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Die Liste

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28.05.2006
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Die Liste

Ein einsames Mädchen sitzt allein in der Ecke. Ihre Augen sind groß und rot, vor sich hat sie ein Glas mit klarer Flüssigkeit auf dem Tisch stehen. Ihr Blick verrät, dass es kein Wasser ist. Ich komme näher. Immer näher. Nun sehe ich, dass es schon kein Mädchen mehr ist. Ihre unsichere Haltung, ihr trauriger Blick, der dem eines Kindes gleicht, machen sie jünger. Sie sieht aus wie eine der Studentinnen, die ich täglich aus der Uni kommen sehe und beneide. Beneide um ihre Unabhängigkeit, um ihre Intelligenz, um ihr Leben. Sie sieht mich nicht an, selbst nicht, als ich nur noch einen Schritt vom Tisch entfernt stehe. Sie muss schon viel von dem weißen Zeug getrunken haben.
Ihr glasiger Blick starrt auf ihre Hände mit den lackierten Fingernägeln, die sich hilflos um das Gefäß auf dem kleinen, runden Tisch krallen. Alles an ihr ist schwarz, ihre Kleidung, ihre Haare, ihre Nägel und so weit ich es beurteilen kann auch ihre Augen.
Ich setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Sie beachtet mich immer noch nicht. Ich spreche sie an, sie reagiert nicht. Ich versuche es noch einmal, sie schaut langsam auf. Ihre Augen sind nicht schwarz. Am Rande der Iris sind sie grün, nach innen hin werden sie braun, dann schwarz. Sie wischt sich die nass geweinten, langen Haare aus dem Gesicht, sieht mich mit leeren Puppenaugen an.
„Sie müssen nun gehen. Die Bar schließt gleich.“ Sie bricht in Tränen aus.
„Soll ich Sie nach Hause bringen? Wollen Sie einen Kaffee?“
Noch mehr Schluchzen.
„Ich will weder Kaffee, noch will ich nach Hause.“
„Aber hier können Sie nicht bleiben, ich muss zuschließen.“
„Nennen Sie mir einen Grund.“
Ich bin irritiert. Einen Grund wofür?
„Ich muss die Bar jetzt schließen, mein Chef verlangt es. Bitte gehen Sie jetzt, es ist schon spät.“
„Ich gehe erst, wenn Sie mir einen Grund genannt haben.“ Die Leere in ihren Augen verwandelt sich in Härte. Sie würde nicht weichen, bevor ich ihr einen Grund gesagt hatte, aber wofür?
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, warum Sie gehen müssen.“
Eine einzelne Träne rinnt ihr über die weiße Wange, langsam an ihrem langen Hals hinab in ihren Ausschnitt. Sie lässt sich Zeit mit ihrer Antwort.
„Möchte keinen Grund, von hier zu gehen. Ich will einen Grund ganz zu gehen, aus dem Leben zu gehen.“
Aus dem Leben zu gehen. Warum sollte dieses wunderschöne Wesen aus dem Leben gehen?
„Hören Sie, wenn sie Liebeskummer haben, dann sollten Sie zu einer Ihrer Freundinnen gehen, aber das ist doch keine Lösung. Kurzschlussreaktionen sind nie eine Lösung.“
„Kurzschluss?“
Sie legt ein kleines, schwarzes Buch auf den Tisch. Ihre Finger schieben es zitternd zu mir herüber.
Ich nehme es, löse den Gummi und schlage es auf.
1000 Gründe lese ich als Überschrift. Ich lese mit Befremden.
„Ich sammle nun schon seit fünf Jahren.“ Ihre Stimme wird lebendiger, nicht mehr so tonlos.
Ich blättere weiter nach hinten, zum Schluss. Bevor ich nachschauen kann, erkennt sie schon meine Frage.
„Es fehlt mir noch ein einziger Grund, ein einziger nur, dann darf ich sterben. Ein einziger, der noch nicht in diesem Buch steht. Es ist heute drei Jahre her, dass ich das letzte Mal geschrieben habe.“
Ich schaue zu ihr auf, sehe in ihre Augen.
„Ich sehe keinen Grund, warum Sie sterben sollten. Ich könnte Ihnen eine Liste erstellen mit 1000 Gründen zu leben, wenn Sie mir nur ein wenig Zeit lassen.“
Unbeherrscht nimmt sie mir das Buch wieder ab, die Tränen werden wieder heftiger.
„Ich will nicht leben. Ich will nicht. Ich brauche nur diesen einen Grund, bitte. Nur einen.“
Ihre riesigen Augen starren mich an. Bittend, bettelnd, in mich eindringend.
Ich schweige, weiß nicht, was ich sagen soll. Eine ganze Weile sitzen wir so da.
Bis sie sich aus meinem Blick löst, ihre Tasche nimmt, aufsteht, zur Tür geht.
Durch das schwache Licht erkenne ich sie kaum noch.
„Wenn ich diesen einen Grund nicht finde, bin ich verdammt zu leben bis ich sterbe.“
Bedeutungsvoll seht sie im Türrahmen, ich wende den Blick ab, höre nur das Klappern der Tür.
Sie ist gezwungen zu leben, so wie ich es bin.
Warum sollte es ihr besser gehen.
Ich stelle die letzten Stühle hoch, schließe ab und trete hinaus auf die Straße.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Lotusblut!

Hat mir ganz gut gefallen, deine kleine Geschichte über eine Lebensmüde. Liest sich gut, und das mit der Liste ist auch ein netter Einfall. Ein schöne, runde Sache.

Ich weiß nicht genau, ob das in Gesellschaft gehört, aber naja...
Wenn nich,b itte verschieben.

Solche zusätzlichen Informationen bitte in einem eigenen Thread, gleich nach der Geschichte.

Fehler:

Noch mehr schluchzen.
groß: Schluchzen
Sie sieht aus, wie die eine der Studentinnen, die ich täglich aus der Uni kommen sehe und beneide.
ohne Komma und ein "die" zuviel: Sie sieht aus wie eine der Studentinnen, die...
Ich bin iritiert
irritiert
Ich gehe erst, wenn sie mir einen Grund genannt haben.
groß: Sie
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.
Zeit einhalten: lässt
Hören Sie, wenn sie Liebeskummer haben, dann sollten Sie zu einer ihrer Freundinnen gehen
groß: Sie, Ihrer
Ich lese mit befremden.
groß: Befremden
Ich sammle nun schon seit 5 Jahren
ausschreiben: fünf Jahre
Es ist heute 3 Jahre her, dass ich das letzte mal geschrieben habe.
ausschreiben: drei Jahre, groß: Mal
Ich sehe keinen Grund, warum sie sterben sollten
groß: Sie
Ich schweige, weiß nicht was ich sagen soll.
Komma: ...weiß nicht, was ich...
Bedeutungsvoll seht sie im Türrahmen, ich wende den Blick ab, höre nur das klappern der Tür.
steht, groß: Klappern

Gruß
Andrea

 

Danke für die Rechtschreikorrektur, das sit wirklich nicht so meine Stärke...

 

Hallo lotusblut,

hab ich gern gelesen.

Einige Anmerkungen:
"Was ist das für eine weiße Flüssigkeit?" - Durch diese Frage werde ich einige Zeit abgelenkt, obwohl sie keine weitere Funktion besitzt. Nenn den Sprit doch beim Namen. Und: Ich baue als Leser zu Betrunkenen weniger Nähe auf als zu Nüchternen. Deren Probleme scheinen mir existenzieller. Warum muss die Kleine also überhaupt saufen?

Was mich beim Lesen hält, aber mir der Auflösung für eine Kurzgeschichte etwas unbefriedigend erscheint: Wie geht es weiter mit der Liste? Gibt es einen letzen Eintrag oder wirft sie die Liste weg?

Gruß Martin Welker

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke für den Kommentar.

Betrunken muss das Mädel sein, weil sie sonst niemals so offen mit einem Fremden über ihre Probleme sprechen würde.

Sie wirft die Liste nicht weg, sondern will den letzten Eintrag finden. Es ist besser für sie ihn vielleicht nach noch weiteren 5 Jahren zu finden, als ihn gar nicht mehr zu finden.

Gruß natalie

PS: Fällt auch noch ein durchsichtiges, alkoholisches Getränk außer Wodka ein?

 

Hallo Natalie,

lässt sich recht flüssig lesen, vor allem die Dialoge gestaltetest Du schön kurzweilig.

Aber zu Deiner Frage im Thread kann ich Dir helfen:
Grappa, Dornkaat, Ouzo, Korn, Sambucca :-)
übrigens, das betrifft noch mal die Geschichte: unter weiss stell ich mir eher Milch vor, Wodka würde ich als klares oder durchsichtiges Getränk bezeichnen.

Gruß
Bacardi (ui, noch eins lol )

 

Hallo Lotusblut,

für mich ist das eine Geschichte, die in dem was sie erzählt nichts erzählt. Es gibt einen Verlauf, der Icherzähler kommt vielleicht ins Grübeln, ich aber nicht, denn mir bleibt die Protagonistin zu fremd, dabei würden mir durchaus auch genug Gründe einfallen, aus dem Leben zu scheiden. Als Liste bleiben sie allerdings abstrakt. Denn das Mädchen braucht ja nicht irgendwelche Gründe, sondern ihre persönlichen. Wenn sie aus dem Leben scheiden möchte, reicht ein Grund. So wirkt die Liste wie ein Vertrag, den sie mal aus einem mir unbekannten Grund mit irgendwem geschlossen haben muss. Eine Art Lebensversicherung, die jemand mit ihr gegen ihren Willen eingehen wollte, an die sie sich aber hält, bis sie den letzten Grund gefunden hat.
Dadurch weiß ich leider immer noch nicht, was das Leben für dieses Mädchen so unerträglich macht, dass sie sich sogar mit solchern Dynamik auf die Suche nach Gründen macht. Suizid wird so zu einem theoretischen Gebilde.
Den Alkohol braucht sie nicht, von Offenheit geschweige denn, von "Problemen erzählen" kann keine Rede sein, sie erzählt nur die Konsequenz, die diese unbenannten Probleme für sie haben sollen. So wird es ja zu ihrem einzigen Problem, den letzten Grund noch nicht gefunden zu haben.
In sofern ercheint mit das alles weit weg.
Details:

vor sich hat sie ein Glas mit weißer Flüssigkeit auf dem Tisch stehen. Ihr Blick verrät, dass es kein Wasser ist
dann wäre es ja auch eine klare Flüssigkeit, keine weiße.
Ihr glasiger Blick starrt auf ihre Hände mit den lackierten Fingernägeln
Verselbstständigung des Blickes wirkt ungeschickt.

Lieben Gruß, sim

 

Vielen Dank für eure Kommentare.
Das weiß habe ich jetzt in klar geändert, aber bei einer solchen langen liste an Getränken konnte ich mich ncoh nicht entscheiden.
Ich werde erst probetrinken müssen ;)

@ Sim, es freut mich, dass du die Kritik äußerst. Nicht, dass es mich nicht auch freut, wenn die Geschichte gefällt und überzeugt, aber Kritik hilft mir mehr (also los, stampft mich shcon in Grund und boden ^^).

Ich wollte mit dieser Geschichte auch ausdrücken, dass die Protagonistin fremd ist. Die IchErzählerin bemüht sich auch nicht, sie näher kennen zu lernen.
Das soll zeigen, dass sich menschen eigentlich gar nicht für die anderen Menschen wirklich interessieren, frei nach dem Motte "Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, ...".
Anscheinend ist mir das nicht gelungen, hat jemand eine Idee, wie ich das besser rausbringe?

 

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