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- 01.05.2009
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Sword, Concrete & Sorcery. Mit einem Hauch Post-Apo und Splatter.
Die Lichter von Merihaka
Vier Orte der Magie existieren nahe unserer Heimstatt: Die geborstene Eiche am Waldrand, der südliche Meeresausläufer, der Menhir jenseits der Wolfsgrotte und Merihaka, der verlassene Betonkomplex mit seinen Rampen, Verbindungsbrücken und Hochdecks, die unsere Pferde nur ungern betreten. Dort pfeift der Wind durch Häuserschluchten, tropft Wasser aus geborstenen Trägern und wandern Schatten über Wände, ohne einen Körper, der sie geworfen haben könnte. Manchmal besitzen diese Schatten eine ölige Dichte, bewegen sich wie angetrieben von eigenem Willen. Und dann überlassen wir ihnen das Terrain.
Die Hufe meines Rapphengstes klackern auf Stein und Zement, ab und zu dämpft Moos seine Schritte. Er verharrt vor der zentral gelegenen Hochterrasse, lauscht. In seinem Nacken zuckt ein Muskel. Der Wind trägt den Geruch von Ozon und Kalkstein herüber, treibt graue Wolken zum Horizont. Ein Falke kreist über den Dächern, zieht enger werdende Spiralen. Ich spähe durch zerkratzte Glaswände in die Eingangshallen der verlassenen Wohntürme, kann aber im Dämmerlicht der Korridore und Aufzugschächte keine Bewegung ausmachen.
Als der Hengst plötzlich das Gewicht auf die Hinterhand verlagert und tänzelt, muss ich mich neu im Sattel zurechtsetzen. „Hey, Sorel, alles gut. Wir gehen, komm.“ Ich lenke ihn im Kreis, zurück zur Rampe ans Meer hinunter.
Am Ufer fällt er in leichten Trab, drängt dem Stall entgegen. Vor uns am Pier liegen kleine Jachten vertäut, ihr Kunststoff ausgeblichen und mit Grünspan überzogen. Viele sind gesunken, nur Bug oder Mast ragen noch aus dem Wasser. Träge schwappt die See gegen das Land, lässt die Jachten schaukeln, bringt ihre Leinen und Blöcke zum Klappern. Näher an Stålgaard, der bewohnten Siedlung, liegen vier unserer Drachenboote – von den gut gepflegten Planken weht der Duft nach Holz, Teer und Harz herüber. Sorel erreicht die alte Asphaltstraße, die steil bergan führt. Auf der Hälfte des Weges wende ich mich um: Über Merihaka breitet sich langsam das Indigo der Dämmerung, während schwindendes Tageslicht von den Fensterscheiben widerspigelt. Unsicher, ob sich meine Augen nicht täuschen, meine ich, einige blaue Lichter in den beiden höchsten Gebäuden zu erkennen. Ohne zu flackern erscheinen sie heller als nur Reflektionen – und ihre Farbe hätte keine Entsprechung am Himmel, besitzt etwas Künstliches, Kaltes. Ein reines, kräftiges Türkisblau. Ich reibe mir übers Gesicht, schließe kurz die Augen, doch die Lichter verschwinden nicht. Eher sieht es nun aus, als befänden sie sich in den Gebäuden, erhellten von innen einzelne Zimmer, Balkone. Ich treibe Sorel an und wende dem Spuk den Rücken zu – vielleicht weiß eine der anderen Wächterinnen, ob dieses Phänomen schon früher einmal auftrat.
Am höchsten Punkt Stålgaards – einer Kreuzung, an der sich Wohnhäuser, Ruinen und ein kleiner Park gegenüberliegen –, steht eine Menschenmenge versammelt. Aufgeregte Stimmen erklingen, Hundegebell, Hufschlag neu hinzukommender Pferde mit ihren Reiterinnen. In der Menge mache ich Suvis weißblonde Zöpfe mit ihren grellrot gefärbten Spitzen aus, das bestickte Rohleder ihrer Felljacke. Ihr Wallach Osenius hat uns bereits gewittert, richtet die Ohren zu uns auf. Suvi schaut sich um, ich winke, sitze ab und bahne uns einen Weg zu ihnen.
„Was ist los?“ Ich gebe ihr zur Begrüßung einen Kuß.
„Fremde“, sagt sie, und tätschelt Sorel die Stirn. „Ein Mann mit sieben Frauen. Zwei davon hochschwanger. Mehr konnte ich nicht sehen, aber die Nordwache hat sie an der Wolfsschlucht aufgegriffen. Naja, angetroffen. Der Mann war dabei, Stücke vom Menhir mit einer Handaxt abzuschlagen ...“
„Was? Und ...“
„Er wurde befragt, behauptete, die Stücke wären als Souvenier gedacht ...“
Ich muss laut lachen. „Als was?“
„.. und ihm unklar gewesen, dass der Kraftort aktiv sei, noch zu einer existierenden Gemeinschaft gehört. Sie seien auf ihrer langen Reise vielen dieser Art begegnet und jene eben alle aufgegeben gewesen.“
„Welche anderen? Im Nordosten?“
„Das hat sich die Wache wohl auch gefragt, jedenfalls haben sie die Gruppe erstmal hergebracht. Stellte sich heraus, dass der Mann unsere Stadt als Etappenziel eingeplant hatte. Jedenfalls ... Komm, die anderen gehen schon rein!“
Ein Mädchen nimmt unsere Pferde entgegen, wir treten geduckt durch die niedrige Tür in die Versammlungshalle. Drinnen wird das Dunkel von einem offenen Kaminfeuer und Kerzen erleuchtet. Wir treten bis zur ersten Bankreihe vor, grüßen Moreena – unsere Fürstin, Königin – und betrachten die kleine Gruppe Fremder, die vor ihrem erhöhten Sitz steht. Einen Schritt vor den sieben Frauen hat sich ein hagerer Mann aufgebaut, dessen Sehnen und Muskeln in Strängen unter der Haut hervortreten. Er hat graudurchschossenes Haar, schmale Lippen und ein kantiges Kinn. Seine Haltung hat etwas Arrogantes, Widerständiges. Die Frauen dagegen halten die Schultern eingezogen, die Köpfe gesenkt. Sie tragen identische Tuniken in einer Sandfarbe, fast rosig wie Haut, was sie seltsam nackt wirken lässt. Allerdings verhüllt der Stoff alles vom Kinn bis zu den Knöcheln. Ihre Haare – weich und graubraun wie Mausfell – sind zu Knoten zurückgekämmt. Die jüngste mag unter zwanzig, die ältereste fast vierzig sein, doch sind sie im Grunde nur an den unterschiedlichen Mustern zu unterscheiden, die der Schlamm auf ihre Röcksäume gezeichnet hat.
„Was für ein Kult ist das denn?“, frotzelt Suvi leise.
„Kein bekannter jedenfalls ...“ Ich muss grinsen, obwohl der Anblick nicht zum Lachen einladen dürfte. Suvi schaut nach vorn, knabbert an einer ihrer Zopfspitzen herum.
Moreena hat gerade ihre Begrüßungsansprache beendet und bittet den Mann, sich vorzustellen.
„Vater“, antwortet er. „Manche nennen mich auch Vater Rollánd“.
„Vater?“, fragt Moreena. „Ist das ... ein Titel?“
„Ah, nein.“ Er lacht ohne Humor darin. „W A T A. Vater bin ich auch. Aber das ist nicht mein Name.“
Moreena nickt freundlich. „Gut. Und nochmals willkommen bei uns. Stell uns bitte deine Begleiterinnen vor, Wata.“
„Sie haben keine Namen“, antwortet er knapp. „Sie sind die Fruchtbarkeit der Natur, der ewige Kreislauf des Lebens. Ihr benötigt keine Namen, weil ihr sie nur über mich ansprechen werdet.“
Moreenas Miene verhärtet sich.
„Klingt eher nach Leibeigenschaft“, flüstere ich in Suvis Ohr. Sie nickt.
Nach kurzem Zögern sagt Moreena: „Nun gut. Aber wisst: Sklaverei wäre entgegen unserer Gesetze. Das Gastrecht gewährt euch zwei Tage Schutz, Unterkunft und Versorgung. Am Morgen des dritten Tages werdet ihr uns verlassen.“
„Die beiden Schwangeren sind ...“
„Ja. Aber sie waren bereits schwanger auf der Wanderung. Vielleicht hast du sie währenddessen geschwängert.“ Moreenas Tonfall hat alle Verbindlichkeit verloren, klingt ungewohnt scharf. „Unsere Entscheidung steht: Diese Nacht. Zwei Tage. Wir geben euch Proviant, Heilpflanzen, ein kräftiges Pferd, damit die beiden nicht laufen müssen. Mehr haben wir euch nicht anzubieten.“
Wata presst die Lippen aufeinader. Verbeugt sich.
Moreena bedeutet der Türwache, die kleine Gruppe hinauszubegleiten. Als die Frauen mit gesenktem Blick vorüberhuschen, flüstert die jüngste uns ohne aufzublicken etwas zu: „Fjieri – mein Name.“
Wata verharrt kurz, als hätte er ihre Worte erspürt. Dann stellt er sich neben der Tür auf und verlässt die Halle erst, nachdem seine Begleiterinnen geduckt unter dem Türbalken hinausgetreten sind.
Moreena atmet laut aus. „Eine ungute Situation“, sagt sie. „Wir bringen vielleicht die Frauen in Gefahr, wenn wir sie fortschicken. Aber ich dulde keine Leibeigenschaft. Und keinen Gast, der Frauen wie Zuchtvieh hält.“
„Vielleicht möchten die Frauen ohne ihn hierbleiben“, erwidert Kahiira, die oberste Heilerin und Hebamme. „Vielleicht sehen sie in den beiden Tagen, dass ein anderes Gemeinschaftsleben möglich ist.“
Ich antworte an Moreenas statt: „Und wir ... tun was? Erschlagen ihn? Er macht nicht den Eindruck, als ob er sich freiwillig von seinem Gut trennen wollte. Zumal die Kinder mit Sicherheit seine sind.“
Moreena beendet den Austausch mit einer Handbewegung. „Niemand wird hier getötet. Ihm mag einiges missfallen, aber er hätte eine ganze Stadt gegen sich.“ Sie deutet auf unsere Schwerter. „Viele Bewaffnete. So dumm kann er nicht sein, Gewalt anzuwenden.“
„Gegen uns nicht“, sagt Suvi. „Gegen seine Begleiterinnen hat es das offenschichtlich bereits.“
Moreena nickt. „Aber wir können als einzelne Siedlung nicht alle Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen. Wenn eine der Frauen allein ist oder die Gruppe ohne ihn, bieten wir ihnen die Freiheit. Aber es muss freiwillig geschehen, sonst hätte er das Recht auf Rache. Niemand weiß woher er kommt, ob es dort ganze Armeen gäbe, denen wir nichts entgegenzusetzen hätten.“
„Armeen? Es gibt die Steppenvölker im Osten und die Rentierhirten weit oben im Norden“, sagt Suvi. „Er gehört zu keinem der beiden. Vielleicht sind sie seit einem Jahr unterwegs. Seit Jahren. Eine Armee von dort nur wegen einer Handvoll Sklavinnen ...“
„Ja“, sagt Moreena. „Das mag so sein. Aber wir haben kein gesichertes Wissen. Wir wissen nicht einmal, wie sie zu uns fanden, warum sie den Weg durch die Urwälder nahmen. Direkt im Westen und im Süden liegt nur noch die offene See – will er nicht ins Reich des Frostes, hat sich Wata hier gegen eine Wand manövriert. Dafür nimmt keiner eine solche Reise auf sich.“
„Wir gehen die Nacht durch Wache“, sage ich mit einem Nicken zu Suvi. „Morgen und übermorgen kann man sie beschäftigen. Vielleicht ist alles unschuldiger als es aussieht.“
Moreena nickt. „Danke. Lieber Unwägbarkeiten bedenken, anstatt Gefahren gegenüber blind zu sein. So haben wir es immer gehalten, und dies trug zum anhaltenden Frieden in unserer Gemeinschaft bei. Meldet mir, wenn ihr Ungewöhnliches beobachtet. Egal, was.“
Ich öffne den Mund, um ihr von den blauen Lichtern zu berichten, doch erscheinen sie mir angesichts der Lage plötzlich absurd und nichtig.
Das Haus der Gäste liegt nahe der Kreuzung – ein altes, gemauertes Steinhaus mit Holzöfen, dessen Dachziegel schon häufig ausgebessert wurden und das guten Komfort bietet. Suvi und ich umrunden es, schauen, aus welcher Etage Kerzenschein dringt, holen unsere Pferde aus dem Stall und durchstreifen den Park, das nördliche Ruinenfeld, die Wohngebiete. Ein kalter Vollmond breitet alles wie auf einer Bühne vor uns aus, und wir gesellen uns nach einigen ereignislosen Stunden zu den Posten am Gasthaus. Die älteste, Jen-Rehn, verteilt Krüge mit verdünntem, heißen Apfelwein. Der würzige Duft erinnert mich an unsere Feste im Spätherbst, die wir zum ersten Schnee ausrichten, solange ich denken kann.
Jen-Rehn stösst ihren Becher gegen meinen. „Pass auf“, beginnt sie. „Dieser Mann ...“
„Vater“, sagt Suvi.
„Wata. Fragte, ob sie wirklich hier schlafen müssten, und nicht unten im – wie er es nannte – Grausilbernen Neusiedel. Fast begann er Streit. Im Hausflur. Die eine Schwangere fing an zu weinen, weil sie nicht mehr stehen konnte, und das brachte ihn wohl zur Einsicht.“
„Grausilbernes Neusiedel“, wiederhole ich. „Die Beschreibung ist recht akkurat, vor allem, wenn er das so genau vom Wald aus gesehen haben will. Eigentlich ist der direkte Blick verbaut. Die ganzen älteren Wohnhäuser aus Stein ...“
„Richtig. Aber er sagte, sie seien im Bogen zu den Wolfsgrotten gelangt. Hätten alles zuerst vom gegenüberliegenden Ufer über den Meeresausläufer gesehen. Dieser Betonkomplex sei genau so in einer Prophezeiung ...“
„Was für ein Unsinn!“, unterbreche ich sie. „Merihaka ist nirgends erwähnt. Karten mit magischen Orten wurden nie angefertigt, das ist tabu. Zudem weiß keiner, wie man gerade ihn nutzen könnte – es ist ein wilder Kraftplatz, der uns so rätselha...“
„Sicher ist es eine Ausrede“, sagt Jen-Rehn. „Nichtdestotrotz wusste er davon. Und er möchte dorthin. Mit Nachdruck. Wir haben das bereits im Blick.“
Ich nehme einen großen Schluck Gewürzwein. Verschlucke mich fast, als mir der Ausritt wieder einfällt. „Ich habe heute Lichter dort gesehen. Wollte schon vorher davon erzählen, aber die Fremden ... Als ich mit Sorel am frühen Abend unten war, erschien alles ruhig: Keine Schatten, kein Rauch, keine Geräusche, die nicht sein sollten. Sorel wurde unruhig, und auf dem Rückweg drehte ich mich noch mal um. Höhe Krähenweg. Und – es klingt sicher seltsam, aber so war es – in den großen Doppeltürmen brannten vereinzelte Lichter. Blau. Türkisblau, kalt, sehr hell. Als hätten einige Wohnungen ... Mieter. Die Lichter bewegten sich nicht. Sie waren einfach so ... an.“
Beide ziehen die Augenbrauen hoch. Suvi sagt: „Elektrisches Licht soll oft kalt gewirkt haben. Und beständig, nicht flackernd. Aber die Häuser haben keinen Strom.“
„Keiner hat mehr Strom“, korrigiere ich. „Und dort erst recht nicht, weil niemand etwas reparierte, seit die Schatten auftauchten. Das ist ewig her.“
„Aus der Zeit der Legenden und Prophezeiungen“, nuschelt Suvi in ihren Weinkrug. Meinen verärgerten Blick fängt sie nicht auf, trinkt in Ruhe.
„Keinen Streit!“, sagt Jen-Rehn. „Aber der Beton repariert sich dort vielerorts selbst, und sonst nirgends. Besonders an den beiden Wohntürmen. Und das ebenfalls erst mit dem Auftreten der Schatten. Vielleicht liegen auch Kabel in ihren ... Möglichkeiten.“
Ich trinke mit einem Zug aus, reiche den Becher zurück. „Und Generatoren. Kraftwerke.“ Ich hake mich bei Suvi unter. „Lass uns schlafen gehen, es wird bald hell. Morgen sehen wir weiter.“
Lange finde ich keinen Schlaf. Liege an Suvis Rücken geschmiegt in der Dunkelheit, lausche ihrem Atem, dem Wind draußen, der ums Haus pfeift. Ich trete die Bettdecke von meinen Beinen und ziehe sie kurz darauf wieder hoch, weil mir kalt wird. Wir leben im obersten Stockwerk eines Wohnblocks, der nördlich an Merihaka angrenzt. Würde ich mich aufsetzen, könnte ich die Hochhäuser, Terrassendecks und Grünanlagen sehen, und dahinter das Meer, das jenseitige Ufer der Bucht. Aber ich presse mein Gesicht noch näher an Suvis Nacken, ducke mich hinter sie, um nicht blaue Lichter in der Finsternis aufblitzen zu sehen.
Als ich aufwache, scheint die Sonne auf Suvis leere Matratzenseite, im Zimmer ist es sommerwarm. Aus der Küche klappert Geschirr, der Duft von Zichorienkaffee treibt mich aus dem Bett.
Kaum, dass sie mir einen Begrüßungskuss gegeben hat, schiebt mich Suvi wieder zur Tür. „Auf dem Balkon brutzeln Rühreier. Guck mal, ob die schon fertig sind.“
Draußen wickle ich mir ein Tuch um die Hand, schnappe die Pfanne und hänge einen Emaillekessel übers Feuer, um später Heißwasser für einen zweiten Aufguß zu haben. Kurz schaue ich hinüber nach Merihaka, aber dort ist nichts Ungewöhnliches zu sehen – ein Krähenschwarm sammelt sich auf den Südblocks, der Wind fegt durch wildgesähte Birken auf der ehemaligen Sporthalle und wirbelt gelb-orange Blätter übers Dach. Von der einzigen Aluminium-Fassade reflektiert weiter nördlich grell das Sonnenlicht, wird von gesplittertem wie intaktem Fensterglas der umliegenden Häuser zurückgeworfen. Bäume, Büsche und Gebäude werfen nur ihre eigenen Schatten, keinen ölig-schwarzen oder rostroten Dunst.
„Wilka, was ist mit den Eiern?“, schreit Suvi aus dem Küchenfenster. Ich beeile mich, ins Warme zu kommen.
Am Tisch reicht sie mir einen Brotkanten mit Butter. „Weißt du“, sagt sie, „es mag ja keine Prophezeiungen oder magische Schatzkarten geben. Aber Gerüchte, mündliche Kunde, könnte sich schon verbreitet haben. Von den vier Kraftorten, aber auch davon, dass hier fast nur Frauen leben. Wata hat möglicherweise gar nicht so sehr Merihaka zum Ziel, als ...“
„... er hier Brutmaterial fände?“´, schließe ich an. „Statt einer Handvoll Anhängerinnen einen Kult in Stadtgröße aufzubauen? Pro Jahr Dutzende Nachkommen zeugen? Und dann?“
Sie zuckt die Schultern. „Wir sollten hoffen, dass keine der beiden bis übermorgen in die Wehen kommt. Ein frisch Geborenes wegzuschicken könnte heikler werden.“
„Ja, darauf gebiert die zweite ihr Kind und bis man die Gruppe guten Gewissens auf die Weiterreise schicken könnte, hat er die nächste geschwängert. Und so geht es turnusmäßig weiter, Jahr um Jahr.“
„Wir wissen nicht genau, ob er es darauf anlegt“, wirft Suvi ein.
„Wir wissen aber auch sonst keinen Grund, warum er die weite – zudem nicht ungefährliche – Reise bis hierher unternommen hat. Und die Kraftplätze sind ja offenbar auch von Interesse.“
„Am Ende denken wir falsch“, wirft sie ein. „Vielleicht möchte er die Magie der Orte nicht nutzen, sondern zerstören. Dann wurde er am Menhir nur zu früh entdeckt. Wollte keine Stücke aus dem Stein brechen, sondern ihn ganz zerschlagen.“
„Und die Sklavinnen?“
„Haben damit vielleicht gar nichts zu tun. Wir sollten schauen, dass wir diese Fjieri aus der Gruppe gelöst bekommen. Sie hat ja einen Schritt auf uns zugetan.“
Ich nicke. „Er hat übrigens nicht gesagt, ob er nur der Vater der Ungeborenen ist ...“
„... oder auch der erwachsenen Frauen?“
„Ähnlich genug sähen sie sich.“
„Das mag an der Aufmachung liegen. Die eine ist fast vierzig, er ist was? Fünfzig? Sechzig?“
Ich zucke die Schultern. „Schwer zu sagen. Im ersten Moment dachte ich, er müsse uralt sein. Als er zu sprechen begann, erschien er mir eher wie Mitte dreißig. Jemand, der nur ein hartes Leben kannte.“
„Ja, stimmt. Also: Ich setze auf Fjieri. Sie wird ja wissen, wer sie zeugte.“
Wir haben gerade die Holzscheite vom Balkon in den Kachelofen verfrachtet, als von der Siedlung her die Versammlungsglocke ertönt.
An der Kreuzung sind noch mehr Menschen versammelt als gestern, und sie rufen noch aufgeregter durcheinander. Wir bahnen uns einen Weg zur Festhalle, passieren die Wache. Moreena sitzt nicht auf ihrem Thron, sondern mit den Heilerinnen, Hebammen und ihrer Wache unten am Tisch. Ich entdecke Jen-Rehn im Halbdunkel, die erschöpft wirkt, ihre Kleidung staubig.
Kahiira erhebt sich. „Eine der Fremden hatte am frühen Morgen eine vorzeitige Geburt“, berichtet sie. „Aber das ... Kind ... überlebte nicht.“ Sie blickt in die Runde. „Zwei Dinge: Es war stark missgebildet. Runzelige Haut, tiefe Schrunden. Kaum Flüssiggkeit im Körper.“
„Ähnlich einer Moorbestatteten“, fügt Moreena hinzu.
Kahiira nickt. „Wir untersuchten also die Mutter, die sich nicht wehrte, auch nicht sprach. Und fanden Spuren, die uns überzeugen, dass die Geburt nicht natürlich war. Sondern eingeleitet wurde. Nun hatte man uns – obwohl im Nachbargebäude – nicht zu ihr gerufen. Wir wurden nur durch einen Lichtblitz aufmerksam. Anhaltendes Gleißen, so stark, dass die Häuserfronten gegenüber tagehell erleuchtet waren. Das Licht war rot wie Blut.“
„Es soll die Wände des Gasthauses durchbrochen haben“, fügt eine junge Heilerin hinzu. „Obwohl ...“
„Warum habt ihr uns nicht geweckt?“, frage ich und setze ohne auf Antwort zu warten an: „Und das Kind? Ist es der Ursprung des ...“
„Es liegt bei der Mutter, aber sobald sie zu klaren Gedanken fähig ist, werden wir seinen Körper zum Kraftplatz an den Waldrand bringen. Die Eiche wird ihn reinigen.“
„An der Eiche bestatten?“, frage ich entsetzt. „Was, wenn es den Kraftort zerstört? Ist es tot?“
„Ja, ganz sicher“, erwidert Kahiira. „Nur: Ist es ein Kind? Zudem sind wir unsicher, ob das Licht eine Gefahr darstellt. Oder von wo genau es ausging. Ein mächtiges, beeindruckendendes Lichtspiel, aber es blieb augenscheinlich ohne Wirkung.“
„Niemand wurde davon verletzt“, sagt Jen-Rehn, die zu uns getreten ist. „Aber das Gastrecht erlischt, sobald von einem Durchreisenden Gefahr ausgeht. Die Gruppe muss gehen.“
„Was sagen die Frauen?“, frage ich. „Waren die nicht alle dabei? Wir wollten mit der jüngsten sprechen. Gestern flüsterte sie uns ihren Namen zu. Fjieri. Wenn sie allein bei uns bleiben ...“
Von draußen ertönt eine aufgebrachte Männerstimme. Wata.
Ich gehe mit Jen-Rehn zur Tür, die Hand am Schwertknauf. Öffne den Riegel. Die beiden Wachen treten zurück und Wata baut sich mit erhobenem Kinn und durchgedrücktem Rücken auf. „Meine zweite Werdende“, sagt er überlaut, „benötigt sofortige Hilfe. Die Wehen setzen ein.“
Ich starre ihn an. Wäre es besser, ihn zu isolieren, festzusetzen? Oder die Gruppe als Einheit zu überwachen?
Bevor ich zu einer Entscheidung gelange, steht Moreena hinter mir und gibt Anweisungen: „Die Heilerinnen gehen mit dir zur Schwangeren. Wilka und Suvi begleiten euch. Jen-Rehn organisiert die Wachen. Umstellt das Haus des Gastes.“
Wir laufen hinter der kleinen Gruppe das enge Treppenhaus hinauf. Im Quartier der Frauen liegt die Schwangere auf einem Berg aus Kissen und Decken. Wata kniet mehr über als neben ihr. Fünf der Frauen bilden einen engen Halbkreis um die beiden. Fjieri ist abwesend.
Kahiira beugt sich über die Liegende, streich ihr schweissverklebte Strähnen aus dem Gesicht. „Kannst du mich hören? Wir werden dir helfen. Eine Tinktur wird deine Schmerzen lind...“
„Keine Zaubertrünke!“, herrscht Wata sie an. „Schau, dass das Kind am Leben bleibt!“
Die fünf Frauen beginnen zu summen, wiegen sich im Rhythmus, der kaskadenartig ansteigt und abfällt. Der Klang erfüllt den Raum beinahe wie eine physische Präsenz, presst sich ans Trommelfell, den Magen. Ich lege eine Hand an den Schwertgriff, eine an den Dolch, ohne die Waffen zu ziehen. Suvi tut es mir nach.
Die Frau auf den Kissen wird unruhig, wirft sich gegen Watas Griff hin und her, öffnet den Mund weit, ohne einen Ton von sich zu geben. Ihre Augen verdrehen sich, der Rücken wölbt sich ins Hohlkreuz. Kahiira beginnt eine behutsame Untersuchung der Fremden, schiebt die Laken beseite. Der Gesang der anderen wird lauter, fällt um einige Oktaven, und es kostest mich Beherrschung, nicht die Hände über die Ohren zu pressen, mich nicht zusammmenzukrümmen. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine blasse Gestalt, schüttle den Kopf und stolpere einige Schritte zurück. Fjieri steht am Krankenlager, zu Füßen der Gebärenden. Sie ist nackt, steht aufrecht, trägt in den ausgestreckten Händen eine große Glaskugel wie einen kristallinen Blutstropfen vor sich her. Von der Kugel geht ein pochendes Glosen aus und ein Dröhnen, das wie ein Echo des Gesanges gegen die Wände brandet. Fjieris Miene ist starr, die Augen blicklos. Ihr Körper totenblass, übersäht von Narben und Blutergüssen. Ein Schrei durchdringt das dumpfe Dröhnen – die Gebärende schlägt um sich, tritt hilflos in Fjieris Richtung. Kahiira ruft etwas, das ich nicht verstehe, und ich stürze zu ihr. Zwischen den Beinen der Gebährenden schiebt sich etwas ins Freie – etwas Verdrehtes, dunkel Zerfurchtes, Krallen wie schartige Klingen, nass von Blut. Ich ziehe mein Schwert, hole über die Schulter aus. Kahiira und Wata stolpern zurück, aber Fjieri lässt sich in die Schlaglinie fallen, wirft die Kugel aufs Lager und presst die Hände darüber. Ich lasse die Waffe über ihren Kopf hinwegsausen, beschreibe einen zweiten Bogen und dresche ihr die flache Klinge gegen die Schläfe. Fjieri fällt zur Seite, und ich sehe noch, wie Suvi sie wegzerrt. Dann stäubt dichter Blutnebel in den Raum, hängt über dem zuckenden Körper und dem Ding, das sich aus ihrem Fleisch schält. Ich packe den Schwertgriff mit beiden Händen, wende die Spitze nach unten und lasse mich in den Stoß fallen. Der Stahl durchdringt Fleisch, Knochen, verkeilt sich, öffnet sich einen Weg durch Mutterkörper und Kreatur. Undeutlich höre ich Schreie, Rufen. Hände zerren an meinen Schultern. In der Kugel schrumpft das Glosen zu einem Punkt im Zentrum, und dann durchflutet eine stumme Explosion von Licht den Raum. Die Strahlen brennen in kaltem Feuer, ein hoher Ton frisst sich ins Dröhnen, die Menschenlaute, das Kreischen des Neugeborenen. Vor meinen Augen wirbeln Räder aus Feuer, ich falle in etwas Warmes, Nasses, bekomme meine Klinge zu fassen und reiße sie aus dem, was sie eben gespalten hat. Suvis Stimme an meinem Ohr, ein Auf und Ab von Tönen ohne Bedeutung.
Es klirrt, ihr Schwert muss die Glaskugel getroffen hat. Das Blutlicht erlischt, das Dröhnen wie der Gesang reißen ab. In der plötzlichen Stille nur unser Keuchen, überlaut. Die Zimmerdecke liegt im Dunklen, winzige Glühpunkte funkeln dort wie Sterne einer fremden Konstellation. Feiner Blutdunst geht nieder, bedeckt alles mit einem feuchten Film.
Suvi hilft mir auf. Die Heilerinnen sind bis zur Tür gekrochen und ich höre die Wache schon draußen auf den Treppen. Von der Gebärenden sind nur die Gliedmaßen unversehrt geblieben, aber ihre Anordnung ist falsch. Unmöglich zu sehen, ob dort noch ein zweiter, kleinerer Körper liegt. Wata liegt ausgestreckt über der halbbewusstlosen Fjieri und starrt auf das Glas, dessen Licht allmählich erlischt. Nein, nein, nein ... lese ich von seinen Lippen. Er packt Fjieri, zieht ein Messer, hält es an ihren Hals. „Ihr nehmt mir keine weitere ... Die Sphäre muss geöffnet bleiben! Leg die Hand auf das Glas! Du!“ Er fuchtelt mit dem Messer in Suvis Richtung.
Sie nähert sich der Kugel, die mir größer als zuvor erscheint, als hätte sie – blutgesättigt – ihren Umfang verdoppelt. Ich bewege mich langsam im Zwielicht zur Wand, ziehe lautlos den Dolch. Ohne zu mir zu schauen, tippt Suvi das Glas mit der Schwertspitze an, als wolle sie es von Wata wegrollen lassen. Er knurrt etwas, und ich ducke mich hinter ihn, schiebe die kurze Klinge in seine Armbeuge und reiße sie hoch. Der Stahl geht weich durch seinen Arm, durchtrennt Sehen und Muskeln. Er brüllt, wirft sich herum, weg von Fjieri, doch meine Schwertspitze ist längst gegen seinen Hals gerichtet. Sein Schwung und mein Stich treiben die Waffe durch seine Kehle in eine Schulter. Wata umklammert gurgelnd die Klinge, durchschneidet seine Finger bis zu den Knochen. Der Stahl lässt sich leicht zurückziehen, dann hole ich in einem Bogen vor dem Körper aus und Metall trifft Knochen. Sein Gesicht öffnet sich rot, weiß und nass. Seine Augen verdrehen sich im geborstenen Schädel und sein Körper sinkt zu Boden.
Meine Beine zittern, der glitschige Schwertgriff droht mir aus der Hand zu rutschen.
Suvi greift nach meinen Arm. „Bist du ...? Alles noch heil?“
Ich nicke, der Raum ist plötzlich übervoll mit Menschen – die Wachen, die Heilerinnen, Schaulustige von der Straße. Die fünf Sklavinnen haben sich zusammengekauert, die Arme umeinandergeschlungen und wimmern.
„Wo ist Fjieri?“, fragt Suvi.
Ich erwarte, sie im Chaos zu entdecken, doch sie muss an den Wächterinnen vorbei nach unten geflüchtet sein. Und diese werden ihr eher einen Mantel gegeben als aufgehalten haben. „Wir müssen sie finden“, sage ich. „Sie brachte die Kugel herein, und das kann heißen ...“ Eigentlich bin ich nicht sicher, was es bedeuten könnte. Ist sie Opfer? Eingeweihte?
Jen-Rehn tritt zu uns. „Ihr sucht das Mädchen? Sie kam nicht die Haupttreppe herunter, aber ich frage die anderen. Wir durchsuchen das Haus – ist sie verletzt?“
„Nein“, sage ich erschöpft. „Aber nackt.“
„Wilka! Suvi!“ Kahiira erhebt sich von dem Lager, die Arme bis zum Ellbogen blutverschmiert. „Hier liegt nur die tote Mutter. Ihr hattet das ...?“
Ich nicke. „Aber Fjieri kann nicht damit entkommen sein, selbst wenn ich glauben könnte, dass sie eine aktive Rolle hat in diesem ... was auch immer es ist.“
„Wir könnten ebenso gut eine Katze suchen“, erwidert Suvi. „Die Stadt ist zu groß. Wenn es sich nicht zeigen will – weil es töten will, es von der Kugel angezogen wird, oder sonst etwas – werden wir es nicht finden.“
„Wasser“, sage ich. „Ich brauche erstmal was zu trinken. In meinem Kopf dreht sich alles. Wasser, trinken, Waffen reinigen. Dann sehen wir weiter.“
Auf der Treppe nach unten sagt Jen-Rehn: „Wir verriegeln das Haus der Gäste und setzen es in Brand. Würde ein Neugeborenes nicht beim Körper der Mutter bleiben? Es ist bestimmt noch dort.“
„Es hat ganz vor allem seine Mutter getötet“, entgegnet Suvi. „Da gibt es keine Bindung.“
„Aber die anderen Frauen?“, fragt Jen-Rehn. Hält uns die Tür zur Straße auf. „Sie sind unschuldig. Wir können sie kaum mitverbrennen.“
„Doch!“ Ich packe sie am Arm. „Sie sind nicht unschuldig! Dieser ganze ...“
„So etwas werden wir sicher nicht tun!“ Moreena hat uns am Eingang erwartet.
„Du hast nicht gesehen, was dort oben ...“
„Ich hörte, was passiert ist,“, sagt sie ruhig. „Wir töten keine Frauen, die nimandem etwas angetan haben. Sie dürfen sich weiterhin in Stålgaard frei bewegen und ...“
Auf den Aspahlt vor uns fällt ein schwacher rötlicher Schein. Die Häuser, Straßen, liegen nicht mehr im Dunkel der Nacht. Der Lichtschein pulsiert aus den Fenstern des Gasthauses. Ein tiefes Summen erklingt, fast unhörbar unter all dem Stimmengewirr.
„Zu spät!“ Ich lasse mich an der Wand zu Boden gleiten. Es gibt keinen Plan, kann keinen geben. Wir verstehen die Zusammenhänge nicht – Wata und seine Frauen, die Kugel, das Kind. Wir wissen nicht, welche Magie eingesetzt wird, oder genau von wem. Mit welchem Ziel. Welche Rolle unsere Stadt darin spielt oder spielen sollte. Was geschieht, wenn ungeplante Dinge geschehen und die Hauptakteure sterben ...
Suvi umfasst meine Arme, zieht mich hoch. „Wir probieren etwas.“ Sie schaut Moreena an. „Vergessen wir die Frauen. Die Kreatur lebt, die Kugel ist aktiv. Wir wickeln sie in eine Decke, tragen sie runter nach Merihaka, der Kraft...“
„Bist du verrückt?“, murmele ich.
„...ort kann vielleicht etwas ausrichten. Ja, die Eiche, der Menhir, der Ort am Meer wären vielleicht bessere Optionen. Aber Merihaka liegt am nächsten. Die Magie dort schließt Risse im Beton. Vielleicht kann sie heilen, was in der Kugel lebt.“
Moreena atmet laut aus.
„Nicht alle Risse“, sage ich.
„Ja! Nein, nicht alle!“, erwidert Suvi ungehalten.
„So wird es gemacht“, sagt Moreena. „Wir haben zu viele Unbekannte in der Gleichung. Spekulieren wird kein Ergebnis bescheren. Ruft alle unter Waffen zusammen. Ich lasse die Pferde bringen. Jen-Rehn trägt die Kugel. Und“, sagt sie an diese gewandt, „fass sie nicht mit bloßen Händen an.“
Etwa zwanzig Waffenträgerinnen haben sich versammelt, einige von ihnen mit Kompositbögen und Pfeilen, zwei mit Lanzen. Ein Teil stellt sich aus jenen, die bereits Nachtwache vor dem Haus der Gäste gingen. Wir trinken einige Schalen Wasser, reinigen die Schwertklingen mit Öl und die Griffe mit Lauge. Über die verdreckte Kleidung ziehen wir Kettenhemden und Lederwamse. Ich schwinge mich auf Sorels Rücken, Suvi besteigt ihren Apfelschimmel Osenius. Zwei Bogenschützen helfen Jen-Rehn in den Sattel ihres schweren Braunen. Alle starren auf die Decke in ihren Armen.
Wir reiten langsam. Die Kreuzung und angrenzende Häuser sind menschenleer. Vor uns wirft das Mondlicht eine silberhelle Brücke auf den Asphalt, wie ich es bislang nur vom Meer kannte. Hufe klappern auf der abschüssigen Straße, ihr Echo hallt von den ersten Hochhäusern wider. Ohne, dass wir uns absprechen müssten, nehmen wir die Nordrampe zum zentralen Hochdeck und zügeln die Pferde vor den beiden höchsten Wohntürmen.
„Wo ablegen?“, flüstert Jen-Rehn. „Im Haus? Im Freien?“
„Hier draußen“, antworte ich genauso leise. „Bessere Sicht. Offene Fluchtwege.“ Mir wird stärker denn je bewusst, wie schlecht wir vorbereitet sind. Aber auch ich wüsste nicht, welche die richtige gewesen wäre.
Jen-Rehn legt die Kugel auf der Mitte des Freiplatzes ab, zieht vorsichtig die Decke herunter. Im fahlen Mondlicht pulst das Glas Granatrot, sendet kaum hörbar Töne aus, die mich an Herzschlag erinnern. Ich lenke Sorel näher zu Suvi. „Die Kugel ist größer, oder?“, frage ich. „Um einiges.“
Suvi nickt. Zuckt zusammen, als Osenius heftig den Kopf schüttelt. Zaumzeug klirrt. Von irgendwo ertönt ein Scharren. Das Pferd geht rückwärts. Im Dunkeln nahe der Kugel eine Bewegung – ein massiger Körper streckt sich, schiebt sich unter einem Überhang hervor. Glas klirrt, die Ladenfront hinter ihm zersplittert als er sich herauswälzt.
Sorel steigt, ich werfe mich nach vorn, klammere mich in seine Mähne. „Hey!“ Als seine Vorderhufe wieder den Boden erreichen, ist der Platz in blutrotes Licht getaucht. Ich dränge Sorel nach vorn, zwischen den scheuenden, auskeilenden Tiere hindurch, ein Pfeil saust neben meinem Kopf vorbei, Schwerter blitzen auf. Ich ducke mich, umklammere den Pferdehals, und mit einem Sprung erreichen wir einen überdachten Säulengang jenseits der wirbelnden Leiber. Mein Herz rast, ich ringe nach Luft. Auf dem Freiplatz hat sich die Kreatur zur Glaskugel gewälzt, bereits einen Speer und zahllose Pfeile im ledrigen Rücken, ihre Krallen gegen die Angreiferinnen ausgestreckt. Das Maul aber beisst nicht nach ihnen, sondern umschließt das Glas. Rotes Licht pulsiert so stark, dass ich meine, die Kugel dehne sich aus, würde nicht von dem Ungeheuer verschlungen, sondern verschlänge es selbst. Ich ziehe den Dolch, treibe Sorel an. Wir preschen am Kopf der Kreatur vorüber und ich schleudere die Klinge durch den Spalt zwischen Glas und Fleisch in den Rachen. Der Körper zuckt, richtet sich auf, schwankt. Die Kugel fällt nicht aus seinem Maul. Sie explodiert. Der Glutball rast auf die Gebäude zu, überrollt uns, brandet gegen die Fassaden. Das Feuer ist heiß und kalt zugleich, es brennt, ohne Wunden zu hinterlassen. Es erfüllt die Luft mit einem Dröhnen, steigert sich zu einem unhörbar schrillen Laut, beginnt erneut, in Wellen.
Sorel bricht aus und wir jagen durch sengenden Funkenregen auf unsere Gruppe zu. Vor den südlichsten Wohnblöcken bringen wir die schnaubenden Pferde unter Kontrolle, sie tänzeln auf dem engen Raum, beißen nach den anderen. Ich kommen zu Suvi durch, schnappe mir Osenius‘ Zügel, um die beiden nicht wieder zu verlieren. Der Lichtschein am Freiplatz ist nun dunkler, tiefer Rot, aber breitet sich weiterhin aus, flammt über Fassaden, Bodenplatten und Bäume. Hier in den Häuserschluchten des Südblockes sind wir geschützt, haben aber keinen freien Blick mehr auf das Geschehen beim zentralen Hochdeck.
„Sind wir vollzählig?“, rufe ich Suvi zu.
Sie nickt.
„Und jetzt? Unsere Waffen ...“
Jen-Rehns Stimme schallt über den Lärm: „Zum Meer! Wir locken es zum Meer. Geht nah heran, bleibt wachsam!“
Alle nicken – hier zwischen den Wohnblöcken sind wir eingekeilt. Zu schnell ist ein Fluchtweg versperrt. Wenn die Magie des Ortes schweigt, bleibt uns nur noch die Natur. Wir reiten in loser Formation. Obwohl die Sonne noch unter dem Horizont steht, legt sich bereits das blaue Licht der Morgendämmerung über die Fassaden. Erst meine ich, die Sinne täuschten mich – in das tiefe Summen mischen sich Stimmen. Gesang. Leise intonierend, dem An- und Abschwellen des Dröhnens und Kreischens folgend, das weiterhin von der Glaskugel ausgeht. Ich schaue zu Suvi hinüber, sie nickt – erkennt ebenfalls die Gesänge aus dem Geburtsraum. Die Pferde rasen im Galopp auf die Wegbiegung zum Freiplatz zu, wir ziehen Schwerter, Dolche, was von unserer Bewaffnung verblieben ist. Ich schließe zu Jen-Rehn auf, zügle Sorel vor der engen Kurve. Eine Explosion über uns, Betonsplitter, Geröll prasselt herab. Die Gebäudekante ist geborsten – Paneele ragen ins Freie, Stahlträger. Sand rieselt, in den Staub mischt sich feuchter Dunst, taucht die Welt in dunkles Granat. Im Zwielicht helle, schlanke Körper: Auf dem Freiplatz stehen die sechs Frauen, im Halbkreis, nackt. Halten sich an den Händen, die Köpfe zurückgeworfen. Sie singen, intonieren unbekannte Worte, Reime. Die Klänge immer schriller, höher. Eine Aluminiumfassade neben ihnen vibriert, verformt sich. Risse laufen durchs Silber. Fensterglas splittert.
Ich reiße Sorel herum, lenke ihn zurück auf den Weg. Unnatürliche Dunkelheit senkt sich über den Ort, verdrängt die Morgendämmerung. Hinter den Frauen breitet sich ein glosender, dunkelroter Dunst aus, taucht die Betonsiedlung in blutiges, aschedurchflirrtes Licht. Eine riesenhafte Form erhebt sich daraus, ein Dutzend Stockwerke hoch. Ein Maul öffnet sich. Zahllose dürre, lange Arme strecken sich, Krallen wie Krummschwerter. Bebend, schwankend tritt das Wesen aus dem feuerlosen Rauch hervor, verschwindet wieder im glosenden Kern. Eine Klaue schießt hervor, krallt sich ins Eckhaus, zieht den Körper nach. Unsere Schwerter erscheinen wie Nadeln dagegen.
Sorel keilt aus, weicht zurück, mit Mühe halte ich mich oben. „Der Plan!“, schreie ich. „Vor ihm zum Meer!“
Die Gesichter der Reiterinnen sind bleich unter Staub und Ruß, doch sie treiben ihre Pferde an. Die zahnbewehrte Schnauze presst sich zwischen den Häusern hindurch, senkt sich gegen uns. Im Schädel öffnen sich unzählige Augen, einige granatrot glimmend, andere totenfahl, wie blind. Ich lasse mein Schwert in weitem Bogen ums Handgelenk kreisen, wechsele die Griffrichtung und schleudere es gegen das Ungeheuer. Der Stahl trifft ein rotes Auge. Es erlischt. Das Wesen schüttelt sich, die Klinge wird gegen Beton geschleudert und zerbricht. Pfeile fliegen, ein weiteres Auge erlischt. Abgesehen davon zeigen unsere Waffen keinerlei Wirkung – das Wesen bleibt stumm – und schließlich haben wir nichts mehr, das wir ihm entgegenschleudern könnten.
“Nach vorn rechts, zum Ufer!”, schreie ich. Mir ist unklar, wie wir unter den Krallen und Zähnen durch zur Rampe gelangen sollen, aber ich treibe Sorel an. Er tänzelt seitwärts, bricht aus und stürmt dann nach vorn. Die Betonplatten unter seinen Hufen rasen unter uns dahin, verschwimmen vor meinen Augen zu einem grau-roten Wirbel. Ich schüttle den Kopf, doch der Eindruck verstärkt sich nur. Der Gesang der Frauen presst meinen Schädel zusammen, lässt mich schwindeln.
“Wilka!”, schreit Suvi hinter mir.
Aus dem Eingang des Wohnturmes quilt ölig-schwarzer Rauch. Verdichtet sich, rollt zwischen den Gebäuden hindurch, umhüllt uns wie eine Neumondnacht. Schattenfinger strecken sich zum Ungeheuer aus, umschlingen seine Klauen, seinen Hals und Kopf, tasten sich in das aufgerissene Maul. Daraus ertönt ein schriller Schrei wie das Greinen eines Neugeborenen. Es schlägt seinen Kopf in die Betonfassaden, krallt ins Leere, doch die Schatten geben ihn nicht frei, sondern umwabern ihn wie ein Mahlstrom. Wie öliger, rostdurchsetzter Kohlestaub legen sie sich über die Kreatur, dämpfen die granatrote Glut und ich meine, sogar den Gesang der Frauen. Die Kiefer überweit aufgerissen, taumelt der Gigant rückwärts, gebeugt, geduckt, als suche es den Schutz des Überhanges, unter dem es vorgekrochen war. Betonsplitter, Gesteinsbrocken prasseln herunter, Glasscherben. Die sechs blassen Leiber im Zentrum des Freiplatzes sind nur noch schemenhaft zu erkennen, sie halten ihre Position – in Extase? Im Vertrauen? Das Ungeheuer setzt einen stolpernden Schritt zur Seite, bricht mit einem erstickten Gurgeln auf dem Freiplatz zusammen, seine Augen erlöschen. Der Frauengesang hallt noch für einen Augeblick als Echo von den Häuserwänden und erstirbt. Sicher habe ich mir nasses Knirschen von Körpern, Knochen auf dem Betondeck nur eingebildet, aber ich presse Sorel die Fersen in die Flanken, reisse ihn herum und wir preschen in einem Chaos aus Pferdeleibern, Betonstaub und wogender Finsternis an dem Kadaver vorbei zum Meer. Schlittern über die Rampe, setzen über Schutt und Betonbruch, erreichen das Ufer. Der Granatschein ist erloschen. Die öligen Schatten rollen träge zwischen den Gebäuden, verlieren an Substanz und fließen als schwarzer Dunst zu ihrem Ursprung zurück. Aus den beiden Wohntürmen über uns scheinen blaue Geisterlichter wie Leuchtsignale im Indigo der Morgendämmerung. Ein Riss im Beton flimmert, schließt sich, zurück bleibt nicht einmal der Eindruck einer Narbe, und bald mag nur noch ein Kadaver vom Kampf zeugen.
Unsere Pferde dampfen in der frostigen Luft, ihr Fell – wie unsere Haut, Kleidung – nass von Schweiss und etwas, das wie Rückstände getrockneten Blutes aussieht. Suvi schließt zu mir auf, schweigend reiten wir zurück zur Siedlung. Hatte man sich dort verbarrikadiert? Oder alles aus der Entfernung beobachtet? Ich hoffe letzteres, dann bliebe uns ein Bericht erspart, dessen Einzelheiten mir bereits absurd erscheinen. Unwirklich. Sorel hebt den Kopf und wiehert. Als ich schaue, wohin er die Ohren gespitzt hat, sehe ich eine schlanke Gestalt am Pier. Sie schaut hinaus aufs Meer. Steht aufrecht, ihre nackte Haut ist aufgeschürft und rußbedeckt.
“Fjieri!”, rufe ich.
Sie rührt sich nicht, als ihr Jen-Rehn ein Sattelfell um die Schultern legt. Dann dreht sich sich um, schaut uns an – ruhig, direkt, ohne Scheu. Im Gesicht Blutergüsse, ein Auge ist rot von geplatzten Adern. Das andere erblindet. Im fahlen Weiß schimmert anstelle der Pupille ein strahlend blautürkiser Punkt. “Ja,”, sagt sie. “Ich möchte gerne bei euch bleiben. Wenn ich darf.”
