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Die Linien im Wasser

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28.12.2009
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Die Linien im Wasser

Das Jahr war 1969. Nach einem schneereichen Winterbeginn veränderte sich Anfang Februar das Wetter. Warme, feuchte Luft brachte Dauerregen. Das große Tauen begann.

Ich träumte. Ich lag auf kaltem, feuchten Grund, es war dunkel, über mir der Himmel. Den Griff spürte ich zuerst im Nacken - große, grobe Finger, die kräftig zupackten und mich in die Dunkelheit schleiften, in eine absolute, tiefe Schwärze, von der ich ahnte, dass sie der Tod war, das Ende.

Als ich die Augen aufschlug, saß mein Großvater auf der Bettkante. Die Wärme seiner Hand, die ausgestreckt und schwer auf meiner Brust lag. Ich öffnete den Mund, aber mein Puls schlug so heftig gegen die Kehle, dass ich nicht sprechen konnte. Für einen Moment schloss ich wieder die Augen, schmeckte die kalte, feuchte Luft, die durch die geöffneten Fenster hereinwehte. Mein Großvater stand auf und blieb in der Tür stehen.
„Zieh dich an und komm nach unten.“

Alle Lichter im Haus brannten. Ich ging die Treppe hinunter, hörte Motorengeräusche und lautes Stimmengewirr von draußen; das gesamte Viertel schien in Bewegung zu sein. Mein Vater stand am Küchentisch und drehte die Griffe von seinen Walther-Taschenlampen, um sie mit neuen Batterien zu beladen. Er trug Wathosen, darüber eine Windjacke, die Haare standen ihm in dünnen, wirren Strähnen vom Kopf ab. Als er mich sah, nickte er und reichte mir eine der Lampen.
„Hier“, sagte er und zeigte auf das Regal in der Diele. „Und nimm dir meine Gummistiefel.“
„Was ist denn los?“
Ich habe seinen Blick bis heute nicht vergessen.
„Komm jetzt.“

In der Diele zog ich mir Jacke und Gummistiefel an. Die Stiefel waren in Frankreich von Hand gefertigt worden, mein Vater hatte sie sich extra für die Jagd zugelegt. Die Stiefel schmiegten sich eng um den Fuß, waren gerade schwer genug, um darin nicht den Stand zu verlieren.

Nachbarn standen auf der Straße, vor ihren Häusern. Sie sprachen aufgeregt miteinander, manche noch in ihren Morgenmänteln. Mein Großvater saß hinterm Steuer seines alten Taunus und öffnete mir die Beifahrertür.
„Der Damm“, sagte er und nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette. „Das Wasser ist gekommen.“
Ich stieg auf den Rücksitz. Neben mir die Kiste mit den Sachen meines Vaters, die er für die rote Arbeit benötigte: Edelstahlhaken, Gekrösemesser, ordentlich zusammengelegte Seile und Karabiner. Im Fußraum lagen auseinandergeschraubte Teile von Angelruten, Rollen und die alte Köderbox aus blassgrünem Metall. Ich betrachtete diese Gegenstände, sie schienen sich verändert zu haben, wirkten seltsam neu, als sähe ich sie zum allerersten Mal.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“
Ich hob den Kopf, blickte aus dem Seitenfenster, sah meinen Vater, wie er die Einfahrt herunterrannte.
„Ja“, sagte ich leise, und dann noch einmal: „Ja.“
Mein Vater ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, ein großer, schwerer Mann, und da kam dieser Geruch mit ihm, der über die Jahre in das Material seiner Hose eingedrungen war. Nach Schlick, vertrockneten Algen, den Innereien gefangener Fische.

Wir fuhren bis zur großen Kreuzung. Die beleuchtete Uhr auf der Litfaßsäule zeigte 4:40. Weiter, vorbei an leeren Feldern, die Remisen und Scheunen grau und verlassen vor langsam heller werdendem Himmel. Die Wälder am Rande der Flur lagen noch im Halbdunkel, unberührt von allem. Das Tal sah ich in dieser Nacht das erste Mal, als wir über den Grat der Ville fuhren: eine geschlossene Fläche, die im Mondlicht schimmerte wie nasses Silber. Mein Großvater atmete aus, ein leises, hohes Pfeifen, die Zigarette hing immer noch in seinem Mundwinkel, die Glut längst erloschen.
„Der ganze Schnee und dann zu heiß“, sagte mein Vater. „Mitte April fünfunddreißig, fast vierzig Grad.“
Mein Großvater fuhr auf der schmalen, nicht asphaltierten Straße langsamer, schaltete das Fernlicht ein. Aus der Dämmerung vor uns sollte sich das Viadukt erheben. Nur die oberste Furt lag noch frei. Bogen und Tragwerk waren vollständig vom Wasser bedeckt.
Mein Vater lehnte sich im Sitz zurück, sein Kopf sank gegen die Stütze. „Der Steg ist überflutet …“
„Sind wir wegen dem Boot hier?“, fragte ich.
Mein Großvater schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wegen dem Boot, wir sind nicht wegen dem Boot hier.“
„Der Regen, und dann hat irgendwas mit der Drainage nicht funktioniert.“ Mein Vater drehte sich zu mir, sein Gesicht weiß und hell über der Mittelkonsole. „Es gab eine Flutwelle, unten im Tal, eine große Flutwelle … und, du weißt doch, was das bedeutet, oder? Das weißt du doch?“
Ich nickte.
„Gut“, sagte er. „Dann ist ja gut.“

Mein Großvater wendete. Er behielt das gleiche Tempo bei, vielleicht 40 Stundenkilometer, die Karosserie vibrierte wegen der untertourigen Drehzahl, und als die Steigung zunahm und wir fast den höchsten Punkt der Ville erreicht hatten, soff der Motor ab. Ein kurzer, harter Ruck, danach erloschen die Scheinwerfer und der Wagen blieb stehen. Im nächsten Augenblick stieg ein Schwarm Rabenkrähen von einem der Felder auf. Ich hörte ihr Kra Kra über der Ebene verhallen, dann die kräftigen, schnellen Flügelschläge. Der Schwarm flog über das Dach hinweg und löste sich in kleine, schwarze Punkte am Himmel auf.
„Fahr runter ins Südend“, sagte mein Vater. „Die Feuerwehr schafft es nicht ins Tal, keiner von denen kennt sich da aus.“
Mein Großvater nickte und ließ den Motor an.

Eine eigenartige Stille lag über allem. Der Klang des Atmens so nah, als käme er aus der Mitte des Schädels. Das Geräusch des Motors monoton und wie gedämpft. Die Stimmen meines Vaters, meines Großvaters, die über Hohlräume an der Absperranlage und über ein Abrutschen der Dammwand sprachen, leise und weit entfernt.

Beide Männer verdienten ihren Lebensunterhalt seit jeher mit schwerem Gerät. Sie fuhren Sattelzüge, Tieflader, Spezialfahrzeuge für Langmaterial, bedienten Kräne, Betonmischer und Hublader. Kleine Kinder kamen zum Betriebshof der Familie, blieben vor dem Sicherheitszaun stehen, um ehrfürchtig die großen, mächtigen Maschinen dahinter zu bestaunen. Jede Unze davon gehört uns, sagte mein Vater immer, darauf war er stolz.

Das Südend war der niedrigste Punkt der Ville, eine weitläufige Trasse, die sich längs um den Hang erstreckte. Dort gab es die damals übliche, kleinteilige Landwirtschaft - Teppiche aus Feldern, Obstbaumwiesen und Totholzhecken. Wir fuhren den Höhenkamm entlang, auf einer einspurigen Straße voller Schlaglöcher. Über den Baumkronen dichter, weißer Nebel, bis sich schließlich das Tal öffnete, und wir über eine große, gerodete Fläche bis auf die Sohle blicken konnten. Kudekoven. Aldenrode. Vorselaer. Dörfer, Kerne der Besiedlung seit Jahrhunderten, verbunden durch Glauben, Sprache, Blut und Arbeit. Eine Ebene, so gelb wie Sand, keine Erhebung, Vertiefung, kein Gebäude, keine Straße.
„Mein Gott“, flüsterte mein Vater.

Hinter der nächsten Kurve stand ein Kleinlöschfahrzeug, Scheinwerfer und Blaulicht eingeschaltet, dahinter mehrere PKW, manche mit laufendem Motor. Abgase stiegen in dichten Schwaden in die Dämmerung. Menschen gingen auf der Fahrbahn auf und ab, lehnten an der Leitplanke, starrten ins Leere. Mein Großvater hielt am Straßenrand, stieg mit einem Ächzen aus dem Wagen und klopfte gegen die Seitenscheibe.
„Du bleibst sitzen.“
Mein Vater stieg ebenfalls aus. Dann gingen beide Männer zum Löschfahrzeug hinüber, die Hände tief in den Taschen ihrer Jacken vergraben. Ich erkannte einige Gesichter in der Menge wieder – der pensionierte Polizist, den wir alle Willi nannten und der in einer der besseren Straßen im Viertel wohnte. Dann Dr. Hammer, der Tierarzt, der sich um das Vieh der Bauern und nur selten um Hunde oder Katzen kümmerte. Es war mein Vater, der mit diesen Männern sprach, seine Gesten heftig und eindringlich. Großvater stand schweigend neben ihm, nickte ab und an mit dem Kopf, und da fiel mir die große Ähnlichkeit zwischen den beiden auf - wie sich ihre Gesichtszüge glichen, die wulstigen Brauen, der kleine Mund mit den schmalen Lippen, der immer aufrechte, gerade Oberkörper, eine Haltung, die Strenge und Härte ausstrahlte. Dann stoppte die Unterredung. Die Männer sahen alle gleichzeitig zum Wagen herüber, und ich hörte, wie mein Vater sagte: „Er ist alt genug.“ Nein, das stimmt nicht, ich hörte die Worte nicht, ich sah nur, wie sein Mund sie formte.

Als mein Großvater die Fahrertür aufzog, wehte eiskalte Luft in den Wagen und ich zog den Reißverschluss meiner Jacke zu. Für einen langen Moment betrachtete er mich, die Stirn in tiefen Falten, die Lider aufgequollen.
„Wie alt bist du?“
„Vierzehn.“
Er setzte sich hinter das Steuer. „Wir suchen“, sagte er und ließ den Motor an. „Wir fahren runter, bis es nicht mehr geht, dann sehen wir weiter.“
„Und was macht Vater?“ Er stand immer noch bei den Männern, sie sprachen miteinander, aber etwas hatte sich verändert, es herrschte Aufregung, Angst.
„Wir brauchen ein Boot“, war alles, was Großvater noch sagte. Danach legte er mir eine Hand aufs Knie und deutete mit einem Kopfnicken auf den Beifahrersitz.

Wir fuhren schweigend. Mein Großvater lenkte einhändig, kurbelte das Seitenfenster herunter, nahm ab dem Gefälle den Gang heraus. „Ich habe das immer schon gewusst“, sagt er und blickte kurz zu mir herüber. „Unten im Tal, um keinen Preis der Welt.“ Er hatte beim Bau des Damms mitgearbeitet, Grauwacke für die Schüttung aus den umliegenden Gemarkungen transportiert. Das war Jahrzehnte her. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er war kein großer Mann. Nicht sonderlich muskulös, mit kurzen Beinen und einem Bauch, der schon über dem Gürtel hing. Doch da war eine Sache, die ihn von anderen Männern unterschied. Seine Hände waren breit, mit Narben übersät, die Knöchel rau und weiß, unter der dicken, ledrigen Haut seiner Finger bewegten sich fortwährend Sehnen und Muskelstränge.

Hinter der nächsten Kurve stand ein Brandfuchs auf einem auseinandergefallenen Holzpolter. Die schmalen Raubtieraugen reflektierten das Scheinwerferlicht, Kehle und Bauch so dunkel wie Asche. Er stand reglos da, mit ausdruckslosem Blick, Fang in den Wind gerichtet, Läufe voller Schlamm. Da war dieser Geruch, den ich bis heute nicht vergessen kann: nach kalkhaltiger Erde, die das Wasser aus den tief liegenden Sedimenten gewaschen hatte, sauer und beißend. Wir atmeten ihn ein, mit ihm die Geschichten, die nie erzählt werden würden.

Bald darauf war die Straße nicht mehr passierbar - Schlamm hatte die Fahrbahn überflutet, eine tonnenschwere Decke, die über dem Asphalt lag. Aus der Masse ragten entwurzelte Bäume, Verkehrsschilder, Teile von Dächern. Die Lamellen eines Garagentors bewegten sich im Wind knarzend hin und her.
„Hast du deine Taschenlampe?“
„Ja“, sagte ich und holte die Walther aus der Innentasche meiner Jacke. Mein Großvater hielt auf der Fahrbahn und schaltete die Warnblinkanlage ein. „Lass mich vorgehen.“
Er stieg aus, schaltete seine Taschenlampe ein, der Lichtkegel wanderte langsam über den Asphalt. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und hob einen langen, gerade gewachsenen Ast vom Boden auf. Damit stach er in die Schlammdecke, überprüfte die Trittfestigkeit, dann winkte er mir mit der Taschenlampe.

Ich ließ die Beifahrertür offen und schaltete meine Taschenlampe ein. Das Licht war gleißend, zeigte jeden abgerissenen Grashalm, jeden Kiesel, deutlich und scharf wie auf einer guten Photographie. Grobkörniger Dampf setzte sich vom Boden ab. Die Gummistiefel versanken nach den ersten Schritten bis zum Knöchel.
„Du gehst nur da, wo ich auch gehe, verstanden?“ Mein Großvater hielt den Stock in einer Hand, in der anderen die Taschenlampe.
„Nach was suchen wir?“
„Nach allem.“ Er blieb stehen, bewegte den Lichtkegel seiner Taschenlampe langsam und kreisförmig, verharrte einen Moment. „Einfach nach allem.“
Ich folgte seinen Spuren, Schritt für Schritt. Aus dem steilen Abhang, der das Südend begrenzt hatte, war ein flach abfallender Hügel geworden. Die Flutwelle hatte auf dem Weg ins Tal ein natürliches Becken passiert, dort seine größte Wucht verloren, doch die Schlammmassen hatten sich weiter vorwärts geschoben und alles unter sich begraben. Wir näherten uns von den Rändern, mein Großvater immer vor mir, unsere zwei Lichtkegel erhellten die Umgebung. Ein Telegrafenmast lag quer vor uns, die Isolatoren schwangen frei. „Nicht anfassen“, sagte mein Großvater und zeigte auf den grün schimmernden Holzstamm. „Giftig.“ Dann blieb er stehen, um mit der Taschenlampe über die Ebene zu leuchten. Tiefe, mit Wasser und Schlamm gefüllte Trassen durchzogen die Talsohle, überall Anhäufungen von Dingen, deren Form und Zweck fast nicht mehr wiederzuerkennen war; zerdrückt, verbogen, zerstört. Die Dachhälfte einer Scheune schwamm obenauf, Teile von Fahrrädern, Eisenstangen und Mülltonnen bildeten eine Insel, Fensterrahmen, von den Polen gerissene Briefkästen und Blumenkästen eine andere, überzogen mit einer Schicht aus Erde und Schlamm, Heu, Gras und Steinen. Dazwischen entwurzelte Bäume, Kiefern mit langen Stämmen, wie nebeneinanderliege Rippen, unterbrochen von Furten, in denen Wasser stand.

Ein Raunen kam von weiter hinten. Mein Großvater sah auf, lauschte einen Moment in die Dunkelheit und richtete den Strahl seiner Taschenlampe aus. Ich folgte dem Lichtkegel, der langsam über die Kiefern wanderte. Die Kuh lag auf einem der Stämme, der Hals durchbohrt von einem armdicken Ast, aber da war kaum Blut, nur ein schwaches Rinnsal im weißen Teil des Fells. Die Zunge hing ihr aus dem Maul, angeschwollen und dunkel glänzend, und immer wieder die Laute aus den Tiefen der Kehle – ein ersticktes Grölen, vor Erschöpfung ganz rau, unterbrochen vom Geräusch des Atemholens. Die feuchten Nüstern vibrierten bei jedem Zug, der Pansen und ein Teil des Labmagens lagen vor ihr im Dreck. Mein Großvater zeigte auf ein langes Stück Wellblech, das unterhalb des Bugs in ihren massigen Körper eingedrungen war und die Dünnung aufgerissen hatte. Der Bauchlappen hing lose über dem Metall, gelbgraue Organe quollen aus der Öffnung.
„Halt deine Lampe hier hin“, sagte mein Großvater und zeigte mir die Richtung an, „und dann sieh weg.“
Die Kuh senkte den Kopf, als das grelle Licht sie traf, die Augen schon matt und starr. Mein Großvater räusperte sich, atmete langsam und lange aus. Als er seine Messerscheide öffnete, hörte ich ein leises Klicken und drehte den Kopf weg. Der gegenüberliegende Hang lag hinter einem Schleier aus dichtem Nebel, und da waren Lichter, Lichter, die sich bewegten.

Es war, als wäre die Luft mit einem Mal dünn geworden, schwer zu atmen. Mein Herz schlug hart gegen die Brust, mir wurde schwindelig, da war ein Rauschen in meinen Ohren, und dann herrschte Stille. Ich wusste, was diese Stille bedeutete. Mein Großvater stand breitbeinig über eine Trift gebeugt und reinigte sein Messer im trüben Wasser. „Komm weiter“, sagte er, und ich folgte ihm schweigend, achtete auf die Abdrücke seiner Schuhsohlen, ich sah mich nicht mehr um.

Stehengebliebene Wände von Scheunen, Häusern, die umliegenden Mauern fortgerissen, Steine, Wurzeln, Erdreich, dichte Schaumflocken vom aufgetriebenen Wasser, und wir gehen Schritt für Schritt, nichts passiert. Die Luft wird kälter, der Wind schneidet mir ins Gesicht, am Horizont Lichter, kreisrund und hell, die Corona dehnt sich hinter dem Nebel aus, eine Kette aus Licht. Und da stehen wir, vor dieser grauen Einöde, die so endlos scheint, Schlamm und noch mehr Schlamm, der Schein des Mondes zieht sich bis zur Stirnseite des Tals, der Damm thront über allem, eine Kraft für sich, wir so klein, am Ende einer Kette von Ereignissen angelangt. Aufsteigender Dampf, die Dinge ihres Zwecks entledigt, Ruinen ohne Funktion, über allem der Geruch von Heu und Kanalisation, Dung und Nadelhölzern. Endloses Waten durch die Elemente, durch die Stille. Dann Stimmen aus dem Nichts, weit entfernt, Flüstern aus dem Nebel, langsam näher kommend, doch ich weiß, mir kann nichts geschehen, denn alles ist bereits geschehen.

Blaugraues, klares Wasser, nur eine dünne Schicht Schlick treibt dicht unter der Oberfläche, die Lichter kommen näher, blenden mich, das kalte, grelle Licht schmerzt in meinen Augen, alles löst sich in einem pulsierenden Weiß auf, irgendwann ist da mein Vater, er legt seine Hand auf meine Schulter, das ist sein Geruch, ich erkenne ihn am Geruch, Algen und Fischgedärme und Schweiß, es musste mein Vater sein.

Sie waren von der anderen Seite des Tals gekommen, hatten das Absperrbauwerk hinter sich gelassen, mit Booten der DLRG die überfluteten Dörfer durchkämmt. Ich starrte auf das Wasser, das vor uns lag - da waren Linien in der Tiefe, lange Geraden, so gleichmäßig, als wären sie mit sicherer Hand gezeichnet worden. Sie wurden von dunklen Bereichen unterbrochen, von großen, rechteckigen Formen mit scharfen Kanten. Die Krone einer Tanne ragte aus dem Wasser, ich streckte meine Hand aus, ließ sie an den Zweigen vorbeigleiten, die Stiche der Nadeln ein vertrautes Gefühl. Ein schwaches, kaum wahrnehmbares Glitzern kurz über der Wasseroberfläche. „Wir haben jemanden gefunden“, sagte mein Vater, seine Hand lag immer noch auf meiner Schulter, und während er sprach, wurde sein Griff fester und drängender. Es war die Art, wie er mich ansah. Er sah mich so an, wie er die anderen Männer angesehen hatte. Als gäbe es einen Bund zwischen ihnen, als wären sie Teil einer großen, gemeinsamen Sache. Das Geräusch der Außenbordmotoren; dumpfes, weit entferntes Brodeln. Es wurde langsam hell. Die Vögel sangen bereits.

Im lichteren Teil des Waldes, am Rand des Tals, bemerkte ich eine Bewegung zwischen den Bäumen. Etwas Helles flatterte zwischen den Ästen im Wind. Ich beschirmte meine Augen. Die Männer blieben abseits stehen, redeten in gedämpfter Lautstärke miteinander. Sie warteten auf weitere Hilfe, auf mehr Boote. Jemand sprach von einem Einsatz der Bundeswehr. Meine Schritte knirschten im verkrusteten Schlamm. Da war Spannung in mir, ich konnte die Muskeln spüren, wie Sehnen über Knochen rieben.

Ein Rascheln im Gebüsch. Zwei, drei, vier Krähen erhoben sich, ich hörte ihre Flügelschläge über mir, dann verschwanden sie aus meinem Blickfeld. Seine Haut war glatt wie ein Stein aus dem Fluss, ganz weiß, da war nur eine dünne, blaue Ader neben der Schläfe. Ein Strampler aus gestreifter Wolle, in dem sich ein paar Laubblätter verfangen hatten. Die Augen offen, ich blickte in starre, dunkle Pupillen und wollte meine Hand ausstrecken, um es zu berühren.
„Was ist da?“, fragte mein Vater und blieb neben mir stehen. „Ist da was?“
Ich ließ meine Hand sinken. Er nickte. Sein Atem dampfte.
„Das ist nichts", sagte er. „Komm weiter. Wir sammeln uns am Südend.“

In dieser Nacht verloren über dreihundert Menschen ihr Leben. Die Flutwelle überraschte sie in ihren Betten, und ich stelle mir vor, dass sie träumten, als das Wasser kam.
Unter den siebenundzwanzig Personen, die lebend im Tal geborgen wurden, befand sich ein achtundachtzigjähriger Mann, der letzte Stellmacher der Gegend. Seine drei Söhne hatte er in den Weltkriegen verloren und kannte den Tod. Trotzdem war er sich sicher, dass man seine vermisste Frau noch in den Trümmern finden würde. Als sie ihn aus dem Schlamm zogen, da habe er einen Distelfink am Himmel fliegen sehen, sagte er, und das bedeute Hoffnung. Am Morgen des nächstens Tages schlug einer der Hunde an. Sie fanden die Frau mit gebrochenem Schlüsselbein unter einer eingestürzten Häuserhälfte. Noch Monate später hörte ich die Geräusche der Staumauer – ein dunkles Knirschen, Stein auf Stein, sich biegendes Metall.

Eine Woche später tauchte ein Mann aus der Stadt vor unserer Einfahrt auf. Ich erkannte ihn an der Aktentasche aus Glattleder, die er in den Händen trug und an dem weißen Diplomat, den er auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Er stieg aus und wartete am Holztor, bis mein Vater ihn heranwinkte. Es war ein sonniger Tag. Wir hatten gerade das Fundament für einen neuen Räucherofen gelegt. Mein Vater schabte eine Kelle Spies aus dem Eimer, der vor ihm auf dem Boden stand. Der Mann blieb auf halbem Weg stehen. Dann öffnete mein Großvater die Haustür und trat auf die Veranda. Er hielt einen Becher Kaffee in der Hand, im Mundwinkel seine Savinelli.
„Ich weiß, wer Sie sind“, sagte mein Vater und legte einen Stein passgenau auf den anderen.
Der Mann nickte.
„Also was wollen Sie?“
„Nicht jeder hätte das gemacht“, sagte der Mann. „Einfach da raus …“
Mein Vater antwortete nicht.
„Dazu gehört `ne ganze Menge Mut, und …
„Mögen Sie gerne Fisch?“, unterbrach ihn mein Vater.
Der Mann legte die Stirn in Falten. „Was?“
„Wir alle hier mögen Fisch, die ganze Familie, Frau, Sohn, der Vatter … besonders Meerforellen, kann man unten an der Sieg gut angeln, wenn man genug gefangen hat, hängt man sie in einen Räucherofen …“ Er tippte mit der Kelle auf die kniehohe Mauer.
„Und danach `nen eiskalten Bismarck.“ Der Mann lächelte, aber mein Vater schüttelte den Kopf. „Nein, seit Jahren keinen Tropfen mehr angerührt.“
Sie sahen sich für einen Moment lang schweigend an, dann lehnte sich der Mann über die Mauer und sagte: „Sie wissen doch, wie das läuft. Wenn so was passiert, sucht die Öffentlichkeit sich einen Schuldigen, auch wenn es ein Unglück war …“
„Das war kein Unglück.“ Mein Großvater nahm die Pfeife aus dem Mund und stellte den Becher auf einen der Steine. „Sie wussten, das Material taugt nichts, zu nass, zu weich, Schüttung zu hoch. Frage der Zeit, bis das rutscht, hab ich schon immer gesagt.“
„Unsere Gutachter werden das eingehend prüfen, und ungeachtet der Ergebnisse werden wir natürlich die volle Verantwortung übernehmen.“
„Wenn Sie Verantwortung übernommen hätten“, sagte mein Vater, „wären diese Menschen jetzt nicht tot.“
„Wir wissen, was Sie geleistet haben, und, lassen Sie es mich so ausdrücken, wir würden uns gerne erkenntlich zeigen …“ Er umfasste die Seiten des Koffers mit beiden Händen und hob ihn auf Brusthöhe.
„Wag es nicht“, sagte mein Großvater. „Wag es ja nicht.“
Der Mann ignorierte ihn, nickte stattdessen meinem Vater zu und öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, den Koffer immer noch in den Händen.

Ich hörte das scharfe Zischen, spürte die Bewegung in der Luft. Der Koffer fiel hin, der Mann fasste sich verwirrt ins Gesicht, und mein Großvater schlug noch einmal zu, die Hand diesmal zur Faust geballt. Der Mann wankte, Blut rann ihm über die Finger, seine Knie wurden weich, er verlor das Gleichgewicht, glitt zu Boden, der Kopf neben dem Koffer im feuchten Dreck.
„Das reicht“, sagte mein Vater. „Der hat genug.“ Er bückte sich, um den Koffer aufzuheben, fuhr mit dem Daumen langsam über das vergoldete Zahlenschloss. „Nehmen Sie ihren Koffer und dann verschwinden Sie.“

In der Küche saß mein Großvater am langen Tischende und legte sich Eiswürfel auf die Knöchel. Meine Mutter sah aus dem Fenster auf die Einfahrt. „Wir hätten das Geld gut gebrauchen können“, sagte sie.
Mein Vater schüttelte den Kopf. „Schmutzig, und wenn du `s einmal genommen hast ...“
Mein Großvater nahm einen der Eiswürfel in den Mund, zerbiss ihn, kaute und sprach gleichzeitig weiter. „Darum geht’s, dass wir schön den Mund halten, die wissen ganz genau, was Sache ist ... ist alles eine Mischpoke da oben, die haben schön geschachert damals und beim Bau `ne Menge Geld verdient."
„Weißt du, was mit den anderen ist?“, fragte meine Mutter. „Hat einer von denen das Geld genommen?“
„Das hat uns nicht zu interessieren.“ Mein Vater zuckte mit der Schulter. „Was die anderen machen, ist denen ihre Sache.“
Meine Mutter wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab. Sie nahm ihren Blick nicht von der Einfahrt. „Die Schmier dürfte jeden Moment hier sein.“

Aber die Schmier kam nicht. Auch von dem Mann mit dem Koffer hörten wir nie wieder etwas. Wir mauerten den Räucherofen fertig, fingen Forellen und Aale. Der Sommer ging, der Winter kam. Die Toten wurden beerdigt. Die Dörfer wieder aufgebaut. Keiner sprach über schlechtes Material. Keiner sprach mehr über Verantwortung. Die Reste der Talsperre stehen noch heute. Ich denke nicht mehr an den ertrunkenen Säugling. Erst Jahre später verstand ich, dass die Linien im Wasser Straßen und die dunklen Rechtecke die Umrisse der Häuser gewesen waren. Tief unten, eine stille, versunkene Welt. Mein Großvater ist längst gestorben, mein Vater ist jetzt so alt wie er es damals gewesen ist. Manchmal gehen wir noch gemeinsam auf die Jagd, aber ich spüre, wie müde er geworden ist. Einmal hat er mich gefragt, ob er das Geld hätte nehmen sollen. Nein, habe ich gesagt. Du hast alles richtig gemacht, aber er schüttelte den Kopf. Wir haben alles richtig gemacht, sagte er dann. Danach hat er nie wieder über diese Nacht gesprochen.

 

Hallo @XVIII

danke dir für den Kommentar.

Es ist zwar eine schreckliche Nacht, aber irgendwie habe ich damit gerechnet, dass sie danach auch einen dunklen Humor entwickeln oder ähnliches.
Hmm, aber warum? Ich würde mich dann so fühlen, als hätte ich die Charaktere auf den letzten Metern noch verraten. Das mit dem schwarzen Humor, das ist mir manchmal fast so eine Sache geworden wie die Ironie, ständig muss alles ironisch gebrochen werden oder aber zynisch, witzig und schwarzhumorig. Nee, ich weiß nicht, für mich passt das null in diesen Text.

Mir gefiel die Ähnlichkeit zwischen dem Opa und dem Vater, obwohl man merkt, dass sie zwei verschiedene Personen sind.

Ja, die sind vom gleichen Schlag, der Sohn ist allerdings anders, sensibler, beobachtender, abwartender, deswegen musste ich seinen Vater und den Großvater etwas näher zusammenpacken, sagen wir es mal so.

Gruss, Jimmy

 

Hallo, hast mich auch voll abgeholt. Hatte gerade noch die Serie Chernobyl geschaut und war ohnehin in so einer "zerstörten" Stimmung, und dann lese ich das. Besonders mit den Pfuschereien der Baufirma schließ ich da gerade so eine ungewollte Parallele:).
Großartige Beschreibungen, tolle Atmosphäre. Und, natürlich ganz gravierend gut, die Lesbarkeit. Lässt sich klasse lesen. Respekt.
Schönen Abend.

 

Hallo,

Hatte gerade noch die Serie Chernobyl geschaut und war ohnehin in so einer "zerstörten" Stimmung, und dann lese ich das. Besonders mit den Pfuschereien der Baufirma schließ ich da gerade so eine ungewollte Parallele

Und sorry, habe ich jetzt erst gelesen, tut mir leid! Ich finde es selbst unhöflich und nicht besonders respektvoll, lange nicht auf Kommentare zu antworten, jetzt ist es mir selbst passiert ... das nächste Bier geht auf mich. Ja, die Serie kenne ich nicht, muss ich mal schauen. Kaputte Stimmungen mag ich nicht immer, ich werde älter, da belastet so etwas mein zartes Gemüt.

Großartige Beschreibungen, tolle Atmosphäre.
Da danke ich dir für!

Gruss, Jimmy

 

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