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Die letzte Prüfung
Thomas konnte nicht länger hier am Feuer verweilen. Seine Kollegen, seine Freunde, sie alle wandten den Blick nicht von den Flammen, aber er hielt es nicht aus.
Ruckartig kehrte er sich ab und nahm vom nächsten Tisch eine halbleere Champagnerflasche, trank einen Schluck, blickte hinaus in den Wald. Er sah nur Dunkelheit und das Prickeln im Gaumen linderte die Schmerzen nicht. Es war die letzte Nacht.
Er bewegte sich zwischen den Festbänken hindurch, lauschte auf das Getuschel der Verliebten, auf das hohle Klirren der Bierflaschen, auf die schallende Musik aus der Stereoanlage. Kein Licht hier, abseits des Feuers. Die vereinzelten Kerzen beleuchteten nur müde Gesichter.
„Hey, Thomas!“ Nadja, sie strahlte ihn an. Um ihr die Tussis, die glaubten, ihre Freundinnen zu sein. In den Händen Pokerkarten.
Thomas winkte und sie lächelte. Einige Sekunden lang verfingen sich ihre Blicke, dann legte sie die nächste Münze in die Mitte des Tisches, betrachtete die Karten, spielte weiter. Sie würde gewinnen, Thomas wusste es. Sie gewann immer.
Mit einem Seufzer wandte er sich wieder den Flammen zu, doch das grelle Licht blendete ihn nach der Dunkelheit. So schlenderte er weiter in Richtung Wald und danach den Bäumen entlang zum Weiher, wo es ruhiger war.
Ein Mädchen nur kauerte am Ufer, ganz leise, gedankenverloren. Thomas beobachtete, wie sie in die Finsternis starrte und mit den Fingern am Gras riss. Sie hatte dunkelbraunes Haar, verträumte Augen, war klein, fast zierlich. Thomas lächelte.
„Alles in Ordnung, Simone?“
Sie fuhr erschrocken um. „Thomas?“
„Genau.“ Er liess sich nieder und schaute mit ihr über die im Mondschein glitzernde Wasseroberfläche.
„Gratuliere zur Matura!“ Simone streckte ihm die Hand entgegen und Thomas schüttelte sie. „Danke. Ich dir auch.“ Ihre Blicke trafen sich kurz.
„Freust du dich?“
„Ich weiss nicht“, erwiderte Thomas leise. „Es ist ein seltsames Gefühl.“
Simone nickte und Thomas sah, dass sie weiter Gras ausriss. Ihre Finger waren dreckig und verschmiert. Immer wieder krallten sie sich in den Boden, zogen und zerrten, warfen Büschel ins Wasser.
„Was soll das?“, erkundigte Thomas sich, nachdem er einige Minuten lang still zugeschaut hatte. „Wieso reisst du das Gras aus?“
Sie entgegnete achselzuckend: „Keine Ahnung. Damit die Zeit vergeht, möglicherweise.“
Von den Bänken her hörte Thomas Nadja kichern, fröhlich scherzen. Simone hielt kurz ein, öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen und riss dann doch weiter an den Halmen. Nachdenklich verfolgte Thomas ihre Bewegungen, studierte ihr Gesicht, ihre Augen. Sie hatte sich verändert seit damals vor einem Jahr, war älter, erwachsener geworden. Weshalb bloss sass sie in einer Nacht wie dieser alleine und abseits der Feuer? Weshalb war sie nicht bei den andern, lachte, trank und feierte?
Und wieso er selber auch nicht?
Auf einmal hörte Thomas sich zur eigenen Überraschung fragen: „Du bist auch nicht glücklich, oder?“
Simone hielt für einen Augenblick inne. „Ich – Ich weiss nicht. Ich weiss es genauso wenig wie du.“ Nadja lachte wieder, aber Thomas beachtete sie nicht. Vorsichtig fragte er: „Hast du eigentlich einen Freund?“
Schüchtern wich Simone seinem Blick aus und Thomas biss sich auf die Lippen. Er grabschte nach einer Bierflasche hinter Simones Rücken, doch sie war leer und er warf sie in den Weiher.
Als er wieder zurücklehnte, stellte er fest, dass Simone kein Gras mehr ausriss, sondern in Träumen versunken über den See starrte.
„Schlaf nicht ein!“ Thomas berührte ihre Schulter und fragte schmunzelnd: „Du hast einen Freund, wie?“
Endlich schüttelte sie schwach den Kopf. „Nein, hab’ ich nicht.“
„Und wieso nicht?“
„Ich – Ich glaube, ich gehöre zu den Menschen, die vieles gut können und manches überhaupt nicht“, erklärte sie.
Ihr Blick streifte über die Pärchen, die im Düsterlicht lagen, sich küssend und umarmend. Die letzte Nacht und morgen – morgen würde alles vorbei sein.
„Du warst noch nie verliebt?“, setzte Thomas nach und da lächelte das Mädchen sehnsuchtsvoll. „Verliebt schon. Einmal“, schwelgte sie in hoffnungslosen Träumereien. „Aber er hat nie davon erfahren.“
Thomas musterte sie neugierig. „Wer war er?“
Sie schluckte, starrte hinaus über den Weiher.
„Simone, wer?“, hakte Thomas ahnungsvoll nach.
„Es ...“ Sie zögerte, presste die Lippen zusammen. Morgen würde alles vorbei sein! Diese Nacht war die letzte! Und die Feuer brannten.
„Wer?“
Simone antwortete nicht, sondern schritt davon ins Dunkel der Nacht.