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Die letzten Bilder

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30.10.2008
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Wann nur war die Zeit, in der das Leben nichts gekostet hatte und noch umsonst und frei war?
Wann nur?

Die Straße müsste man sich als eine dunkle vorstellen; das heißt nicht, dass sie unbeleuchtet gewesen wäre, aber das schmale Licht der Laternen war von dem langen schwarzen Mantel der Nacht umhüllt. Die unsanierten Altbauten, die hier am Ende der Straßen standen, waren nur spärlich bewohnt und zu dieser Zeit waren alle Zimmer dunkel und die Menschen schlie-fen. Auf der anderen Seite der Straße war nur altes Industriegelände; eine riesige Brache, auf der wild und verwuchert allerlei Unkraut wuchs und die im Allgemeinen als Müllhalde für allen möglichen Schutt und Abfall genutzt wurde. Zwischen den parkenden Autos fiel ein kalter böiger Nieselregen auf die Pflastersteine, und das gleichtönige Rauschen, das dieser Niesel versprühte, wurde nur durch unregelmäßig laut hallende Schritte durchzogen. In dieser stillsten Stunde der Nacht, kurz vor dem Morgengrauen eines Sonntags suchte sich ein ältlich wirkender Mann seinen Weg – wohin?
Plötzlich fiel er und sein Gedanke war noch, dass er zum ersten Mal in seinem Leben fallen würde. Den Bruchteil einer Sekunde später gab es einen dumpfen Schlag, einen Aufprall ir-gendwo zwischen den nassen Autos und den rutschigen Pflastersteinen der Straße. Ein Bruch-teil, der ein ganzes Leben vor den Augen des Gefallenen auferstehen ließ.

Jahre der Kindheit und Jugend rauschten an ihm vorbei, zu Momenten erstarrt, die sein Leben ausmachten oder gemacht hatten, Augenblicke voll Freude und Tränen. Es war wie ein Film, der ohne Sinn und Zusammenhang vor ihm ablief.
Da war zum Beispiel das Bild der kleinen, backsteinernen Kirche, das aus dem Nichts verges-sener und dort verbrachter Kindheitsjahre aufragte. Die große, ihn als Kind so beeindruckende Eingangstür mit ihren Eisenbeschlägen, die durch Jahr und Tag immer mehr verrostet waren, so dass sie die Tür nur noch notdürftig hielten und ihr Öffnen so weit erschwerten, dass es für ihn unmöglich war, ohne fremde Hilfe in die Kirche hinein zu kommen. Diese Tür hatte für ihn immer etwas Magisches gehabt: Sobald sie sich vor ihm auftat, erklang Musik, die er so nie irgendwo gehört hatte, auch später nie. Er verstand das Vorkommen von Engeln durch diese Melodien am Anfang des Gottesdienstes. Irgendwelche Zweifel Engeln gegenüber ka-men ihm so nicht in den Sinn, denn was immer er unvorstellbares von ihnen gehört hatte, von diesen Lichtgestalten, die vom Himmel herabschwebten, so grell eben, dass man sie nicht sehen konnte, sie waren hörbar, bei ihm aus Musik gemacht, gewebt, gesponnen aus dieser sanft streichenden Melodie, die nur zu vergleichen war mit dem leichten Gang des Windes durch die Bäume. Sangen die Engel nicht auch, als sie den Hirten begegneten, sangen sie nicht alles Glück schon weit heraus in die sonst dunkle Nacht! Singen sie nicht noch immer! Getragen von einer traumhaften Erinnerung trieben ihn die Klänge durch den immer zu kur-zen Sonntag.
Es war nur eine alte Orgel, die aber war der ganze Stolz der kleinen Gemeinde von Alt-Jassow, irgendwo in der Mark, in der sein Vater das armselige und in dieser Zeit abschätzig betrachtete Amt des Pastors ausübte. Doch diese Musik, die mit dem Ausbreiten der beiden Türflügel zu beginnen schien, war immer nur der Anfang ganz besonderer Dinge und Ereig-nisse gewesen. In dem großen Raum, den größten, den er kannte neben den offenen Ställen der LPG, saßen die Leute aus dem Dorf in ihren besten Sachen – Kleidung, die er wochentags nie bei ihnen zu Gesicht bekam. Nicht engelhaft, sicher nicht, sehr irdisch und wirklich und all zu oft nicht erhellt sondern mit verschlossenen Gesichtern, oder: Mündern, wie er damals dachte. Aber ihm war, als verwandelte sich alles beim Betreten dieser großen Halle. Und auch er selbst wurde morgens gebadet und in eine saubere Hose und ein sauberes Hemd gesteckt, bevor es dann Frühstück mit Rühreiern und manchmal auch Brötchen gab. Aber das Ein-schweben in die Kirche machte den Tag erst zu etwas besonderem, irgendwie schien ein Frie-de aus diesem Gebäude herauszuströmen. Dann erst sein Vater, der kaum wiederzuerkennen war und von einem schmalen Pult aus lange, nichtverständliche Reden hielt. Aber alle Leute lauschten ihm, und das hatte ihn schon immer stolz gemacht, und überhaupt der ganze Zauber, der von dieser fremdartig vertrauten Zeremonie ausging. Aber erst später hatte er mal häufiger Predigten seines Vaters gehört: wie Märchen erzählen, fand er.
Und dann kam dieser Tag, an dem diese herrliche Idylle des Sonntags für immer zerstört wur-de. Auch vorher gab es schon Ereignisse, die den normalen Alltag störten: Wenn sein Vater offensichtlich unerfreuliche Gespräche mit fremden und – wie er fand – bösen Leuten hatte, war er nachher immer eigentümlich aufgeregt und zog sich mit Mutter zurück, um mit ihr ewig Pläne zu schmieden, und auch blieb er abends mitunter länger aus, was seine Mutter manchmal beunruhigte und ihr Sorgen in ihr ansonsten sorgenfreies, gutwilliges Gesicht trieb, doch fanden diese Ereignisse, die er so höchstens am Rande wahrgenommen hatte, immer nur unter der Woche statt. Doch an einem Frühlingstage, an dem sich die Gemeinde noch Sonn-tagnachmittag zum gemeinsamen Fahrradausflug mit anschließendem Kaffeetrinken zusam-mengefunden hatte, passierte eine für den Kleinen unverständliche und unvergessene Sache. Beim Picknick auf freiem frisch blühendem Feld nicht weit außerhalb des Dorfes, rückten plötzlich Polizei- oder Armeefahrzeuge an, bewaffnete Menschen näherten sich der Gruppe und fingen an, mürrisch und laut, einzelne Leute zu befragen und kamen so letztlich auch zu seinem Vater, nahmen ihn und andere mit und lösten den ganzen Zug mit barschen aber we-nigen Worten auf. Zwischen den Decken und den bunten Bändern blieben Frauen ohne Aus-druck und mit steinernen oder zwischen den Augen verengten Gesichtern zurück, die unter Aufsicht Geschirr einräumten und in einem langsamen Zug schweigend zum Dorf zurück-schritten. Und vor allem der Anblick einer zerschlagenen Tasse mit ihren Scherben und dem schnell versickerndem – untergehendem, wie er dachte – Kaffee, den seine Mutter eben noch hielt und freundlich hingehalten hatte in eine Gruppe von grauen Männern, bevor sie schep-pernd von einem Gewehrkolben weggestoßen wurde. Da war zum ersten Mal eine Bedrohung von außen gekommen, die stärker war als sein Vater, die nicht auf ihn hörte, und die die Macht hatte, ihn mitzunehmen und die ganze Harmonie dieses Tages aufzuheben. Wieso war sie nicht an die doch sonst offensichtlich für alle geltenden Gesetze des Sonntags gebunden? Eine ungenaue Ahnung einer anderen Welt, für die es viele Erklärungen gab, aber keine, die er zu glauben verstand, kam auf.
Erst ein paar Tage später kam sein Vater wieder zurück, blass, aber entschlossen. Von dem, was passiert war, sprach er kein Wort, zumindest nicht in seiner Gegenwart, aber das war auch nicht nötig. Er merkte schon selbst, obwohl noch im Kindergartenalter, dass eine Verän-derung eingetreten war. Diese machte sich in einer hektischen und nervösen Heimlichtuerei bemerkbar, die ihm ganz ungewohnt bei seinen Eltern war. Auch war die Kirche am nächsten Sonntag leer, nur wenige alte Frauen hatten sich eingefunden, standen aber nur vor dem Ein-gang herum, schwatzten und begaben sich auch wieder nach Hause. Drinnen war keine Musik zu hören gewesen, nur der Pfarrer stand mit seinem etwas abgekämpften Bart an das Pult ge-lehnt und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

Der Übergang zu den nächsten Bildern war abrupt, keineswegs fließend, und so war es ihm auch damals vorgekommen. Alt-Jassow mit der backsteinroten Kirche und dem kleinen Hügel auf dem sie stand, und der schmalen Kreuzung, von wo aus es in eigentlich alle Richtungen zur LPG ging, mit den sanften Neigungen der weit ausholenden Felder und dem schweren Dunst von Jauche und Mist, der von überall her hart in die Nasen stieg, verschwand einfach. In seiner Erinnerung blieb es ein traumverschleiertes Kindheitsland, und immer wenn er zu-rück kam, um seine Großeltern zu besuchen, erkannte er es nicht wieder und staunte nur, wie winzig der riesige Wald war, in dem er stundenlang spielen konnte: Eigentlich nur ein an die Kirchenrückwand angelehnter schmaler Hain.
Berlin war für seine kindliche Neugier, die man in diesem Alter durchlebt, weder ein Schock noch eine große Veränderung sondern am ehesten ein gigantischer Spielplatz. So waren es ganze Straßenzüge, durch die er nochmals in Gedanken glitt, die bröckelnden Häuserfassaden des Friedrichshain, die Spielplätze, die vor sich hinrosteten, leerstehende Altbauten, die noch von keinem erobert worden waren. Dann aber auch die Schule, die für ihn hier nun begann, und die so viele Möglichkeiten, so viel Spannung bot. Seine Eltern, die im Gegensatz zu ihm zurückgezogen lebten, hatten es nicht erlaubt, dass er Pionier würde, und das schmerzte ihn doch. Heimlich ging er zu den Pioniernachmittagen, von denen er sich viele Spiele erhoffte, doch enttäuschten sie ihn und so blieb er ihnen fern. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, ver-festigte sich bei ihm und so streifte er auch oft allein durch die großen, lauten, dreckigen Stra-ßen der Stadt. Dass er keine Freunde gehabt hatte, stimmt aber auch nicht. Er war solch ein Typ Mensch mit dem eigentlich alle klarkommen, unkompliziert, bei jedem Spaß dabei, ein guter Fußballspieler, auch in der Schule durch gute Leistungen bei den Lehrern beliebt, und trotz gelegentlichen fantastischen Höhenflügen in seinen Träumen und Taten blieb er doch immer ein treuer Freund. Wie das bei Jungen in diesem Alter so geht, hatte sich schnell eine Viererbande gefunden, die meistens zusammen durch die Gegend tobte, Fußball spielen, ba-den oder sonst was machen ging.
Besonders mit Hannes, der nicht weit von ihm weg wohnte, ein ruhigerer, lustiger Vogel, ver-brachte er so manchen Abend in den Ästen der letzten Bäume oder auf einem Dachboden zwischen altem Gerümpel, welches durchforstet und durchsucht wurde, und hatte immer eine Menge zu lachen mit ihm, und vertraute sich ihm auch in allen Dingen an.
Und dann war da eine Zeit, in der es in den Mülltonnen die großartigsten Dinge zu finden gab, und alles neu und frisch war und man mit Entdeckerlust durch alles wandeln mußte und wer suchte, konnte alles finden, so kam es ihnen vor. Mal fanden sie eine Fahne mit einem Loch und steckten ihren Kopf hindurch und hatten so ein langes Gewand und rannten dann schrei-end durch die Straßen und Treppen, und als sie zu Leon nach Hause kamen, rief Hannes durch die ganze Wohnung: Wir sind die Könige von Deutschland.

Aber das, was er noch sah, war eine graue Zeit, die erst ganz langsam und ausgebleicht farbi-ger wurde, und die eigentlich verloren war, so hatte er immer empfunden, weil von Gedanken zerfressen worden, und außerdem: Vielleicht auch nur ein verschleudertes Album mit alten Fotos von Damals, von Früher, von nichts, was Wirklichkeit gewesen wäre. Geschehen, das vergessen ist und das aus Erinnerung heraus nicht aufersteht und also tot bleibt und nur was anderes zu erinnern imstande ist.
Und noch irgendwoher Zeilen: Und Wohin? Und Wohin?

Und immer auch Einsamkeit, von Anfang an, seit er denken konnte. Und vielleicht auch des-halb der Versuch, sich am vergangenen Glück festzuhalten und es sozusagen bei sich zu tra-gen. Um es in Portionen aufsaugen zu können, wenn das Leben nicht mehr so genannt wurde und Traurigkeit war oder ihn verbrannte wie die Sonne eines Südens, in dem er auch nie war.

Der Moment, in dem das erste Mal eine Seite seiner Gitarre riss! So unvergesslich wie das Ende aller Sonntage. Die Betäubung, die er damit versucht hatte, seit er keine Orgel mehr hörte und niemandem mehr glaubte, und nur noch von den Engeln der Kindheit träumte, kehr-te sich damals sofort um in ein Ergeben vor dem Schicksal. Es war ein einsamer Tag in einem anderen Staat gewesen, aber das hatte niemals eine Rolle gespielt außer später, und so war das allgemeine Gefühl für eine Weile gefunden – und damit hielt er es viel zu lange aus.

Und dann Julias Blick als sie ging, wie der in ihn hineingegangen war, sich eingebrannt hatte, so dass sich an Julia nur noch von diesem Blick ausgehend erinnert werden konnte. Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen, hatte er gesagt. Und sie: Du bist mein Glück. Aber er war vielleicht zu wenig egoistisch gewesen und hatte sich im Nachhinein doch hundertmal durchgespielt, was er einfach hätte sagen sollen, aber damals konnte er sich einfach nicht vor-stellen, dass sie gehen würde. Und wenn doch, so könne sie ihn ja nicht so geliebt haben, wie er immer geglaubt hatte. Ein Missverständnis? Sie meinte, eine solche Möglichkeit müsse man nutzen, aber für ihn wäre sie dageblieben. Wäre er nur nicht so lässig geblieben, so als könne er alles hinnehmen, so gleichgültig. Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen – was für ein bescheuerter Satz! Und immer hatte sie noch gehofft, er würde was sagen, während sie das Ticket kaufte und alle Vorbereitungen für Amerika vorantrieb. Doch war es nur immer unabänderlicher geworden für ihn – geschaffene Tatsachen.
Und dann dieser Blick, der ihm alles offenbarte und so voller vorweggenommener Traurigkeit war, dass er wusste, sie liebe ihn, und nur ihn. Als hätte er es vorher nicht glauben können. So einfach auf ihn gerichtet, war dieser Blick, so alles andere vergessend, mit dem leichten Ab-glanz kommender Tränen und dem versuchten, hoffnungsvoll aussehenden Lächeln, das auch nur Traurigkeit verbarg. Und er ging nochmal auf die Scheibe zu, hinter der sie schon ver-schwamm, und sagte: Ich vermisse dich schon jetzt. Sie warf ihm noch einen Kuss zu und drehte sich dann weg. Und es war der Beginn eines sehr langen Abschieds, der nicht enden wollte, weil sich doch immer wieder ihre Augen auf ihn richteten. Das letzte nichtendenwol-lende Bild in all seinen Gedanken.

Einsamkeit war aber schon von Anfang an immer dagewesen: Wenn er abends aus seinem Fenster auf die alte Eiche sah, die vor seinem Fenster ihre Äste von sich streckte und abends immer von einer eigenwilligen Laterne beschienen wurde, so dass ihre Schatten eigentümlich in sein Zimmer fielen, und er dabei seine Zigarette rauchte, so dachte er dabei oft an die zu-rückgebliebenen Jahre, in denen er mit Hannes dort herumgesessen hatte, und nach und nach stiegen andere Bilder aus der Kindheit in ihm auf, Stimmen, Gerüche, Farben, aus denen eine intensive Fröhlichkeit und Unbeschwertheit strahlte und ihn wärmte. Und dann wurde er trau-rig, schnipste die Kippe auf die Straße hinunter und blickte der letzten Glut melancholisch nach. Es gab so viele Zeiten und Orte, an denen er in Gedanken hängen blieb – und sich nach dem Weiter fragte, nach dem nächsten Schritt, der von hier weg führen würde. Dass die Kindheit, diese herrenlose Zeit, vorbei war, er auch zu stolz war, um sich noch als Kind zu sehen, dass sie einfach langsam abstarb und immer schaler wurde, das war ihm ja längst be-wusst geworden. Aber was sollte nun kommen?
Die kindheitliche Selbstsicherheit entschwand merklich, und eine vorher so nicht geahnte Schüchternheit bahnte sich Weg. Auf einmal erhaschte er Blicke von Mädchen, die eine un-gewohnte Röte auf ihre Wangen trugen, deren Haar nun immer gepflegt daherkam, duftete, und ihm wurde auch seltsam zumute, wenn er mit manch einer Klassenkameradin nach Hause schlenderte. Schnell erfuhr man alles oder vielleicht vieles über Sex und Liebe und diese gan-zen Dinge, die noch lange unerklärt blieben. Wenn auch nicht von den Eltern so doch aus der Bravo, die er auch plötzlich von seinem Vater gekauft bekam. So viele Geheimnisse und Wörter gab es zu entdecken, von denen auch die anderen wussten, man sich aber noch nicht getraute, darüber zu reden. Und es gab auch peinliche erste Küsse und Freunde, die plötzlich die Nachmittage mit einem Mädchen verbrachten und anders wurden und Stunden voller Grübeln über die unscheinbarsten Sätze. Und das Umherstreunen auf leeren vermüllten Hin-terhöfen und in dunklen Kellern und die Nachmittage auf dem Fußballplatz und das Spielen an einer Pfütze verloren an Spannung, und eine sehnsuchtsvolle Ahnung von der großen Welt, dem großen Leben verpflanzte sich in seine Seele, langsam und unmerklich erst, aber immer verlangender dann, immer dringender.
Was war noch die Lösung aus dem ganzen Dilemma gewesen? Ganz genau war der Tag in seinem Gedächtnis heften geblieben, nicht wie ein Traum sondern wie ein Ausschnitt aus ei-nem Kinofilm, den man gesehen hat und den man nie mehr vergessen wird. Es hatte etwas Heiliges gehabt, auch damals war es so empfunden worden. Der Strand und der kleine See waren wie immer unter der zweiten Frühlingswärme geschmolzen und er und seine Freunde waren auch nur Punkte, die etwas Farbe in den zum baumumstanden See hin abfälligen Sand brachten. Und dann wurde wie so oft in letzter Zeit die Bong ausgepackt, die er sich damals noch gar nicht erklären konnte und Natalie und Sascha machten die sogenannte Mische und rauchten die Bong, wie es hieß: Kifften. Er hatte es schon öfter beobachtet, ohne zu wissen, was mit Kiffen gemeint sei. Nur eine ungenaue Vorstellung von Droge kam ihm dabei in den Sinn, so ungefähr die Hölle menschlicher Erfahrung war ihm früher von Eltern und Lehrern und sonstwem beschrieben worden. Im Bibelunterricht, der für ihn nach der achten Klasse mit seiner Entlassung aus selbigem beendet war, hatte es mal eine ganze Stunde gegeben, in der vor Drogen und wörtlich Teufelsmusik gedroht worden war. Aber im Angesicht seiner vor sich hinschmunzelnden Freunde und aus Neugier und sicherlich einem großen Gefühl von Mitmachenwollen und auch –müssen, aber vor allem aus Neugier, wegen dem Reiz des Ver-botenen, wegen Natalies einladenem Lächeln und Hannes freundlicher Bereitstellung von Dope ließ er sich dann doch darauf ein und rauchte seine erste Bong. Nach kurzem machte sich zwar Ernüchterung breit, weil er nichts spürte, nichts merkte von dem, was ihm beschrie-ben worden war, nur die unglaubliche Harmlosigkeit dieser ganzen Sache offenbar wurde, aber er hatte doch nachher das überwältigende Gefühl, weiter gegangen zu sein, etwas neues ausprobiert zu haben, das ganze Leben vor sich offen zu sehen, ein Leben voller Möglichkei-ten, in dem die Sonne hineinstrahle und manchmal ein luftiger Zug über das hörbare Gras streichen würde. Der Tag mit seiner besten Stimmung glich seiner zu erwartenden Zukunft, glich doch dem ganzen Dasein, welches sich vor ihm ausbreitete, und er sah den klaren Zu-sammenhang aller Dinge und das weite freie Leben, nach dem er sich sehnte, breitete sich vor ihm aus wie eine Wiese voller Blumen, die man nur noch pflücken brauchte, deren Anblick aber schon genügte, glücklich zu sein. Und dann auch das Gefühl, dass er nun ein großes Ge-heimnis vor seinen Eltern hatte, ja, vor der ganzen Welt – und er in einem Kreis von Geheim-nisträgern aufgenommen war, der auch vorher schon sein Freundeskreis gewesen war, zudem aber nun weiteres Gefühl von Gemeinschaft stieß. Die Zukunft war so offen wie ein Tag beim ersten Aufwachen am Morgen: Nichts war gewiss außer den nächsten Stunden, Tagen, Wo-chen und noch weiter ließ sich einfach nicht denken!

Es war ein wahrlich unbeschwerter Sommer, aus dem er sich im Nachhinein all die Jahre zu-sammenlog, in denen er dann nur noch in Gleichgültigkeit, in Sucht und Abhängigkeit, in dieses vernebelte und verschleierte Nichts fallend, in einem großen ereignislosen dumpfen Sumpf gelebt hatte, aus dem er lange nicht mehr herausfand. Die Neugier nach dem atembe-raubenden, unbekannten Reiz des Verbotenen verschwand in all den Nachmittagen, in denen er betäubt auf den Sofas irgendwelcher Freunde oder an dem Ufer eines Sees herumlag und sich – wie er meinte – selbst entdeckte und erforschte, sich selbst beobachtete und langsam in eine hohle leere Taubheit abrutschte und letztlich gar nicht mehr aus ihr herauskam. Mit Sa-scha und Hannes und anderen Leuten sprach er dann über das beschissene Leben, über un-gerechte Lehrer und Noten, über Dämlichkeiten der Eltern und die finanzielle Not und geisti-ge Unterdrückung all dessen, was das Leben eines Jugendlichen ausmachte. Spärlich kamen diese Reden daher, die aus Sprüchen und allgemeinen Unwahrheiten bestanden und in die immer auch merkwürdige Vorstellungen über das eigene Leben einflossen.
Er wollte Musiker werden, und das war allen klar, aber den Ernst seines Wunsches hatte er niemandem erzählt. Vorbilder wie Jimi Hendrix und Kurt Cobain und andere verschwammen in seinem Hirn mit der Vorstellung von eigenem Talent und einem großartigem Leben, dass eben verdammterweise noch überall gestört wurde, noch überall war die Freiheit, alles zu tun, eingeschränkt.
Und dann diese Unzufriedenheit über das eigene Leben, die eigene Belanglosigkeit und Über-flüssigkeit, die jetzt oft gefühlt und so allgegenwärtig wurde, dass er immer häufiger die Ab-lenkung im Kiffen suchte und niemals fand. An einem Nachmittag hatte ihn ein Detektiv im Supermarkt geschnappt, wie er sich sinnloserweise mal wieder Zigaretten geklaut hatte. Das Geld war knapp geworden und einer Anzeige konnte er nur mit einer weiteren Zahlung entge-hen. Abends war bei Natalie Party gewesen, was hieß, dass viele Leute sich trafen und kifften und auch einiges getrunken wurde, aber die Stimmung doch mies war. Man konnte viel la-chen, jeder erzählte Storys über Bullen und Väter und irgendwelche Idioten, die irgendwelche blöden Dinge getan oder gesagt oder gemalt oder sonstwas gemacht hatten, und jeder erzählte von den Plänen, die die Zukunft betrafen und von denen jeder wusste, dass sie niemals ver-wirklicht werden würden, und dann wurde das Dope und der Alkohol knapp und man fluchte über diese ganze Scheiße und borgte sich noch Dope und rauchte noch einen oder verfluchte die Egoisten, von denen man geglaubt hatte, es seien Freunde, und die jetzt nicht mal ihr letz-tes Dope teilen wollten. Und der Abend in diesem Frühling wurde lang und schläfrig und die Musik ging einfach aus und ab und zu hörte man noch ein Lachen und sonst nur das lange Schweigen dazwischen. Nicht weit nach Mitternacht brach er mit Hannes und Sascha auf. Sie schlürften etwas wackelig die Straßen nach Hause, hielten noch mal an, um eine letzte Tüte zu rauchen und dann kotzte er irgendwo in einem Park.
Am nächsten Tag spielten sie Fußball auf einem zermatschten Platz am Rande der nassen Häuser, aber der Himmel ergoss sich dann über ihnen und sie stellten sich unter eine alte Hüt-te, die man sich mal in besseren Zeiten gezimmert hatte. Leon blickte am Eingang stehend auf die dunklen Wolken, die immer näher heranrollten und so laut zu schrieen schienen, und eine alte Melancholie überkam ihn als er auf die fernen naßschwarzen Bäume der Kindheit sah.
„Wo hat diese ganze Scheiße eigentlich angefangen?“
„Welche Scheiße?“
„Ach, welche Scheiße, man? Diese ganze Scheiße einfach…. Manchmal denke ich, man müsste doch davon wegkommen können. Irgendwie…. Vielleicht weggehen, weg aus Deutschland, weg aus Berlin, weg von diesen Straßen und dem ganzen Dreck. Oder das be-schissene Buffen sein lassen oder zumindest reduzieren.“
„Nee, das werde ich mein ganzes Leben lang machen. Das ersetzt einfach alles andere. Es geht gar nicht anders.“
„Das ist ja eben die Scheiße.“
Aber solche Momente gingen auch wieder und dann war der Alltag ganz normal und die Zen-suren wurden nicht besser und nicht schlechter und das Fernsehprogramm blieb langweilig, aber das einzige für den Nachmittag im ganzen Frühjahr, und dann starb ein Opa und es gab eine Beerdigung und das Leben und Kiffen ging weiter. Aber abends gab es auch immer häu-figer Depressionen und traurige Lieder, die auf der Gitarre gespielt wurden und lange verhall-te Nächte, in denen der Wind von einer fernen Sehnsucht sang, die es nur irgendwie zu we-cken galt, von Liebe, von Erfolg, von Konzerten und Reisen und verkauften CDs und von bescheidenem Leben mit einer schönen, einfachen, fabelhaften Frau irgendwo draußen in der Natur.
Oder er las Hemingway und Fitzgerald und andere schöne Geschichten und Biographien und es hungerte ihn nach diesem Leben, nach einem Dasein, dass sich fühlen, atmen, hören, sehen ließ, nach Abenteuer und weiter Welt, nach Sonnenuntergängen und verlorenen Nächten in verkommenen Bars, nach allem, was einen weiter bringen, was Spaß, was Lust, was glücklich machen würde – und dann überkam ihn eine eigene tiefe Traurigkeit, weil doch alle scheiter-ten, das ganze Leben ein Scheitern war und es so unvermeidlich und absehbar war, dass auch er scheitern würde, zerschlagen an einem Hindernis, einem Gebirge voller Zwänge, oder dass er einfach aufhören würde zu sein, ganz unscheinbar aus dem Leben fallen würde, noch wei-terspielen, kiffen, saufen, schlafen, reisen, lachen, schreien, verlieren würde, ohne wirklich er zu sein, ohne zu fühlen, einfach hinter einer Fassade langsam abwracken und untergehen würde. Die Tränen, die er dann meinte, weinen zu müssen, kamen nie, und sein Rachen zog sich zu, ohne dass er je erstickt wäre, und alles blieb im Hals hängen und war so leblos und kalt und hart wie eine Wand, gegen die man gar nicht erst rannte, und wie er für sich immer sagte: schal.

Und immer immer immer dieses Gefühl von Einsamkeit, von existentieller Einsamkeit. Es gab zwar Mädchen, mit denen er was anfing, denn er war ja ein hübscher Junge mit seinen langen Locken und dem traurigen Blick und dem melancholischem Spiel auf der Gitarre, aber das war alles unbedeutend und nur körperlich. Eine Weile glaubte er, sich in Natalie verliebt zu haben, doch war sie nicht die Sehnsucht, die er in all seinen Träumen suchte. Sie küssten sich wohl mal, und dieser Kuss ist mit einer sehr intensiven, feuchten, wohlschmeckenden Erinnerung verbunden, doch konnten sie dann nicht weiter und schauten sich lange in die Au-gen und blieben dann einfach nur auf ihrem Bett liegen und lauschten der Stille, die sie um-spielte. Mit einem Mädchen namens Sarah hatte er in der elften oder zwölften Klasse das erste Mal geschlafen, aber auch das war eine Nacht, die er damals in jenen unwirklichen, dunklen, erhitzten Stunden zwar intensiv genoss, die am nächsten Morgen aber schon etwas bitteres und kaltes gewann, und er sich diese Nähe der Nacht schon nicht mehr erklären konnte. Ihr nackter weicher Rücken war nicht mehr die Einladung wie noch am Abend zuvor gewesen, und er wusste, dass er sie nicht liebe und nichts von ihr wolle, aber er wusste nicht, wie nun weiter – und küsste sie auf die schlafenden Schultern und strich ihr übers Gesicht und ver-schwand dann. Manchmal, nach langen Abenden, gab es eine Wiederholung jener ersten Nacht und jedesmal zog ihn ihr Lächeln aufs neue an, aber morgens fröstelte es ihn doch wie-der neben ihr. Er empfand für keine der beiden und auch für keine andere Liebe, und das war doch das, was er suchte, wonach er sich sehnte – Nähe am Morgen, Umschlungensein und tausend lustige Stunden, in denen man keine Welt mehr brauchte, niemand anderes mehr als sich.

Und nun also? Julia trat in sein Leben und alles änderte sich?
Nein, das war erst später. Und eine Wahrheit, die sich sagen ließe, die aus irgendeinem Staub herangeflogen käme, die gab es nicht, und die gibt es nicht.
Die Schule war vorbei und das Leben ging weiter. Und mit dem Kiffen wurde langsam aufge-hört – warum eigentlich?

-Warum Leon? Warum hast du eigentlich aufgehört mit dem Kiffen?
-Hab ich das? Habe ich aufgehört?
-Aber du hast doch nicht mehr gekifft, oder: Nicht mehr so oft.
-Ja, dann habe ich wohl damit aufgehört.
-Na, das war doch gut und wurde auch Zeit und überhaupt.
-Aber weißt du: Eine Droge ersetzt man durch eine andere – und vielleicht durch eine schlimmere…
-Und dann kam also der Alkohol?
-Und dann kam der Alkohol.

Und dann kam also der Alkohol. Die Bilder, die damit zusammenhängen, und die jetzt durch seinen Kopf schossen, waren allesamt schon getrübt, was heißt, das es lustig zugegangen ist für eine Weile – für eine ganze Weile. Denn nach der Schule, und nachdem mit dem Kiffen Schluss war, und nachdem auch die Schwermut langsam verschwand, weil es ja vorwärts ging und gehen musste, da verdiente er Geld als Zivi, wie Hannes auch, wie Sascha auch, wie viele andere auch. Und sie hatten alle keine Lust mehr, die Wochenenden zusammen mit schlechten Filmen und völlig betäubt und ohne Motivation zu verbringen. Jetzt war das Leben dran, die große weite Welt, auf die sie doch die ganze Zeit gewartet hatten, jetzt endlich. Mit Hannes hatte er einen hervorragenden Freund, und mit ihm konnte er immer Party machen.
Also: Natalie machte eine Party. Und wie so oft in letzter Zeit trafen sie sich vorher bei Han-nes, weil sein Vater ja nachts arbeitete und seine Mutter schon lange fort war – in Stuttgart oder doch dort in der Nähe – und sie tranken schon mal ein Bier oder gleich zwei oder noch ein drittes, weil es ja lustiger ist und aller guten Dinge immer drei sind. Und dabei kann man auch noch einen Skat spielen, zumindest bis zum zweiten Bier. Und dann klingelte natürlich noch irgendwer, wahrscheinlich Lene und Karoline, die aber unwichtig sind. Oder auch nicht. Denn Leon interessierte sich für Karoline und fand es also auch schön, dass sie vorbeikamen, was ihn aber doch etwas befangen machte – nach drei Bier noch? Herrliches Durcheinander dann, und nach zwei Runden Wodka konnte man gar nicht mehr befangen sein und sang erstmal noch ein Lied und dann stolperte man schon durch die Straßen und die Nacht und kam alsbald bei Natalie an.
Der Himmel schenkte eine tiefe volle Nacht aus, die ohne Wolken auszukommen gedachte, und sich mit Sternen dekorierte und so ein wärmendes Gefühl in diese kurze Juninacht legte. Das Gelächter war weiträumig und frei und doch nicht zu hören im vertrauten Gespräch mit Sascha oder mit Karoline, dieser schwarzhaarigen vollen Schönheit, deren Gesicht, vom La-gerfeuer beschienen, ganz weich wurde und zwischen der kleinen Nase und den sanft ge-schwungenen Wangen hindurch ein einladendes Versprechen war. Und schon kam Sascha angesprungen, mit einem Glas in der Hand, und sprang in die Luft und warf diesen Becher dabei hinter sich und alles alles begann nur noch schneller und lustiger zu werden – und wozu überhaupt Trübsal und Einsamkeit?
Und hast du mal Klingsor gelesen? Und willst nicht auch du zehn Leben haben?
Dieser Abend hatte zehn Leben und alle wurden aufgebraucht, herausgeschmissen, geschmet-tert, in die laue Nacht herausgebrüllt! Die Gläser wurden gefüllt und getrunken und die Mäd-chen schöner und schöner, und der Morgen heller und heller, und die Stimmung hörte nicht auf zu sieden und zu kochen und lief irgendwann über und der Tag begann hinter den Kasta-nien sein Lied zu pfeifen und überkam dann alle mit Müdigkeit und trägen letzten Versuchen von Bewegungen, die Tanz, die Freude, die Abschied waren.
Und dazwischen in irgendeiner Stunde, in der gesprochen, geflüstert, gekuschelt, gesehnt, versprochen und erfüllt, gelacht, getanzt, umarmt, geküsst, geraucht und getrunken wurde, sah er das erste Mal Julia.

Noch eben hatte er gedankenverloren vor an einem Zaun gestanden, den Blick auf ein leeres Stück Papier am Boden gesenkt, noch eben war das Leben, was es schon lange war: Eine lan-ge Stunde vor dem Schlafengehen. Doch als er sich umdrehte, noch mit den Händen an sei-nem Gürtel hantierte und dabei schon langsam wieder nach vorn in die Nacht blickte, undeut-lich und schwammig, kam sie ihm gerade entgegen gelaufen, vielleicht auch geschlichen, und dabei lächelte ihn ihr Lächeln so direkt und offen an, dass er sich noch kurz irritiert umdrehte, wonach sie aber weiter gegangen, sich irgendwo auf einer Bank zu anderen gesetzt hatte. Er behielt dieses Lächeln in seinen Gedanken, es versüßte ihm den Abend, wenngleich er sich noch nicht weiter für dieses Mädchen interessierte, aber sie war ihm sogleich und ohne Aus-nahme sympathisch, und er wäre bereit gewesen, für sie zu lügen und zu stehlen und alles zu tun, um ihr zu gefallen. Und nun achtete er den Rest dieser Nacht auf sie und schaute ihren Bewegungen zu und sprach auch mal kurz mit ihr und war seltsam froh. Für sie, die ihn an diesem Abend schon vorher vereinzelt durch die Luft hatte schwingen und tanzen und lachen und erzählen sehen, war es ein weiterer lustiger Anblick eines betrunkenen Typen, den sie nicht kannte. Sein Blick war schon etwas gelöst von den Gedanken des Tages, fiel ab von der Ratio, hinter der er sich sonst versteckte und verwaltete, aber sein frohes plötzliches Lachen erinnerte sie dann vielmehr an ein Kind, das von den Sorgen der weiten Welt noch nichts wußte.

-Das war also Julia?
-So war das, aber das spielt ja alles keine Rolle. Was wir wissen müssen, ist, dass Julia ein gescheites Mädchen ist. Ein hübsches sowieso, was zwar nicht jeder so sehen würde, aber die ganz besonderen Charaktere, die besonderen Menschen sind nun mal auch in fabelhafter Wei-se besonders hübsch. Und sie fand ihn nett und er war schon nach einem weiteren Treffen dabei, sich zu verlieben. Und wie und wann und wo sie dann zueinander fanden, ist auch nicht von Bedeutung. Nur die Tatsache zählt.
-Wenn man an Julia denkt, möchte man ja gleich auch einen Romeo vor sich sehen, und die tragischste Liebesgeschichte überhaupt!
-Ach, Julia war auch ein solches Mädel, wie es sich jeder Regisseur wünschen würde, ein richtiges Weib, aber zart und zerbrechlich, ein starker Charakter, der wusste, was er wollte, und doch die ganze Welt für eine gescheite Birne fallen lassen konnte, oder für einen Nach-mittag am Strand, oder für eine Nacht mit guten Leuten und viel Wein. Eine solche Rolle hät-te sie im Theater aber niemals gespielt, und erst recht nicht im Leben. Das Tragische war nichts für sie, die sie stark sein wollte. Und solche Zeiten der tragischen Liebe sind vielleicht auf immer vorbei und kommen nie wieder und was willst du überhaupt damit? Und einen sol-chen Romeo gab es auch nicht mehr.
-Hatten sie denn wenigstens eine gute Zeit?
-Die Zeit zusammen war fabelhaft gewesen, und immer mehr auch das einzige, an dem sich Leon noch hielt, noch halten konnte – bis auch das wegbrach.

Glücklichsein heißt, auf seinem Bett liegen zu können, ohne sich einen Kopf um etwas zu machen, ohne sich zu sorgen, zu verzweifeln, zu ärgern, zu denken, an die Decke schauen zu können und mehr zu sehen als das vergilbte Grauweiß des Alltags. – Insofern waren Leon und Julia glücklich (beide gleichzeitig, was schwer ist), am glücklichsten natürlich, wenn sie zu-sammen waren. Glückliche Zeiten brachen also an, und mit ihnen fiel der goldene Herbst mächtig auf die flirrenden Stadt herab – und später auch noch ein Winter, in dem es einfach nicht kalt wurde.
Julia kam nach der Arbeit immer noch mit einem Lächeln nach Hause, in ihr Zuhause, in dem sie erst seit ein paar Monaten wohnte, sich aber schon nichts anderes mehr vorstellen oder wünschen wollte. Die kranken alten Leute und diejenigen, die sich nicht mehr bewegen konn-ten, wurden wieder schneller gesund, trauten sich eher wieder etwas zu, seit sie dort aushalf, und zwei oder drei sahen dem nahen Tod inzwischen fast verschmitzt und ruhig entgegen – irgendwie entfanden sie Dankbarkeit für den Frieden ihrer letzten Tage. Aber Julia achtete bei ihrer Arbeit kaum darauf, wohl war sie überall dabei, freundlich und mit diesem bestechend süßem Lächeln und einem Blick, dem sowieso nichts standhalten konnte, war der Engel ihrer Umgebung, der Liebling aller Heimbewohner, doch waren ihre Bewegungen gleichsam me-chanisch, ihre Gedanken irgendwo hinter dem Horizont, sie selbst in eine andere Sphäre hin-aufgeflogen – eine Liebende.
Waren die Gedanken noch beim letzten oder schon beim nächsten Abend? Oder ruhten sie einfach in seinem Gesicht, in seinen Augen? Gab es denn noch eine andere Welt, fragte sie sich manchmal. Doch selbst wenn dies so sein sollte, so konnte diese Welt doch nichts wert sein, eine Welt ohne Leon, ohne dieses Gefühl beim Anblick seiner so weichen Augen, beim Hören seiner sie umarmenden Stimme, beim Fühlen seines Atems in ihrem Nacken, wenn er sie vor dem Einschlafen zudeckte, dieses Gefühl von Glückseligkeit, von Insichhineinschmel-zen, von allesumfassender Freude – eine Welt ohne dieses zarte Gewebe, das mit dem schöns-ten aller Worte Liebe getauft worden war, blieb undenkbar. Nein, diese andere Welt war doch zu weit weg, als dass sie sie sich hätte vorstellen können.
Aber hatte sie nicht auch Leon herausgebracht, ihn in die Welt hineingeboren? Gab es nicht Orte, die er mit seinem Blick umfasste und erklärte und sie doch daneben stand und alles gleich annahm, wie er es gesagt hatte? Und ging er nicht auf den gleichen Wegen wie sie durch die Stadt, sie vom U-Bahnhof abzuholen: Sie konnte es sich nicht vorstellen. Wie glücklich konnte sie doch sein, auch von dieser Welt zu stammen, ach, eine Welt unendlich von Wundern umgeben! Wie könnte sie dieser Welt nur Dank erweisen? Und mit diesen und weiteren, ähnlichen Gedanken kauerte sie auf ihrem Sessel in der Küche, trank ihren Tee und rauchte ohne Hektik eine Zigarette und wollte nichts weiter tun, als auf Leon zu warten, die Ruhe genießen, die Vorfreude. Und doch wartete sie eigentlich nicht, sondern schwebte in einer Gedankenblase von Moment zu Moment. Und dann war Leon irgendwann einfach da – und die Zeit, in der er nicht dagewesen war, hatte schon nichts mehr mit einer Wirklichkeit zu tun, war wieder für immer vorbei, vergangen, wie ein böser Traum beim Aufwachen einfach von der Wachheit abgefallen.

Wo warst du so lange, Leon?
Und da steht er in der Tür, sieht Julia auf ihrem Sessel kauernd, in ihn hinein sitzend, reglos, aber mit großen, glücklichen Augen, die nur auf eine, auf irgendeine, auf egal welche Ant-wort, die doch eigentlich nur auf Leons Stimme warten; so sieht er sie, und schon weiß er selber nicht mehr, wo und wie er den Tag zugebracht, ach was!, die Stunden seit dem Morgen vergeudet hat. Er legt seine Jacke und die Tasche weg, vergisst sie neben der Tür, und kniet sich vor den Sessel, umfasst ihre verwinkelten Beine und legt seinen Kopf auf ihren Schoß, so mit Selbstverständlichkeit.
Ich wollte dir was schenken. Sagt er. Ach so? Was schenken? Aber ich habe nichts gefunden, was ich dir schenken könnte. Alles erschien nicht schön genug, nicht perfekt genug, alles schien fehlerhaft zu sein; aber das war`s nicht. Ich wollte dir was schenken, was die gleiche Liebe zu dir empfindet wie ich. Aber alles, was ich dir schenken könnte, wäre zwischen uns, würde sich irgendwohin stellen lassen und eine nette Erinnerung werden – und ich will keine Erinnerungen. Ich will nur Gegenwart, das Gefühl, dass der jetzige Moment der schönste ist, und dass er einfach nicht aufhören wird. Nur wir beide sind gut für uns, alles andere gehört nicht zu uns, hat nichts mit uns zu tun und soll es auch nicht.
Ach Leon! Du kannst mir doch auch nichts schenken, ich weiß das doch alles. Du sollst nur hier sein. Und oft will ich sogar gar nicht, dass du sprichst. Du sollst nur kommen und mich küssen und vielleicht fragen, wie mein Tag war, oder besser du lässt das sein, und dann legst du dich neben mich aufs Bett, dass ich dich anschauen kann. Ich muß dich nämlich noch bes-ser kennernlernen, so dass ich dich auswendig vor mir sehen kann.
Und solche Abende gab es häufiger, und doch haben sie noch oft eine Flasche Wein getrun-ken, den kräftigen Roten oder lieber einen zarten Weißen, und haben geredet und erzählt und das dickliche Licht der Lampe, orange und rotgelb an die Wand gekleckst, lauschte und summte ganz leise schon das Gutenachtlied. Und sicherlich waren an solchen Abenden auch mal Freunde da, die kann man sich in der kleinen, gemütlichen Wohnung ja gut vorstellen, und sie erzählten sich von den Jobs als Zivi oder Azubi oder von den kleinen Taschengeldtä-tigkeiten, die man so trieb, um sich am Leben erfreuen zu können, Putzen, Telefonieren, Wer-ben, Packen etc., und natürlich ging es um Natalie, die jetzt in Hamburg studierte und Berlin verlassen hatte, und um Saschas Pläne, nach Namibia zu reisen im Sommer, und um Bezie-hungsgeschichten und andere Geschichten, die sich im Laufe einer Woche anhäufen und er-zählt werden wollen, und der Rauch steigt an den Gesichtern entlang und ertastet sie, bis ein kühler Wind ihn ins Jenseits hinter dem Kühlschrank vertreibt und die müden Wangen sticht und streichelt, und das orangene Licht der Lampe lässt die Körper auf ihren Stühlen und Ses-seln tiefer rutschen, Lachen zwischen den Tischbeinen, ein Bier noch, ein Prost noch, eine Zigarette noch, eine halbe Stunde noch, noch keine Müdigkeit, noch reden, noch mal auf ein Wochenende zu sprechen kommen, und zwischendurch einfach Julia ins Bad folgen und sie festhalten und küssen und sich schwören, eine Woche lang keine Leute mehr sehen zu wollen, und dann lachen nochmal die Kacheln und werden nass gespritzt. So sind manchmal die A-bende, aber nicht der heutige. Heute liegen sie nur auf dem Bett und zählen ihre Wimpern, und die blaue Nacht hat ein arktisches Zelt um sie erstehen lassen.
Also auch das ist so ein Bild Leons, das ihm jetzt noch durchs Hirn wandert, ein Gefühl viel-mehr, aber das Bild kommt gleich dazu: Einfach neben Julia auf dem Bett liegen, sie ansehen, alles andere nicht wissen und kennen und wollen, und so dabei glücklich sein. Also dies Bild halten wir mal fest.

-Vielleicht war ich nie so glücklich mit ihr, und alles ist nur im Nachhinein so geworden?
-Vielleicht, Leon, vielleicht.
-Als sie weg war, habe ich es mir vielleicht alles nur so schön zurecht gedacht, weil es die beste Zeit war.
-Vielleicht, Leon. Ich weiß es auch nicht. Aber es ist vorbei, und du solltest nicht an allem früherem Glück zweifeln, weil es ist, wie es ist: Vorbei.
-Und wer bist du überhaupt?
-Ich bin nur die Stimme in deinem Kopf, die dir zuhört.

Bittere Leere, Dunkelheit, schwere Stille dringt in mich ein, umgibt mich, dampft aus allen Ecken in tonlosen Schwaden, und diese kleinen Schauer berühren mich, fassen mich mit ihren eisigen Fingern an. Ja, fasst zu! Laßt mich erfrieren! Kälte, komm durchs Fenster und deck mich zu heut Nacht! Und wieder dieses kleine, ängstliche Gefühl von Einsamkeit, von Allein-sein, von Verlassensein. Ich habe Angst vor diesem Bett, vor dem Einschlafen und dem Auf-wachen im Hellen, was sich nennt: ein neuer Tag. Ich habe Angst vor dem Moment, in dem mir bewusst wird, dass sich das Rad nur ein Zähnchen weiter gedreht hat, alles wieder von vorne beginnt, das Aufstehen, das Waschen, das gedankenlose Dösen in der Uni, das Einkau-fen, die stundenlangen Stunden voller Starrens an die nichts-erklärende Decke und irgend-wann in der Nacht wieder die Angst vor dem Bett, vor dem Einschlafen… Und dann denke ich wieder, dass doch alles anders sein könnte – aber wie? Meine Augen sind leer und sie se-hen nur Leere vor sich, Straßen voller mechanischer Bewegungen, Wege, auf denen Autos hin- und herfahren, feste Regeln befolgend, sie sehen Häuser, deren Schatten auf alles fällt und die ein stummes, versteinertes Gesicht dazu machen, und wo sind die anderen Menschen? Wenn ich unter ihnen bin und laufe, bin ich der einzige, der wankt und fällt und die Augen auf den Boden senkt und keine Sicherheit in seinen Bewegungen hat. Die Nacht wird lang und länger und wird aufhören, kurz nachdem ich eingeschlafen sein werde; ich rieche sie, ich lausche ihren versteckten, kleinen, leisen Stimmen, die mir von ewigen Träumen singen, de-nen ich nicht mehr glaube, ich fühle ihre eisigen Finger, wie sie durch das Fenster nach mir greifen, mich streicheln, mich sanft berühren, mich töten wollen, ich rufe auch die Nacht mit wenigen Zeilen nur, mit wenigen, verzweifelten Zeilen, mit Fragen nach einem Sinn, nach einem Weiter, nach einem Glück, das sie mir nicht geben kann. Die Nacht, die Nächte kom-men immer wieder, allein, und lachen über die Träume von einem Glück, über die Träume von einem anderen Leben, sie lachen, wenn ich an Julia denke, sie lachen mit ihren bitteren, kalten Stimmen über mich – und ich weine. Die Schwärze der Dunkelheit tritt wieder an mich heran, betäubt meine schwarzen Augen, lässt mich wieder nach einem Licht greifen, lässt mich aufrichten, lässt mich verloren aus dem Fenster schauen, lässt mich nach dem warum fragen – und dann liege ich im Licht, im hässlichen Licht der Nacht und warte. Das orange-rotgelb an die Wand gekleckste Licht lässt mich erschauern, ich denke an die Stunde, in der wir den Lampenschirm bemalten und anbrachten, und schüttele den Kopf und bleibe ohne Bewegung liegen und in mir bricht wieder ein Herz in sich zusammen. Es tut so weh, wenn bricht, woran wir uns halten! Es gibt nichts außer der Liebe, an dem ich mich halten könnte, aber die Liebe ist weg und hat mich diesen langen, kalten, schwarzen Nächten ausgesetzt, in denen ich nicht schlafen kann. Weinen kann ich nur noch selten, die Augen schließen sich und ziehen sich zusammen, starren voller Tränen auf den Moment, der nicht mehr wiederkommen, der nicht mehr zu retten, der nicht wiederholbar ist, und verzweifeln schweigend dort in der Ferne. Bittere Kälte dringt in mich ein, die absolute Leere, in der es nichts mehr gibt, alles ist grau und nur noch in der Stille der Nacht zu ertragen, einem Grabe gleich.
Wo ist das große weite Leben? Wo?

Abends wollten sie noch weggehen, saßen zuvor aber noch in der kleinen Küche, die außer einer Kochnische und einem selbstgezimmerten Holzgestell nur noch aus einem Tisch mit drei alten Stühlen bestand, und tranken schon mal eine Flasche Wein, ließen das regelmäßige Aufkommen, Näherkommen, Vorbeigehen und Absterben der Autogeräusche vor dem Fenster und hörten es nur wie von ferne. Aus dem Kerzenflackern strich Ruhe in die warmen Gesich-ter, Müdigkeit sackte die grünblassen Wände hinab und ließ die Körper vornüber auf den Tisch hinabwallen, sich dort mit den aufgestützten Ellbogen ausbreiten. Das Rot im Glas be-kam einen Stich wie Blut, so kurz ein Gedanke Leons, und eine brennende mythische Vorstel-lung durchzuckte ihn, als er den Wein mit einer abendmahlsähnlichen Andacht trank, ihn in kleinen Schlücken in sich hineinfließen ließ, neue Kraft aufkommen spürte, so dass er den Kopf hob, der zuvor noch auf das Wachs des Leuchters schielte, und genau in Julias Blick geriet, der so schon eine Weile auf ihm gelegen haben mag, ganz harmonisch und ruhig und so, als wären sie zu einer Seele verbunden.
„Bist du manchmal einsam Leon?“
Und Leon schaute langsam zwischen den abgeschabten Ritzen und Krümmeln auf dem Tisch hin und her, und suchte dort vielleicht einen Punkt, der von selber sprechen könnte, was ihm auszudrücken nicht möglich war.
„Früher oft – jetzt eher selten. Mit dir bin ich nicht mehr einsam.“
Und aus Julia wurde durch unmerkliches Verziehen der Mundwinkel die lächelnde Julia, die einen damit reich beschenkt, und sie blickte reglos weiter auf ihn und schloß nur einen Hauch lang die Augen zur Bestätigung.
„Aber früher warst du ein einsamer Mensch, oder? Du hast so was an dir. Ich weiß nicht – als wärst du in einer tieferen Welt zu Hause, wo andere nicht hinkommen… Bei mir ist das so ähnlich: ich falle hin und wieder in Abgründe – bei dir denke ich manchmal, dass du aus die-sen Abgründen von Einsamkeit nur für eine Zeit aufgestiegen bist.“
Hatte er da noch hingehört? Er wusste es selber nicht mehr genau und antwortete nur von un-gefähr.
„Hmm. Ich weiß nicht – früher vielleicht. Ich kenne diese Abgründe, aber ich glaube, die gibt’s bei jedem. Jeder hat Angst vor Einsamkeit, vor dieser existentiellen Einsamkeit – auch ich. Ich kann mir zum Beispiel nur schwer vorstellen, wie das wär, wenn du mal nicht mehr da wärst… Ich kann’s mir gar nicht vorstellen... Aber da würde was wegbrechen.“
„Keine Angst, Leon. Aber lass uns das jetzt alles ganz schnell wieder vergessen. Spiel mir lieber was schönes auf der Gitarre vor!“
Und wo kann so ein Abend nun noch hinführen?
Er führte in die Nacht und die Nacht beginnt in der Stadt mit dem Ausschwirren der Men-schen, sie umtanzen die Nacht wie die Motten das Licht, wie schöne Motten, verkleidet und geschminkt. Einen Wimpernschlag lang flackert das Licht, einen Wimpernschlag lang umtan-zen sie das flackernde Licht der Nacht, und immer folgt ein Morgen, an dem die Nacht zu einem Wimpernschlag aus Stunden geworden ist, aus Stimmen, aus Musik, aus Betrunken-heit, aus Berührungen und Gelächter. Zuerst nur ein Moment voll matter Laternen, die sich über den glänzenden Schnee ergießen, auf ihn herabrieseln, die Spuren in ihm besehen und sie hinwegtupfen. Ein Gedanke noch an die Laternen, an diese Straße, die so kurz und klein wur-de, und deren Fußweg nur ein Sprung war, ein Gleiten, ein Schweben im Wind, der von der Seite kam und die Straße glänzen ließ – und vorbei schon wieder. Ein Wimpernschlag lang ein Licht in einem Keller, grell und bunt und rhythmisch flackernd, zitternd, bebend, ein kur-zer Strahl auf ein volles neues Bier, ein Lachen im Dunkel eines Dazwischens, einen Moment nur weiter Menschen aus Köpfen und fliegenden um sich greifenden Armen, ein ekstatisches Schwingen von Körpern zwischen dem raumfüllenden Bass und einer klaren, hellen Stimme, ein Wimpernschlag nur, und andere Zuckungen wieder, wie festgegossene Figuren, die sogleich wieder verfallen, ein flackerndes ruhiges Rot zwischen den Toiletten, ein Abglanz eines komischen Gesichtes, ein Wimpernschlag später vergessen, eine Bewegung hinab in den Strudel der Nacht. Ein langsames, starres Licht noch einen Wimpernschlag lang, ein gleichtö-niges Brummen, ein ungelenkes Drehen in einer Kurve, eine Ewigkeit eines erschrockenen Gesichtes im aufhellenden Scheinwerfer, dann wieder schläfrige Fahrt in einer stillen Allee, einen Wimpernschlag noch. – Der letzte Blick aus dem Fenster hört die Vögel wieder, Ver-künder des Morgens, eine gräuliche Helle schmerzt die Augen, ein Kuss zur Nacht, ein ge-dankenverlorenes Spiel erlischt. Ein Morgen erwacht zwischen den flüchtenden Schatten, füllt die Luft, duftet nach frischen Brötchen, läßt wieder eine Zeit herankommen an die Menschen, an die Geister der Nacht, eine Zeit, der sie wieder nur für einen Wimpernschlag entkommen konnten. Die Brücke in das nächtliche Reich verfällt, das Vergessen und Verdrängen zerbrö-ckelt unter dem frostigen Zug des Erwachens.
Macht die Augen noch nicht auf! Was kann sie euch denn bringen, diese Welt? Bleibt noch einen Hauch lang im Dunkel! Wollt ihr denn sehen, wissen, was ihr getan habt?

-Sind Julia und Leon doch nicht glücklich miteinander? Was verdrängen, was verbergen sie denn?
-Ach nichts. Glaubt mir: Sie sind glücklich zusammen. Aber der Welt mit ihrem Alltag, mit ihrem Schuften, mit ihrem Takt, mit ihrer Zeit können auch sie nicht entkommen. Jedenfalls nicht immer.
-Aber was wollen sie denn?
-Sie träumen von einem anderen Leben, von Zukunft ohne Gegenwart, von Ferne, die nur eine gute Seite hat und nicht an sie herankommt, von Leben, von Freiheit, von dem Floß auf einem sauberen Fluss, das sie einfach treibt, treibt, immer dem Horizonte entgegen. Vor solchen Träumen ist keiner gefeit. Sie müssen ja geträumt, ja auch gelebt werden! Und Freiheit und Ungezwungenheit und ein Floß, auf dem man treiben kann, das findet man eben am Wochen-ende, beim Tanzen, in vielen Momenten unter einem blauen Himmel, beim Lesen, beim Lie-ben, und auch in der Ausgelassenheit der Nacht.
-Du meinst: Sie fliegen durch die Nacht und suchen ihren Spaß mit Alkohol und Musik und fröhlichen Leuten? Sie träumen eine Nacht lang ihren Traum?
-Ja, sie träumen. Sie suchen das Leben, einfach nur das Leben. Und wo findet sich dieses Le-ben denn?
-Und morgends ist dieses Leben genauso ein klein wenig geschrumpft wie die Leber – und kommt nicht wieder.
-Aber für einen Wimpernschlag war da die Freiheit, alles zu tun. Und vielleicht zählt nur das.

Das Aufwachen neben Julia war immer einer der schönsten Augenblicke gewesen, die er sich hatte vorstellen können. Wenn sie noch mit halb geöffnetem Mund neben ihm lag, mit dem friedlichen Gesicht eines Kindes, so musste er sie anblicken, so durfte er diese kostbare Zeit nicht vergeuden. Ein Tag hatte noch nicht begonnen, die Nacht noch nicht aufgehört, solange sie noch schlief. Leon wagte nicht, sie aufzuwecken, nur ganz sanft streichelte er ihre Schul-tern und blies Luft in ihre Haare. Er wollte in sie hineinfühlen, sein Herz an ihrer Haut schla-gen hören, einen Gedanken denken, der sie beide umfasste, er versuchte, sie mit seinem Lie-ben zuzudecken und sie anzuheben in eine engelsgleiche Sphäre.
Sie konnte dann manchmal aufwachen mit kindlichen Augen und ihm zuschauen wie in einem Traum, ohne sich selbst zu wissen, mit allem einverstanden. Und er mag noch mit ihrem Haar gespielt und Liebesworte geflüstert haben in den sanft blinzelnden Morgen hinein, aber wenn er dann aufstand und sich schon vom Bett entfernte, konnte sie hochfahren und „Leon“ rufen und ihn erschrocken anstarren, und dann, als hätte sie wieder alle Kraft verbraucht, ins Kissen zurücksinken, nachdem er ihren schlafenden zu ihm gestreckten Arm gegriffen und sich hat ziehen lassen in ihre seinsvergessene Wärme hinein.
Nach dem Frühstück stockte ihr Blick plötzlich in seinem Gesicht, es kam ihm lange vor und wie erschrocken.
„Du, vielleicht gehe ich im September nach Amerika. Ein Onkel könnte mir dort eine Stelle beschaffen. Ich würde so was wie ein Aupair sein. Er hat meinen Eltern schon vor einer Weile davon erzählt, und gestern Abend habe ich mit Lene darüber gequatscht, weil sie ja auch so was machen wollte, und jetzt denke ich, dass es eine echt große Chance wäre, mal von hier wegzukommen, mal rauszukommen. Mal das große Leben leben, die Ferne sehen, einen gan-zen Horizont von Erfahrungen mitnehmen.“
Seit wann hatte sie einen Onkel in Amerika, war der erste Gedanke Leons, der aber gleich wieder abfiel von ihm. Warum will sie denn von hier wegkommen? Wieso höre ich eigentlich jetzt zum ersten Mal davon? Das große Leben in einer unsichtbaren Ferne verschreckte ihn und ließ sein Leben zu einem kleinen Krampf im Hals schrumpfen. Aber nach offenem Stau-nen, und nach dem er dies gleich wieder verbarg, freute er sich doch.
„Du willst nach Amerika?“
„Vielleicht. Mal sehen. Aber es wär doch ne tolle Sache.“
„Ja, auf jeden Fall. Wohin soll’s denn gehen?“
„New York. Wenn schon, denn schon.“
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich kann’s mir gar nicht vorstellen. Du gehst wirklich nach New York?“
„Naja, noch weiß ich gar nichts. Ich hab ja gesagt: Vielleicht. Irgendwas muss ich doch nach dem Jahr machen…. Du findest es nicht so gut, oder?“
„Doch, doch. Natürlich. Ich will ja deinem Glück nicht im Wege stehen.“
„Du bist doch mein Glück….“
Erst nach ihrem Blick bei der Verabschiedung, in einem Nachhinein konnte dies erinnert wer-den, erst von dem Abschiedsschmerz ausgehend ließ sich zurückgehen zu dieser Ankündi-gung, die doch so unscheinbar an einem kalten Wintertage gesprochen wurde, und damit en-dete, dass sie ihm um den Hals fiel und sanft hinein biss, und die schätzbaren tausende Kilo-meter zwischen hier und da fühlbar wurden als der Verlust solcher Nähe – aber dieser süße Schmerz ließ sich noch als Anfang greifen. Viele Fragen kamen ihm später immer in den Sinn: Wieso nur hatte er sich derart verhalten? Wieso hatte er nicht versucht, sie davon abzu-halten? Aber hätte er sie denn aufhalten können? Aber umso mehr er nachdachte und versuch-te, einen Punkt zu finden, der ihn auffing, umso mehr verlor er sich dabei in Gedanken und Tränen, um dann immer festzustellen, dass das Glück vielleicht dort verloren gegangen war. Was er auch dachte, es hätte immer in eine ähnliche Situation geführt.

Den Tag hatten sie ganz gut verbracht, aber abends musste er doch raus. Die Ankündigung Julias, nach New York gehen zu wollen, hatte ihn doch getroffen. Eigentlich war es ihm nie in den Sinn gekommen, dass sich irgendwas verändern würde oder anders werden könnte, ei-gentlich lief es doch wunderbar, warum also ein solcher Schritt? Er konnte sich das nicht er-klären und reimte sich dann immer wieder etwas zusammen, was keiner Wahrheit entsprach, und jetzt am Abend musste er einfach raus, obwohl er nicht wusste wohin und wieso: er sollte sich doch freuen. Er ging zu Hannes, der ihm wie immer leicht abwesend oder vielleicht auch abwesender als sonst die Tür öffnete, guckte ihm nur kurz in die Augen und sagte noch eine leise Begrüßung, aber Hannes achtete gar nicht darauf, sondern ging in die Wohnung zurück, holte Bier aus dem Kühlschrank und schlug dann vor, aufs Dach zu gehen. Es war noch kalt, sehr kalt noch, aber ihnen war das egal. Sie brauchten den stechenden Frost, der schnell an ihren Gliedern hinauffuhr, um irgendwas zu spüren, um einen Schmerz, eine Ablenkung zu haben. Sie saßen da auf dem Dach und blickten auf irgendwelche fernen Lichter und nahe Fenster, die Dunkelheit war schon wieder eingekehrt. Leon bot Hannes eine Zigarette an, und nachdem dieser sie zerstreut annahm und ohne sie anzuzünden, begann er bemüht heiter zu reden.
„Du, meine Mutter wird wieder heiraten. Sie hat mir heute oder gestern ne Email geschrieben, dass sie irgendeinen Typen schon seit längerem kennt und so weiter, blabla…. Sie hat mich eingeladen zur Hochzeit nach Stuttgart zu kommen, sie besteht sozusagen darauf, dass ich komme. Jedenfalls soll ich mir einen Anzug kaufen.“
Und Leon versuchte nicht mal auf diesen heiteren Ton einzugehen, sondern sagte gleich re-signiert und abwesend:
„Und Julia will nach Amerika im Herbst…. Ich find`s beschissen.“
„Soll sie doch heiraten! Aber eine Email – das geht nicht klar!“
„Vielleicht sind wir beide die einzigen Deppen, die mit der Gegenwart zufrieden sind und gar nicht wollen, dass sich was ändert.“
Sie redeten nicht viel in dieser Nacht, jedenfalls nichts zusammenhängendes, jeder sprach ein paar Mal leise einen Gedanken vor sich her, dem er gerade nachhing, ohne dass der andere darauf einging oder es wahrnahm. Dafür holten sie sich immer wieder noch zwei Bier aus dem Kühlschrank und tranken sie, spürten dann mehr und mehr die befreiende Betrunkenheit aufsteigen, die alle Gedanken leicht und verworren, einfach und letztlich nichtig machte, neig-ten sich dieser Betrunkenheit immer mehr entgegen, und waren dann froh über die langsame Ermattung der Körper und ihrer Gedanken, die mit dem Wind verschwanden.
„Ach, das Leben geht weiter!“
„Und wird immer besser!“
Und so prosteten sie sich noch mal zu. Später kamen sie in Hannes Wohnung zurück und Le-on wurde schlecht und blass, und er schlief dann auf dem Sessel ein.
Beim Aufwachen war alles wie ein Traum verflogen und Leon konnte sich auch nur noch skizzenhaft an den Tag zuvor erinnern, und akzeptierte dann, dass das Leben weitergehen müsste und Julia wegwollte, und er fühlte sich versöhnt mit ihr.

-Und ein halbes Jahr später bist du einfach gegangen. Einfach weggegangen.
-Einfach? Es tat mir sehr weh dort am Flughafen zu sein, und so eine Schwere zu spüren, die vielleicht durch ein Wort hätte gelöst werden können. Aber ich fand das Wort nicht. Ich wünschte, ich hätte lachen können, oder du hättest gelacht und gesagt, dass du mich liebst, und mich besuchen kommst. – Ich mach dir keinen Vorwurf deswegen. Wir sind vielleicht zu jung gewesen. Wir dachten, dass alles sich einrenken würde. Wir haben uns geliebt und konn-ten uns einfach nicht vorstellen, wie das weiterhin möglich sein sollte.
-Mein Gott, und wie ich dich geliebt habe! Und nur ein Wort hat uns gefehlt – ein Wort nur!
-Hör zu, es ist vorbei, auch wenn es immer noch wehtut. Und dafür können wir beide nichts.
-Vorbei – wie traurig das klingt… Ich bin nie drüber hinweggekommen.
-Und ich hab jeden Tag an dich gedacht, selbst, als du dich nicht mehr gemeldet hast…

Alles stürzt wieder auf mich ein, dreht sich, verschwindet wieder, verblasst bei dem Versuch, es zu begreifen, lässt kein Ende und keinen Anfang greifbar machen, bleibt ein zusammen-hangsloser Film. Ich wollte mir keine Gedanken machen, und habe jeden Gedanken an Trau-rigkeit, an Einsamkeit, letztlich sogar an Julia unterdrückt, ich wollte frei sein von allen schlechten und negativen Gedanken. Alles sollte so sein, wie es war; dabei war es das Gegen-teil: nichts. Aber an allen Ecken lauerten die Gedanken, an allen Plätzen, die uns gehört hat-ten, an allen Mauern, die wir entlang gelebt hatten, einfach an allen Zeiten und Orten, die tag-täglicher vorbei waren. Sie stürzten auf mich ein, aus allen Dingen fielen sie mich an, hängten sich an meine bekannten Wege durch die Stadt, die Warschauer entlang über die Brücke weh-te ihr Warten an der U-Bahnstation mir scharf ins Gesicht, ein nasser Fleck jetzt neben einem Fahrrad, das immer schon dort war, ein Wagen voller Menschen und voller Leere, auf einmal Enge an der Tür, zu dichtes Gedränge, zu lautes Geschnarre: Ich falle aus dem Zug. Und hier, am Schlesischen Tor, eine Nacht, die weint wegen liebloser Worte, gesprochen aus ängstli-cher Eifersucht, verziehen noch neben den parkenden Autos und dem bedeutungsvoll blin-kenden Ampeln. Und war nicht die plötzliche Ruhe zum Himmel schreiend verheißungsvoll! War nicht ein Zucken über ihrem Mund ein Zeichen, das tief in dein Herz hineinstieg? – Ach, hinfort ihr Gedanken, hinfort Trübsal ohne Grund! Einfach noch weiter laufen, noch suchen nach Ecken, die frei und unverbraucht, die noch einsam und offen sind, laufen, bis die Wärme aufsteigt und den Kopf umnebelt und schwer und leicht macht. Noch ein bisschen Laufen.

Leon lief viel, als der Oktober schon seine eisigen Schauer in die Dämmerung wehte, vor al-lem trieb es ihn immer über die Oberbaumbrücke hinweg, er schaute meist kurz in das Wasser hinab und fand es beruhigend, das Wasser an anderen Orten ebenso fließend zu wissen. Die Ruhe und stille Erhabenheit der Spree erinnerten ihn flüchtig an die Gottesdienste früher, und manchmal beruhigte es ihn, dort an die fernen Engel zu denken bei seinem Weg durch die Nacht. Er ging dann viel durch Kreuzberg, lief manchmal bis zum Treptower Park, und ge-noss das Laub zu durchstöbern unter den Schatten der Bäume.
Einmal traf er Sascha, das erste Mal seit er aus Namibia zurück war. Er hatte nicht gewusst, dass dieser jetzt auf der anderen Seite der Spree wohnte, und sie gingen in eine verschranzte Kneipe, und er hörte viel von diesem Süden, diesem Licht und diesen Leuten, die er sich nicht vorstellen konnte in ihrem alltäglichem Leben. Ja, Sehnsucht ergriff ihn beim Hören der Fer-ne, die aus jedem Wort fiel, sich in sein Ohr hängte und ein langsames Summen erzeugte. Sascha hatte aufgehört zu rauchen, weil es unmenschlich war, wenn man gesehen hat, wer diesen Tabak wie produziert, er hatte eine neue Freundin, eine Kurdin, die er erst vor wenigen Wochen in der Uni kennen gelernt hatte, er hatte eine neue Wohnung mit einem neuen Tep-pich und vielen neuen Ideen und Gedanken über das Leben und die weite Welt. Sein altes Leben, wie er es nannte, klebte nur noch als Foto an seiner Küchenwand, und das neue zog er mit jedem Atemzug in sich ein. Leon verstand ihn, doch wollte er nicht aus diesem Foto her-aus, konnte nichts mit diesem neuen Sascha anfangen.
Kann man sich ändern, ohne sich zu verraten, ohne aus sich selbst hinauszufallen und sich zu verlieren?
Sie verbrachten eine lange Nacht zusammen in kleineren Bars, später noch in Saschas Woh-nung, und erzählten sich viel, sprachen über die Partys von früher, überhaupt über das Ver-gangene, auch über Julia, immer im Ton der nie mehr wiederkehrenden Vergangenheit. Er war es, der ihn dazu brachte, einen endgültigen Schluss zu machen, sich nicht mehr zu mel-den, alles seinen natürlichen Lauf zu geben, zu sehen, was passieren wird.

Aber deine Erinnerungen fallen doch überall auseinander. So war es doch und ganz anders.
Also noch mal von vorn: Als Julia weg war, bist du depressiv geworden, weil auf einmal ein Loch da war, in das du gleich hineingefallen bist, weil sie die Stadt mit ihren Straßen und Parks, mit ihren Kaufhäusern und Dächern, mit ihrem leisen Gesumme und Gebrabbel mitge-nommen und deine kleine zarte Seele zurückgelassen hatte, die jetzt ihre Orientierung verlor und keinen Halt mehr fand an der Geste ihrer Fingerspitzen auf den deinigen. Und der De-pression folgte der Alkohol als ein Rettungsring, weil sich egoistisches Selbstmitleid so bes-ser fühlen ließ, weil der wirkliche Schmerz dann einem nur beinahe erinnertem Traume glich, so von Ferne, losgelöst von den Dingen, von der Welt, von dir selbst. Obwohl ja dann auch viel Zeit und Geld da war, und viele Partys am Beginn des Studiums und dann neue Leute, die man am besten bei einem Bier kennenlernte und mit denen man immer was machen konnte, und sei es auch nur, im Park zu sitzen, Skat zu spielen und noch ein Bier zu trinken – und das Leben war eigentlich auch toll, und die melancholischen Augenblicke wurden weniger, und alles ging gut bis zu diesem Anruf.

Eine lange Busfahrt: Zwischen den Scheibenwischern zeichnet sich nur die lange Straße ab, auf der noch oder schon wieder einige Autos unterwegs sind, und die nass und grau und müde und müder und immer müder den Weg ins vielleicht warme Bett vorgibt. Der Weg ist immer lang, nie wird er kürzer, und so oft man ihn fährt, hat man eher das Gefühl, er würde länger werden, weil vertrauter, weil bewusster. Gespräche gibt es in den frühen Morgenstunden die-ser Nächte wenige, manchmal Gelächter, das sich unwillkürlich noch an eine Szene, an einen Spruch, selten an einen Kuss erinnert, aber diese Momente nur für Sekunden zurückholen kann, bevor alles wieder in der Ermattung verstummt. Es ist besser so, es ist besser, auf der Heimfahrt aus der lustvollen, verlebten, versoffenen Nacht zu schweigen und sie noch zu ge-nießen und noch nicht an ein Morgen zu denken. Morgen? Wann und wozu an ein Morgen denken, dass sowieso kommen wird, dass unausweichlich bleibt, im Guten wie im Schlech-ten? Dieses Morgen, das weit nach Mittag beginnen, vielleicht einen Kater bereithalten, je-denfalls mit sicherem Unbehagen gefüllt sein wird – das Gefühl, irgendwo zwischen dem Gestern und der Erinnerung überfahren worden zu sein.
Wann nur war die Zeit, in der das Leben nichts gekostet hatte und noch umsonst und frei war? Wann nur?

Der Rest ist schnell erzählt:
Julia hatte eines Tages angerufen, und warum, wusste sie auch nicht, aber es war kein erfreu-liches Gespräch gewesen. Zu sehr hatte der Stachel des Sichnichtmeldens in beiden sein Un-heil verrichtet. Beide waren anfangs freudig erregt gewesen, ob dieser unerwarteten Stimme, die da trotz langer Abwesenheit so vertraut ins Ohr gesprochen kam, schüchtern wurde der andere ertastet, erfühlt, erhört. Doch es schwang auch Angst und lang genährte Ahnung von Affären, wildem Leben und so weiter mit, so dass die Bedacht und die Sorgfalt, die sie sich widmeten, um einander Vertrauen zu zeigen und es erfreulich zu machen, unhörbar zerbrösel-te und falsch verstanden wurde, und jede kleine Atempause, in der geschwiegen wurde, weil jedes Wort gut durchdacht sein wollte, spannte sich zu einer unüberbrückbaren Länge, die einem Schuldgeständnis gleichkam.
Ach, wie lächerlich! Und doch: Was kann man machen? Keiner wollte es, jeder war noch voller Liebe für den anderen, aber das Misstrauen war über den Atlantik gewachsen, so still und leise, dass sie es nicht gemerkt hatten.
Leon war dann derjenige gewesen, der Julia fragte, ob sie einen neuen Freund hätte, ganz un-schuldig, aber neugierig, und nach weiteren vorsichtigen Minuten sprach sie das Faktische aus, das für sie aber doch keine Bedeutung gehabt hatte. Eine Nacht aus Sehnsucht und Ein-samkeit war es nur gewesen, und sie schämte sich ja auch dafür. Aber sein Auftrumpfen war doch auch grobes Unrecht, und wieso hatte er sich überhaupt so lange nicht gemeldet?
Angeschrieen haben sie sich nicht, aber es hat auch einfach keiner der beiden geschafft, ein rettendes Wort zu finden, die Hand zur Versöhnung auszustrecken, und so hörte man leises Schluchzen und tiefes Durchatmen und das dröhnende Schweigen dazwischen, und irgend-wann legte Leon auf. Er konnte es dann selbst nicht glauben, aber ein Rückruf erschien ihm schon unmöglich. Die Verbindung war beendet.
Er saß ganz taub und ohnmächtig auf der noch so vertrauten Couch, sprang dann plötzlich auf, blickte auf die Liege, und war sich einfach nicht sicher, was er denken sollte. Julia – ein ande-rer Typ: Es ergab keinen Sinn, nichts ergab einen Sinn mehr; oder gerade bekam alles einen Sinn, jetzt bekam die ganze Trennung eine dramatische Couleur. Trennung? Es war doch offi-ziell gar keine! Er hätte gerne noch mal zurückgerufen, oder die Zeit um eine Stunde zurück-gedreht, oder einfach früher ein Wort gesagt, zum Beispiel: Ich liebe dich! Bleib doch hier! Ja, viel hätte er anders machen können, es fiel ihm nun wie Schuppen von den Augen, und er träumte sich noch mal eine andere Zeit, in der er mit Julia noch immer glücklich wäre, aber dann überkam ihn doch wieder dieses Abschweifen zu ihrem letzten Blick, dem er nicht standhalten konnte, und ihm zuckte nur ein Wort durch den Kopf: Schicksal. Aber auch das tat sehr weh. Immerhin konnte er sich jetzt eine Zigarette drehen und sie am weit aufgerisse-nen Fenster rauchen. Und dann bekam alles eine unbestechliche Klarheit.
Nicht viel später saß er in einer Kneipe und betrank sich, mehr war ihm für den Augenblick nicht eingefallen, außerdem war es schon zu sehr Gewohnheit. Nach vier Bier erklärte er ei-nem geduldigem französischem Traveller sein Dilemma, nach zwei weiteren akzeptierte er das Schicksal launig, dann bestellte er sich noch Wodka, weil er anstoßen wollte auf sein Le-ben und die herrliche Nacht. Die Betrunkenheit erlöste ihn von allem Denken, Nachdenken und Weiterdenken. Als ihm schlecht wurde, verließ er die Kneipe und torkelte unschlüssig und mit abwesenden Augen durch einige Nebenstraßen, in denen er bessere Tage zu finden glaubte. Der Nieselregen beklopfte ihn und ein kleines jämmerliches Selbstmitleid vertiefte sich in seinem Gemüt. In Gedanken schrie er Gott an und beklagte sich, dass dieser einfach gegangen sei und die glückliche Zeit der Sonntage mit ihm. Auf einer glitschigen Bordstein-kante rutschte er aus und schlug mit dem Kopf auf das Kopfsteinpflaster. Die letzten Gedan-ken aber waren alle bei Julia gewesen. Fast ausnahmslos.

-Und Julia?
-Julia? Die hatte zur selben Zeit schon einen Rückflug gebucht für den schnellstmöglichen Termin. Es hat ihr alles sehr Leid getan.
-Eine traurige Geschichte. Warum erzählst du sie?
-Ich weiß nicht. Sie hat nichts weiter zu sagen. Ich glaube nur, dass man ein Leben hat, das man nicht verschwenden darf. Man kann viele Tode sterben, aber man hat nur ein Leben. Und er hat dieses Leben gehabt…
-Und hat es weggeworfen zum Schluß.
-Ich weiß nicht. Es war vielleicht einfach zuviel. Das wichtigste ist die Liebe: er hat sie ge-habt und sie hat ihn zerstört.
-Die Liebe? – ja das hört sich wieder dramatisch an. Aber es war ja wohl auch der Alkohol.
-Und auch der Alkohol.

 

Hallo Tobassa!

Warum nur erinnert mich diese Geschichte im Zusammenhang mit Kg .de an das Theaterstück „Andorra“ von Max Frisch?

Die Kg wird vom Protagonisten als distanziertem, beobachtenden Erzähler erzählt. Sie erzählt, wie ein Pärchen mit einem etwa einjährigen Auslandsaufenthalt, also einer räumlichen Trennung, umgeht. Eine sehr moderne Geschichte, da sich heute viele Pärchen in ähnlicher Konfliktsituation befinden.

Der Anfang spielt in einer etwas wenig definierten Zeit, dem martialischen Benehmen der Uniformierten zufolge könnte es die Nachkriegszeit in der DDR sein oder die Zeit bis zu Stalins Tod 1955. Auch der Grund für Vaters Festnahme bleibt etwas im Trüben, vermutlich etwas Politisches, Missbrauch von Abhängigen war ja damals noch kein Thema. Jedenfalls wird damit angedeutet, dass dies im Zusammenhang mit dem anzunehmenden Wechsel in die BRD ein Grund für das stete Thema Einsamkeit bei dem hübschen, kommunikativen, intelligenten, sportlichen Jungen war.
Danach änder sich das Bild. Zwar hört er mit Kiffen auf, scheint aber in einem lustiges alkoholisiertes Jugendleben zu versumpfen und träumt von der großen Welt, ohne dass gezeigt wird, dass er etwas dafür tut. Später schwelgt er im Selbstmitleid.
Sein Mädchen ist da anders, ist zielstrebiger, weiß mehr, was es will.
Dass sie sich beide lieben, glaubt der Leser unbenommen. Statt dass sie sich ihrer Liebe versichern und das Umgehen mit ihrer Abwesenheit oder sein Mitgehen planen und gemeinsame Pläne für die Zukunft schmieden, verharren sie in beiderseitiger Enttäuschung.

Er lässt sich von seinen Freunden, Schergen fast im doppelten Wortsinn, von ihr abbringen, bricht den Kontakt ab und ergibt sich offenbar dem Suff. Sie muss glauben, dass er sie nicht liebt, nachdem er sich nicht mehr meldet, nicht einmal eine e-mail ist sie ihm wert, geschweige denn dass er mal aufraffte, an ihrer Tür in NY zu klingeln.

-Ich weiß nicht. Es war vielleicht einfach zuviel. Das wichtigste ist die Liebe: er hat sie ge-habt und sie hat ihn zerstört.
Trugen nicht die falschen Freunde ein ordentliches Stück mit dazu bei?
Nun ist er tot und der Romanautor hat seine Ruhe und seinen Roman.

Die Sprache gefällt mir als dem Thema angemessen: sehr rhythmisch, mit vielen Bildern und Metaphern.
Haben die vielen Bindestriche innerhalb der Wörter einen bestimmten Sinn? So wie sich verbrochen fühlen, oder ist eben die Zeile zu Ende.
Einige unbedeutende Faselfehler gibt es.
Dies fürs erste.

Gruß von Gingiko

 

Danke erstmal für die Antwort!

Die Striche sind wahrscheinlich die Zeilenenden, die beim Kopieren mitgenommen worden sind.

Interpretationen möchte ich hier nicht bieten: Das Geschriebene hat immer einen Anfang und ein Ende, aber so ist die Wirklichkeit ja nicht und auch die Fiktion gaukelt das nur vor.
Daher muß für mich eine Geschichte auch nicht unbedingt stringent und logisch sein, sondern eine Stimmung, ein Gefühl ausdrücken (in diesem Fall jedenfalls).

 

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