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Die Liquids
Als Egon merkte, dass er existierte war er allein. Zunächst einmal sah er sich um. Er war in einem relativ dunklen, kugelrunden Raum. Er schwebte darin. Überall an der Wand hatten sich kleine Flüssigkeitstropfen gebildet, welche das spärliche Licht brachen und dadurch in allen Farben des Regenbogens schimmerten.
Von all dem wusste Egon, der ja eben erst anfing zu existieren, nichts. Er wunderte sich über die komplexe Welt, die doch so einfach war, dass er sie verstand. Doch woher kam das Licht, welches den Raum erhellte? Er sah sich um. Dabei fiel sein Blick auf eine winzige Stelle rechts unten, aus der ein heller Strahl kam.
Egon blickte weiter um sich herum und plötzlich blieb er an seinem eigenen Körper hängen. Er bestand ganz und gar aus eben dieser Flüssigkeit, die auch an den Wänden des Raumes zu finden war! Nur war er viel größer als die kleinen Tröpfchen. Sein Körper bildete keine Form. Er schwappte und wippte vor sich hin, und schwebte derweil im Raum, als wäre dies das Normalste der Welt. Warum? wollte er sich gerade fragen, da machte es Plop.
Er sah sich um und entdeckte ein amorphes Ding das ebenfalls im Raum schwebte. Es sah sich um und musterte die Gegend. „Wer bist du?“, fragte es Egon.
Die Zeit verging, und immer mehr Wesen, die nur aus Flüssigkeit bestanden, bevölkerten den Raum. Es wurde schon beängstigend eng. Egon war nun schon alt. Er hatte viel nachgedacht, über den Sinn von „Allem“. Oft wurde er gefragt, ob er wisse, warum die Welt hier so ist wie sie ist. Irgendwann wusste Egon die Antwort. „Jedes Ding hat seinen Zweck und auch wir Liquids haben einen. Irgendwann werden wir ins Licht gehen!“ Ein kleiner Liquid fragte ihn „Ich will nicht dorthin, ich weiß nicht was mich dort erwartet…“. Ängstlich blickte es Egon, der mittlerweile eine sehr stattliche Größe erreicht hatte, an.
Doch Egon hatte keine Angst vor seinem Schicksal. „Du musst dich nicht davor fürchten, denn nur dafür bist du da!“. Er lächelte mild und wissend.
Mehr Zeit verging und irgendwann wurde die Enge unerträglich. Egon, der älteste der Liquids, hatte sich nun schon vor dem Ausgang mit dem kleinen hellen Licht platziert. Er konnte sein Schicksal nicht erwarten. Er war schwer und drängte nach außen. Hinter ihm machte sich Nervosität breit. Plop - Wieder entstand eine Flüssigkeitsgestalt. Egon berührte den Ausgang nun schon und plötzlich öffnete sich dieser soweit, dass er und alle anderen Liquids nach und nach hindurch passten.
Alice war traurig. Ihr Freund hatte sie verlassen und war nun mit irgend so einer „billigen Tussi“, wie sie seine „Neue“ nannte, zusammen. Vor ihr lagen die Briefe, die er ihr vor Monaten schrieb. Sie wusste, dass er die Trauer und das Leiden nicht wert war – so sehr hatte er sie verletzt. Doch das half nicht: Trotzdem war sie schwermütig. Sie las die Zeilen auf dem hellblauen Briefpapier, welche von seiner mittlerweile vergangenen Liebe zeugten.
Ihre Augen wurden feucht und eine große Träne kullerte über ihre Wange. Dieser folgten viele weitere, die sich zu einem kleinen Strom vereinten, bis zu ihrem Kinn. Dann tropften sie auf den Brief.
Platsch. Egon sah endlich das, was draußen war. Er fiel durch die Luft, landete auf hellblauem Grund und vermischte sich mit tiefblauer Tinte. Neben ihm landeten kleinere Tröpfchen, welche die Schrift weiter verschwimmen ließen. Egon blickte sich um, und wusste, dass er am Ziel war. Die Luft wehte und ließ ihn trocknen.
Alice sah, wie ihre Tränen die schriftliche Manifestation ihrer Liebe verwischten. Doch die Schwere hinter ihren Augen verging, je mehr von dem salzigen Nass ihre Wange passierte. Auf dem Brief hatte sich ein kleiner See gebildet, genau dort, wo vorher „Ich liebe Dich. Dein Thomas“ stand. Die Tintenschrift wurde undeutlicher.
„Danke!“ schluchzte sie, von einem Teil ihrer Last befreit. „Ich habe verstanden. Mir geht es nun besser!“. Egon schaute zu seiner linken auf eine kleine Träne und sagte: „Siehst du. Wir haben unseren Sinn gefunden.“
Ein letzter Luftzug ließ ihn endgültig eintrocknen.
(von Christian Wedtke (zorbas), 25.03.2006)