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Die Liste
Ein einsames Mädchen sitzt allein in der Ecke. Ihre Augen sind groß und rot, vor sich hat sie ein Glas mit klarer Flüssigkeit auf dem Tisch stehen. Ihr Blick verrät, dass es kein Wasser ist. Ich komme näher. Immer näher. Nun sehe ich, dass es schon kein Mädchen mehr ist. Ihre unsichere Haltung, ihr trauriger Blick, der dem eines Kindes gleicht, machen sie jünger. Sie sieht aus wie eine der Studentinnen, die ich täglich aus der Uni kommen sehe und beneide. Beneide um ihre Unabhängigkeit, um ihre Intelligenz, um ihr Leben. Sie sieht mich nicht an, selbst nicht, als ich nur noch einen Schritt vom Tisch entfernt stehe. Sie muss schon viel von dem weißen Zeug getrunken haben.
Ihr glasiger Blick starrt auf ihre Hände mit den lackierten Fingernägeln, die sich hilflos um das Gefäß auf dem kleinen, runden Tisch krallen. Alles an ihr ist schwarz, ihre Kleidung, ihre Haare, ihre Nägel und so weit ich es beurteilen kann auch ihre Augen.
Ich setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Sie beachtet mich immer noch nicht. Ich spreche sie an, sie reagiert nicht. Ich versuche es noch einmal, sie schaut langsam auf. Ihre Augen sind nicht schwarz. Am Rande der Iris sind sie grün, nach innen hin werden sie braun, dann schwarz. Sie wischt sich die nass geweinten, langen Haare aus dem Gesicht, sieht mich mit leeren Puppenaugen an.
„Sie müssen nun gehen. Die Bar schließt gleich.“ Sie bricht in Tränen aus.
„Soll ich Sie nach Hause bringen? Wollen Sie einen Kaffee?“
Noch mehr Schluchzen.
„Ich will weder Kaffee, noch will ich nach Hause.“
„Aber hier können Sie nicht bleiben, ich muss zuschließen.“
„Nennen Sie mir einen Grund.“
Ich bin irritiert. Einen Grund wofür?
„Ich muss die Bar jetzt schließen, mein Chef verlangt es. Bitte gehen Sie jetzt, es ist schon spät.“
„Ich gehe erst, wenn Sie mir einen Grund genannt haben.“ Die Leere in ihren Augen verwandelt sich in Härte. Sie würde nicht weichen, bevor ich ihr einen Grund gesagt hatte, aber wofür?
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, warum Sie gehen müssen.“
Eine einzelne Träne rinnt ihr über die weiße Wange, langsam an ihrem langen Hals hinab in ihren Ausschnitt. Sie lässt sich Zeit mit ihrer Antwort.
„Möchte keinen Grund, von hier zu gehen. Ich will einen Grund ganz zu gehen, aus dem Leben zu gehen.“
Aus dem Leben zu gehen. Warum sollte dieses wunderschöne Wesen aus dem Leben gehen?
„Hören Sie, wenn sie Liebeskummer haben, dann sollten Sie zu einer Ihrer Freundinnen gehen, aber das ist doch keine Lösung. Kurzschlussreaktionen sind nie eine Lösung.“
„Kurzschluss?“
Sie legt ein kleines, schwarzes Buch auf den Tisch. Ihre Finger schieben es zitternd zu mir herüber.
Ich nehme es, löse den Gummi und schlage es auf.
1000 Gründe lese ich als Überschrift. Ich lese mit Befremden.
„Ich sammle nun schon seit fünf Jahren.“ Ihre Stimme wird lebendiger, nicht mehr so tonlos.
Ich blättere weiter nach hinten, zum Schluss. Bevor ich nachschauen kann, erkennt sie schon meine Frage.
„Es fehlt mir noch ein einziger Grund, ein einziger nur, dann darf ich sterben. Ein einziger, der noch nicht in diesem Buch steht. Es ist heute drei Jahre her, dass ich das letzte Mal geschrieben habe.“
Ich schaue zu ihr auf, sehe in ihre Augen.
„Ich sehe keinen Grund, warum Sie sterben sollten. Ich könnte Ihnen eine Liste erstellen mit 1000 Gründen zu leben, wenn Sie mir nur ein wenig Zeit lassen.“
Unbeherrscht nimmt sie mir das Buch wieder ab, die Tränen werden wieder heftiger.
„Ich will nicht leben. Ich will nicht. Ich brauche nur diesen einen Grund, bitte. Nur einen.“
Ihre riesigen Augen starren mich an. Bittend, bettelnd, in mich eindringend.
Ich schweige, weiß nicht, was ich sagen soll. Eine ganze Weile sitzen wir so da.
Bis sie sich aus meinem Blick löst, ihre Tasche nimmt, aufsteht, zur Tür geht.
Durch das schwache Licht erkenne ich sie kaum noch.
„Wenn ich diesen einen Grund nicht finde, bin ich verdammt zu leben bis ich sterbe.“
Bedeutungsvoll seht sie im Türrahmen, ich wende den Blick ab, höre nur das Klappern der Tür.
Sie ist gezwungen zu leben, so wie ich es bin.
Warum sollte es ihr besser gehen.
Ich stelle die letzten Stühle hoch, schließe ab und trete hinaus auf die Straße.