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Die Liebe im Ätherrausch - oder das schlimmste Gefühl, welches existiert
Irgendwo in den Tiefen einer eingeschüchterten Seele, weit unter dem Geist und in einer anderen Welt als der des Körpers lag ein kleiner blauer See, der von hohen Buchen in grün und braun umgeben wurde. Beschützend nahm der Himmel diesen Ort unter seine Decke, wo eine behütete Stille herrschte, die die Vögel von ihrem Thron aus verhöhnten und der die ungesehenen Tiere im Unterholz durch Rascheln und Laute eine geheimnisvolle Note verliehen. Zwischen Grün und Braun und Abstufungen dazwischen schwamm in der Mitte dieser Welt ihr unbewegter Beweger. Ein junges Mädchen lag auf dem Rücken auf der Wasseroberfläche, die Arme weit von sich gestreckt, der Körper bleich. Ihre Haare waren schwarz und torkelten in und auf dem Wasser, wie die Liebe im Ätherrausch; ihre Lippen waren rot und kontrastierten zu ihren blauen Augen, die starr in den Himmel blickten. Sie badete nackt und wurde vom Wasser getragen, das sie weiter und weiter in eine Richtung brachte, die ohne ihre Vorstellungskraft nicht existierte.
Vor ein paar Minuten noch war sie bedächtig im Bewusstsein der Schwere ihrer Schritte den Waldweg herabgekommen und hier und da hatte sie eine Unke gewarnt, dass der Weg, den sie nun alleine beschritt, ihr nicht mehr derselbe sei wie an dem Tag da sie ihn fand, hier, wo sich ihre Erinnerungen in reales Empfinden verkehrten wie nirgendwo sonst. Damals hatte sie die Sprache der Natur entdeckt, durch die Suche nach dem Mannigfaltigen, dem Unendlichen und sie hatte sich ihrer Deutung verschrieben, einem Urtrieb, der so alt ist wie der Mensch. Eine Sehnsucht nach einer verborgenen, heiligen Welt, einer Urmutter hinter all diesem Leben, einem Schöpfer hinter all diesen Schöpfungen, den Anfängen allen Lebens, diese Sehnsucht war der Beginn der Kunst und des Menschseins und sie ist es heute wie damals. Das junge Mädchen war geflohen, auch vor dem Menschen der Neuzeit, der sich nicht mehr all zu schnell zu einer solchen Naturverehrung bekennt und den kindlichen Urtrieb sich seiner Vorstellungskraft auf der Suche nach dem Schöpfer zu ermächtigen durch Spott und Hohn entzieht. Auch sie wusste von den Mythen um Gottheiten und auch sie wusste sie aufgeklärt zu beurteilen, doch dieser kleine See, der Zufluchtsort vor der ganzen habsüchtigen menschlichen Notdurft, ließ sie vergessen, zu denken oder zu planen, zu erwerben oder auszubeuten, zu strukturieren oder zu zerstören und brachte ihr für einen Augenblick der sanften Umarmung einer harmonischen Komposition verschiedenster Musen und bestaunenswerter Orte näher, die ihr Leben unter den Menschen angenehmer erscheinen ließen. Was sie hier erlebte, begann mit dem Prelude der Vögel in den Bäumen, die mit ihrem Gesang der Umgebung eine geheimnisvoll beruhigende Atmosphäre verliehen, es schritt fort mit der Sonate der Bäume und des Unterholzes, die im zahlenmäßig unterschiedlichem Vorhandensein einander ernährten und es endete mit der Fuge des Teiches, der Heimat sein muss für Leben und Schönheit und dabei so gelassen in der Welt existiert, als hätte er viel Schmerz und Freude erfahren und sei bereit zu sterben.
Sie hatte ihre Kleider ausgezogen und behutsam über einen Baumstamm gelegt, bevor sie sich langsam in den See gleiten ließ, um die Wasserläufer nicht zu sehr zu erschrecken, die nun die Flucht ergriffen und dabei kleine Kreise bildeten, die auseinanderdrifteten, um im Strom der Zeit durch eine Woge wieder geglättet zu werden. Das Wasser balsamierte ihre junge Haut und ein kurzer Windstoß ließ die Bäume ihre Blätter abwerfen, die wild wirbelnd in der Luft sich auf die Teichoberfläche setzten, kleine Käfer immer noch beheimatend, die jetzt mit Schreckensgesichtern auf den großen Ozean blickten wie Noah auf der Arche und sich fragten, was ihre Spezies verbrochen hatte. Dann spreizten sie ihre winzigen Chitinpanzer, entfalteten ihre Flügel und zogen zurück gen Land mit einem höhnischen Grinsen, das dem Menschsein gewidmet war.
Wenn sie nun in diesem Moment denken würde, dann hätte sie an ihn gedacht. Ihre Entrüstung über seine Entscheidung wäre lange verflogen und ihre Verachtung ihrer Mutter gegenüber hätte sich in Sehnsucht nach seiner zärtlichen Berührung und seinem vertrauten Gesicht verkehrt. Die Vögel drohten ihm von den Bäumen, ihm der im Moment in ihren Gedanken existieren würde und sie schmeichelten ihr damit, ihr die einsam auf der Wasseroberfläche schwamm. Sie würde an die Zeit zurück denken, wo sie nachts wach im Bett gelegen haben, das Fenster geöffnet, die Stille genießend, die Ruhe ehrend, die Rettung vor der Menschheit und ihrem Wahnsinn. Dann hatte er sie in den Arm genommen und sie auf die Stirn geküsst, "mein Stern, du führst mich in dunkler Nacht, am Tage schlafe ich und bin versteckt und wenn der Mond leuchtet, komme ich dir immer näher". Nicht nur ihre Gedanken, sondern auch ihre Sehnsüchte und Gefühle hätten sich jetzt zu ihm gesellt und ihn gestreichelt, damit er wissen würde, wer er sei und was er ihr bedeutete. Eine zärtliche Umarmung hätte sie in den Wind geflüstert, die, egal wo er jetzt auch sein würde, ihn gefunden und liebkost hätte.
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Sie hatten sich in der Toskana kennen und lieben gelernt. Unter dem dunklen italienischen Stadthimmel in Florenz hatten sie zum Schein orange-gelblicher Straßenlaternen die vielen und wundervollen Sterne betrachtet und sich gegenseitig Zeugnisse der Liebe in die Ohren geflüstert. Sie hatten stundenlange Gespräche geführt und waren dabei so weit in die Seele des anderen vorgedrungen, wie es möglich war. Selbst Unterhaltungen über banale Themen hatte er mit seiner Stimme, mit seiner liebevollen Art und seinem Blick eine persönlichere Note verliehen, als sie jemals zuvor, geschweige denn jemals danach, erlebt hatte. Am tiefsten hatten sich jedoch die Momente eingebrannt, in denen sie schweigend nebeneinander saßen, in dem Wissen sich gefunden zu haben und in der Sicherheit nichts mehr sagen, denken oder tun zu müssen um geliebt zu werden. Dies waren die glücklichsten Momente ihres Lebens.
Sie waren zusammen in seinem roten Sportcoupe weiter nach Frankreich gefahren, um dann zusammen Lyon, Bordeaux, Paris und zum Schluss Rennes zu besuchen und sie hatten sich in einer Liebe gefunden, die aus einer Suche entstanden war, die genau aufeinander fixiert gewesen sein musste, denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatten sie ihre Sehnsüchte nicht mehr gefühlt. Für sie war es wie der Tod, ein Ableben, das jeglichen Schmerz und Kummer nimmt, alles Leid, was sich so bedrohlich stark in selbst geflechteten Körben gesammelt hatte und darauf wartete überzulaufen, auszubrechen und zu zerstören, was einst ein fühlendes, denkendes Wesen war.
Seit dem Verschwinden ihres Vaters hatte sie solche ewig währenden Momente nicht mehr erlebt und ihr Handeln, ihr Tun und auch ihr Fortschreiten auf dem Weg wieder in die Umschmeichelung der Glückseeligkeit zu kommen, irgendwann hoffnungslos aufgegeben.
Ihre Mutter hatte sich nach dem Verschwinden des Vaters gut um sie gekümmert. Doch als die Zeit begonnen hatte in der immer neue potentielle Stiefväter vor der Tür gestanden hatten, die am Tage des Wiedersehens nach ihrem ersten Erscheinen angefangen hatten sie mit Vorwürfen über ihre schlechten Noten in der Schule zu überhäufen, wusste sie, dass sogar ihre Mutter nur einen winzigen Spalt in ihrem Herzen für ihre Tochter frei gehabt hatte. Einen winzigen Spalt, der ringsherum von Wänden aus Eigennützigkeit diktiert wurde und der enger und enger wurde, um sie schlussendlich zu verstoßen, wenn sie reif genug gewesen wäre aus der mütterlichen Perspektive. Als sie dies begriffen hatte, wollte sie verstoßen werden. Denn von nun an war es nicht mehr ein Ringen um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter für sie, sondern eine Erleichterung die Beziehung zu ihrer Mutter aufzugeben, um neue Wege zu beschreiten und neue Schönheiten zu entdecken. Aus diesem Grund und auch nur aus diesem hatte sie ihren Freund mitgebracht, ihre erste Liebe, ihre erste Erkenntnis welche Harmonie das befristete Menschsein erleben konnte. Sie hatte es sich als ein einmaliges Erlebnis gedacht, so endlich wie ihr erstes körperliches Zusammenkommen mit ihm aber nicht unendlich wie die Erinnerung an seine Wärme und Geborgenheit, die sie in diesem Moment empfunden hatte.
Nach diesem Abend war sie zusammen mit ihm auf ihr Zimmer gegangen. Sie hatte ihm alles gezeigt und sie hatten lange geredet. Die Zeit war schnell vorangeschritten und alsbald hatte sie sich nach seiner zärtlichen Berührung gesehnt, nach seiner Geste, die ihr immer verraten hatte, was er für sie empfand. Doch diese war, auch als der Mond schon wieder versinken wollte, immer noch ausgeblieben und da hatte sie ihn gefragt, warum er ihre Mutter mit denselben Augen angeschaut hatte am Abend, mit denen er nur immer sie anschaue. Er hatte gezögert und sie sah, dass er sie belügen würde, doch sie hatte sich seinem Antlitz hingegeben, seinem Dasein, seiner wundervollen Stimme und streichelnden Wortwahl, sie hatte gedacht, er wolle ihre Mutter nicht beleidigen, weil ihm wohl etwas nicht gepasst hatte, von dem was sie gesagt und getan hatte. Er war mit ihr geflüchtet, in diesem Moment. Er hatte sie an den Ort gebracht, den blau schimmernden Teich und den moosig-grünen Waldboden, wo die Vögel sie grüßten und die Schönheit sie umschmeichelte. Sie war mit ihm zusammen versunken.
Die gemeinsame Flucht mit ihm hatte sie immer an diesen Ort gebracht, ihren Gedankenort, wo sie niemanden brauchten, nicht existierten, Schatten waren, die durch keine Lampen geworfen wurden, ohne Wurzeln; die gemeinsame Flucht hatte sie schwerer getroffen im Nachinein, als je etwas zuvor. Ein Jahr, das glücklichste Jahr ihres Lebens war verstrichen und sie fühlte sich, als hätte sie die meiste Zeit verschlafen. Als hätte sie Dinge übersehen, die sonst nicht passiert wären. Nie hatte sie einen Mann mehr geliebt als ihn seit Vater gestorben war. Heute Morgen war sie aufgestanden und hatte den Zettel gefunden und das Geld. Ihre Mutter war verschwunden, sie hatte ihre Welt nicht mehr ertragen und für sie Geld dagelassen, sowie den Brief. Der Küchentisch, dieser grausame Postbote, brachte ihr eine zunächst befriedigende Nachricht, bis sie verstand, dass sie ihn mit sich genommen hatte. Er schrieb selber ein paar Zeilen und sie wurden zu seinen letzten Worten in ihrer Liebe, die irgendwann in dieser Nacht auf ihre Mutter übergesprungen sein musste.
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Eine bedeutsame Fliege zog eine Runde über ihren nackten Körper und sah sie aus über tausend verschiedenen Sichtweisen, einer Gabe, die die Menschheit verrückt werden ließe. Sie flog durch die Lüfte, über den in Purpur fluoreszierenden Teich in der Abenddämmerung und fixierte das junge Mädchen, das rücklings auf dem Wasser lag und dessen blaue Augen in den Himmel leuchteten. Langsam näherte sie sich summend ihrem Gesicht und setzte sich auf ihre blauen Augen, stieß ihren Rüssel in die Pupille und trank das eiweißhaltige Sekret. Das Mädchen nahm davon keine Notiz mehr.
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Kriminalinspekteur Meybohm betrat die kleine Reihenhauswohnung in einer der verwahrlosesten Wohngegenden Frankfurts. Der Gestank in dieser Wohnung, der die Nachbarn schlussendlich dazu gebracht hat die Polizei zu rufen, drang sogar unter seinem Atemschutz durch und penetrierte seine Geruchsorgane. Er ging unter der Absperrung hindurch in das Zimmer eines achtzehnjährigen Mädchens. Jemand von der Spurensicherung verpackte gerade ein kleines Döschen mit drei quadratischen Streifen Löschblattpapier. Er sagte dem Inspekteur, gedämpft durch seine Maske, dass sie davon ausgehen könnten, dass das Mädchen LSD genommen habe. Meybohm nickte und der Spurensucher verließ den Raum, da fiel sein Blick auf das kleine Bett, wo die verwesende Leiche des jungen Mädchens lag. Die vier Messerstiche an ihrem Körper waren noch deutlich zu erkennen, sie lag nackt auf dem Bett und Meybohm konnte nicht verstehen, warum keiner eine Decke über sie gelegt hatte. Seine Augen widerspiegelten blankes Entsetzen. Er ging zu dem Schreibtisch und drehte mit seinen Handschuhen einen kleinen Zettel um, der in der Mitte des Tisches lag. Als er ihn gelesen hatte, erreichte seine natürliche Abneigung, die er durch seinen Beruf dem Menschsein gegenüber schon hatte, ihren absoluten Höhepunkt. Er hatte viel Leid und Schmerz gesehen und war dabei ruhig geblieben, wie ein stilles Gewässer im Auenland, doch den Schrecken, von dem er wusste, den manche Menschen verbreiten konnten, erreichte in diesem Moment eine Phase, die sich bis an das Ende seiner Tage aufrecht erhalten sollte. Er blickte zurück zu dem Mädchen und eine Träne rollte ihm über das Gesicht. Als der Mann von der Spurensuche wieder eintrat und das blutige Messer auf dem Boden in die Hand nehmen wollte, hielt er inne und fragte den Inspekteur, ob es ihm gut gehe. Dieser sagte: wenn sie die Waffe untersuchen, werden sie feststellen, dass es Selbstmord war. Meine Arbeit hier ist getan. Der Inspekteur verließ den Raum und an dem Abend als er zurück in seiner Wohnung war, hatte er viel zum Nachdenken. Oft kamen ihm die Tränen, als er an sie dachte, es fiel ihm schwer seine Wehmut zu unterdrücken. Er weinte um das, was ihr geschehen war und um das, was noch geschehen wird.
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Sie wusste vorher, dass auch der Tod ihr nicht das zurückgeben kann, was sie verloren hatte. Aber das Glück ihr Paradies gefunden zu haben, in einer Welt, die für sie nur noch kalt und grausam war, würde sie kein zweites Mal haben, geschweige denn die Geduld bis es dann doch wieder käme. So hatte sie sich für ihr Paradies entschieden, wo sie ein Schatten ohne Quelle. Ganz alleine, nur eine Projektion an der Wand, ein Abbild einer Fiktion, die ihr Leben war.