigenen Kumpels eh am besten.
Der größte Tag jedoch, den Manfred nie vergessen würde, war der, als ihm Manuela ins Ohr hauchte, dass er Vater würde. Solch einen Moment kann man nicht vergessen. Man sollte überdies auch nicht vergessen, dass die Verantwortung, die man trägt, ebenso größer wird.
Das war für Manfred kein Thema. Mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit legte er einen Zahn zu. Daß er nun anstatt zwölf, sechzehn Stunden arbeitete, machte ihm nicht das geringste aus. Schließlich sollte es der kleine Benjamin doch einmal besser haben als er.
Und überhaupt: seiner Familie sollte es an nichts fehlen.
Benjamin war 12 Jahre alt, als Manfred nach getaner Arbeit zuhause einen Brief – es war wohl der erste, den er je erhielt – vofand:
Lieber Manfred,
es fällt mir schwer, diese Zeilen zu schreiben.
Ich weiß, Du wolltest immer nur das Beste für uns.
Dafür bin ich Dir auch sehr dankbar. Aber ich erwarte mehr vom Leben.
Ich fühle mich so leer.
Wir waren schon ewig nicht mehr zusammen aus.
Wir haben uns schon seit langem nicht mehr gestritten.
Wir haben uns schon so lange nichts mehr gesagt.
Ich wünsche Dir alles Gute für die Zukunft!
Deine
Manuela
Manfred sackte in den Sessel. Er versuchte die Gedanken, die wirr durch seinen Kopf schossen, zu fangen. Es gelang ihm nicht. Das Telefon klingelte. Es klingelte lange; lange genug, um dass er den Höhrer nach einem taumelnden Gang abnehmen konnte.
Es war ein Anruf, wie jeden Abend. Wie jeden Abend. Natürlich konnte Manfred den Wunsch
Seines Freundes nicht ausschlagen, bei einem Bekannten das Bad zu fliesen. Fliesen ist Geld, und Geld ist Leben. Am Anfang war es schon hart, doch die Arbeit heilt alle Wunden. Der Trott nahm seinen Lauf und mit ihm fasste Manfred neuen Lebensmut. Auch ein, zwei, oder mehrere Bierchen sind da ganz hilfreich, so während und nach getaner Arbeit. Arbeiten – Geld – Schlafen. Lebensrythmus. Arbeiten – Geld – Schlafen. Lebensrythmus.
Seinen einundvierzigsten Geburtstag feierte Manfred mit seinen besten, wahren und einzigen Freunden. Was für eine Sause. Geld. Leben. Alles hat seinen Lauf.
Als Manfred mit seinem Benz zur Baustelle fuhr, fühlte er sich nicht wohl. Kein Wunder nach
Der Party mit den Jungs. Er machte sich an die Arbeit. Alles fiel heute wesentlich schwerer als sonst. Naja, die Party....
Kniend hockt er im Bad. Den Blick wohlwollend über den Boden schweifend, in der einen Hand den Spachtel, in der anderen die Fliese. Plötzlich ein krampfähnlicher Schmerz in der Brust. Er lässt den Spachtel fallen, greift sich mit der rechten Hand an die linke Brust, die Fliese in der linken Hand......
„War das alles?“
Ja.