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Die Lilie
Die Lilie
Es war schon viel zu lange her...
Susann schlug die Augen auf und starrte im Halbdunkel der Dämmerung an ihre weißgetünchte Zimmerdecke. Der Wecker auf ihrem kleinen Nachttisch leuchtete ihr grell entgegen, so als wollte er ihr die Uhrzeit mit seinen ekelhaft grünen Ziffern entgegenschreien. Susann seufzte, wie immer, wenn sie zu früh aufgewacht war. Sie wusste genau, die zwei Stunden bis sie wirklich aufstehen musste würde sie sowieso nicht mehr einschlafen können. Aus Gewohnheit griff sie nach links, nur um festzustellen, dass da niemand mehr war mit dem sie die Zeit bis zum Aufstehen hätte verbringen können. "Es ist schon seltsam," dachte sie,"dass man die Anwesenheit eines Menschen niemals so intensiv spürt wie seine Abwesenheit."
Mit einem entschlossenen Ruck schlug Susann die Decke zur Seite und schwang sich aus dem Bett. Sie wollte den Tag nicht schon wieder mit trübseligen Gedanken beginnen. Schnell schlüpfte sie aus ihrem dünnen Nachthemd und wanderte ins Badezimmer. Einen Vorteil hatte das frühe Aufwachen: Sie konnte mit einem entspannenden Schaumbad in den Tag starten und würde später ruhig und ausgeglichen ins Büro fahren können. Diese Gelassenheit und die schwarze Kleidung, die sie auch nach einem halben Jahr noch trug, gaben ihr eine gewisse Sicherheit. So würde wenigstens niemand ihr zu nahe treten. Sie wollte Michael nicht zu früh vergessen, denn sie hatte ihm ja versprochen, ihm ihr Leben lang treu zu sein.
Als sie später am Frühstückstisch saß, hörte sie den Briefkastenschlitz klappern. Sie schmierte sich noch ihr Frühstücksbrot und stand dann auf, um die Zeitung zu holen. Diese war zu einer zusammengerollt, und in ihr steckte eine Lilie. Susann verzog das Gesicht. Machte ihr etwa der Zeitungsjunge Avancen? Nun, darauf konnte sie gut verzichten...
Die Lilie landete auf dem Weg zu Susanns Auto im Müll - noch.
In den nächsten Tagen erhielt sie täglich ihre kleine Blumenbotschaft und am Sonntag lag zwar keine Zeitung auf dem Fußabstreifer, dafür aber gleich ein ganzer Strauß der schönen Blumen, und diesmal brachte sie es einfach nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Neugierig legte Susann sich am Montag auf die Lauer, um hinter das Geheimnis der Identität des Blumenbotens zu kommen.
Kaum lag die Zeitung vor ihren Füßen, riss sie die Türe auf und um ein Haar hätte sie geschrien. Vor ihr stand Michael. Der Haarschnitt war ein wenig anders und eine kleine Narbe zog sich über sein Kinn, aber ansonsten glich ihr Blumenlieferant ihrem verstorbenen Mann bis aufs Haar genau.
"Bitte, ich wollte dich nicht erschrecken.", sprach der Doppelgänger auf sie ein. "Mein Zwillingsbruder hat mir so viel über dich erzählt in seinen Briefen und mir Fotos von dir geschickt, ich musste dich einfach kennenlernen. Ich bin Markus."
An diesem Tag ging Susann nicht ins Büro. Bis in die Nacht saß sie mit Markus in ihrer Wohnung und endlich war da jemand, der sie verstehen und den Schmerz mit ihr teilen konnte. Denn sie spürten beide, wie sehr sie den Verstorbenen geliebt hatten.
Zwei Wochen später legte sich Susann zu ihrem schwarzen Kostüm einen bunten Schal um den Hals. Und als sie ein halbes Jahr später wieder einmal zu früh erwachte, drehte sie sich nach links und schmiegte sich eng an den warmen Körper neben ihr. "Warum hast du mir damals eigentlich die Lilien geschickt?" - "Weil in dem letzten Brief von meinem Bruder stand, dass er nach der Bedeutung deines Namens geforscht hatte. Susann, die Lilie.", sagte Markus und zog sie sanft in seine Arme.