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Die Mütter
Die Mütter
In der Luft lag ein unwiderstehlicher Geruch nach Geburt und Hygiene, nach sauberen Kissen, getrocknete Lymphe von nässenden Wunden, Kantinen-Essen, selbstklebenden Verbänden, gekochter Broccoli, Mullbinden, Zeitungen, unbenutzten Tampons, neuen Schuhen, noch frischem Abwasser, nach einer Investition in eine unsinnige Sache, nach einem Kindergarten, nach Schlaf in gestärkten Laken und nach dem Unvermögen, nach verrichtetem Geschäft abzuspülen.
Eine gealterte Oberschwester trat ins Zimmer, mit unnatürlich streng frisierten Locken, auf denen die Haube thronte wie die Krone einer enttäuschten Königin.
Mit Schritten auf kantigen, weißen Schuhen ging sie ans Fenster, sie öffnete es, schob die dicken Vorhänge mit diesem strengen, reißenden Geräusch beiseite, von dem man wach wird, und ging ans Bett, um die darin liegende Frau an der Stirn zu berühren. „Du darfst nicht soviel schlafen, das ist nicht gut und übrigens: davon wird es nicht besser.“ Die Mutter wandte sich ab, wie im Ekel: ihr Atem roch noch immer nach Eiweißen, nach ungeschlucktem Speichel, Erschöpfung und Drogen. In der Ecke stand eine Wiege. Die Oberschwester fühlte jetzt etwas grob den Puls und sagte beinahe vorwurfsvoll zu der Erwachenden: „Gesund ist es, sagen die Ärzte. Ein Mädchen! …“.
Die Mutter versuchte, sich aufzurichten, um mit schielenden Augen zu suchen. Die Oberschwester merkte es und drückte sie wieder ins Kissen. Dann beugte sie sich zu der Ohnmächtigen hinunter und legte die bräunlichen Haare zurecht: zerstörte Locken, die sich in morbider Pracht um das von den Wehen noch geblähte Gesicht legten, wie bei einer Leiche.
Jetzt wurde die Türe noch etwas weiter, und hinter ihr, mit verstruppelten rotblonden Haaren stand ein athletischer Mann, 40 Jahre alt, mit dem unvermeidlichen Blumenstrauß, an dem alle Väter erkennbar sind. Er lief auf die Frauen zu, umarmte die jüngere im Bett und blickte noch mal kurz zu der Oberschwester, die in unvorstellbarer Kälte die Augenbrauen hochzog und auf die Uhr blickte. Der Mann hatte getrunken, man roch es, so früh am Morgen. Die Mutter wurde wach davon: und mit einem Wimmern hielt sie sich an seinen Schultern fest. Er hatte sich von ihr lösen wollen. Da klammerte sie sich ein weiteres Mal an ihn, allein die Liebe hat das Recht, so etwas zu tun.
Die genetische Macht der Keimbahn, die Magie von Milliarden Jahren der Fortpflanzung brandete aus ihr hoch und verharrte vor seiner betäubten Zuneigung wie eine plötzlich gefrorene Welle am Strand. Der Vater war überrascht über die Würde dieses Zusammenhangs und seiner Rolle darin: diese Frau, die er doch geliebt hatte! Jetzt war sie die Mutter eines Kindes geworden: er legte sie ehrfürchtig zurück ins rauschende Kissen, wie einen besonders wertvollen Gegenstand, und trat einen Schritt zurück, um sie zu betrachten, plötzlich fremd, wie eine Adlige. Er wusste nicht weiter. Ihr Kopf lag wie ein geschliffenes Juwel in den Kissen. Sie war erst 17.
Die Oberschwester betrachtete die Szene mit einer bitteren Genugtuung, dann drehte sie sich zur Türe, und eine Hilfsschwester kam mit einem Säugling in den Armen, klein wie ein Welpe, kleiner sogar, rosa in Watte gebettet wie eine Larve. „Oh …“, sagte der Vater und trat zur Seite. Die Mutter stemmte sich gegen alle Schmerzen zwischen den Schenkeln und sagte etwas. Die Ärzte, die sich vor dem Zimmer unterhalten hatten, liefen verschwiegen davon, als sie hörten, daß jemand im Zimmer weinte.
Gleißende Helligkeit von Klinikfenstern. Den dunklen Augen ist Licht um sich herum. Vorher war es das fremde, wertvolle Blut gewesen, pochernd, rurend war es durch die Gewölbe gestoßen. Nun musste es wohl Sickern sein, Milch aus salzenen Zipfeln. Nicht weiß, sondern gelb von Fett, Vitaminen und Antikörper für ein neues Leben in einer alten Welt. Ein Reflex greift danach. Mit Händchen.
Sie war damals im Alter von 30 Jahren aus dem zusammensinkenden Rumänien geflohen. Schon damals hatte sie auf der Geburtsstation gearbeitet. Geburten im Stundentakt, die Türen standen offen und man hörte die kreisenden Frauen wie im Liebesrausch stöhnen. Der Geruch der Plazenta schlug zwischen den Wänden wie eine eingekerkerte Geistesgestörte, mit offenen Haaren und blauen Flecken an der Stirn. Seit jeher wurde hier kein Mann geduldet, und das war ihr ganz recht, mit Männern hatte sie nicht viel am Hut: Befehle von Frau zu Frau, während der Urschmerz in Schauern die Därme auseinander treibt, daneben die Wiegen und die Tonnen und die Tücher. Ärztinnen ohne Eitelkeit, beschäftigt und klar im Denken, und nüchtern! Instrumente.
Heute war das was anders. Als Oberschwester hatte sie 12 Betten und 8 Hilfsschwestern, die Ärztinnen bekamen Freigang, durften männlich sein und in der Pause rauchen, man schloß die Türen und ließ die Mutter unter Drogen schlafen, während der Vater dabeistand und nicht ein noch aus wußte.
Sie kannte diese künstliche Welt. Sie war ledig geblieben, um ihr zu dienen, bis sie einen Mann kennenlernte, der ihr nahekommen konnte, einen Metalldreher aus Irland, ein süsser Kerl mit einem Schopf wie ein Kobold. Er konnte grinsen wie ein kleiner Junge und hatte Muskeln wie ein Stier, während er sich in ihr bewegte. Bald war sie schwanger von ihm. Sie heiratete ihn.
Das Gegenteil vom Leben zu Zweit
Ist das Leben zu Dritt
So denken viele
Kinder werden deswegen geboren
Stolz und Scham sind Teile der Wut
Die jeder Gefangene kennt
Drum lächelt kein Vater
Das Türschloß gab das vertraute Geräusch von sich. Aufregung an der Wohnungstüre: Anna wußte, daß dieses Geräusch an dem Erscheinen eines Mannes vorausging, der sie erleichtert anlachte und ihr immer etwas mitbrachte, kaltes Essen in einer verschweißten Aluminium-Schüssel, an der die Kondenstropfen hingen und nach Soße rochen, saure Limonade in einer zerkratzten Flasche aus grünem Glas und ohne Etikett, oder eben nichts, aber selbst das Nichts war wundervoll. Dieser Mann war groß und warm von der Arbeit, roch nach heißem Metall und nach Schweiß, Aufregung und der Geruch von außerhalb, er trug eine blaue Hose! Er hatte Wunden an den Händen. Es hingen Späne aus Metall im Gesicht! Ein Zauberer! Und seine Augen waren immer voller Freude, grünbraun und müde, das Gelächter drang ihr ins Hirn wie Elixier: sein Erscheinen alleine! Er war groß und wundervoll und hatte Haare wie rotes Gold. Sie liebte ihn.
Die Mutter stand verärgert und besorgt in der Küche: sie kannte dieses Ritual der Heimkehr. Das Essen dauert noch, das Bier muß er sich schon selber holen: sie muß immerhin auch in der Klinik arbeiten, ein Ritual der Rückkehr gab es nicht für sie, wenn sie nachts nach Hause kam. Mutter: immer da, vertraut, langweilig, müde. Sie holte Anna vom Kindergarten und machte ihr das Essen, bevor sie sich frisierte und in die Klinik ging, kein Jubel, wenn sie ging, eher ein geschäftliches Zur-Kenntnis-Nehmen, man kennt das ja. Wie Frauen eben zueinander sind! Irgendwann ließ Anna es dabei bewenden und gab kein Abschiedsküsschen mehr. Sie hatte immer diese unvermeidlichen Lockenwickler im Haar, während sie das Essen richtete. Anna verstand den Sinn der Lockenwickler nicht: da misstraute sie ihr. Damals war sie 8.
„Es ist nicht leicht, in der Gynäkologie zu arbeiten, ein Kind zu versorgen, dann ein Essen zu kochen und dabei liebenswürdig auszusehen, oder? Zwischen mir und meinem Mann läuft gar nichts mehr, aber ich habe mich daran gewöhnt. Seit er säuft, ist ihm alles egal. Nun, sei es. Dann soll er sehen wo er bleibt.“
„Die Lockenwickler pieksen. Vieles piekst, was Mutter hat, was Mutter tut mit mir. Die Mutter hat schlechte Laune, immer. Es ist wie das schlechte Wetter, ich beobachtete es und wunderte mich nicht mehr darüber. Warum lacht sie nicht? Vater lacht immer, und er riecht so gut. Wie Karamell.“
Wenn er geduscht hatte, war der Vater feucht am Kopf und machte gute Laune. Dann saß er auf einem Sessel, hatte eine braune Flasche in der Hand, aus der er immer wieder einen Schluck nahm, danach schaute er fern, bis er schnarchte, ganz gemütlich. Anna fand das bequem und machte es nach, saß ebenso ernst und schaute in den flimmernden Film, ohne den Ablauf zu begreifen. Lachte der Vater, so schaute sie ihm überrascht ins rote Gesicht. Mutter lachte nie. Sie stand da, genervt, konzentiert, oder sie feilte die Fingernägel mit diesem spitzen Stück Metall, während Anna das Essen zu sich nahm. Was hatte der Vater nur mit dieser Frau am Schaffen?
Seul l´amour a le droit de ce faire.
(Atys)
„Pflückt man eine einzelne Weintraube von ihrem Stengelchen, so entstehen winzige Stückchen eingerissener Haut an der Stelle, an der die Weintraube am Stengel hing, siehst Du …“ - sie zeigte es ihm - „ … dann nimmst Du einen dieser kleinen Zipfel von der Weintrauben-Schale zwischen die vorderen Zähne und ziehst vorsichtig daran, wobei sich ein Streifen der Haut von der Traube löst, aber ohne das Fruchtfleisch zu verletzen: schau …“ Anna zog einen Streifen ab. Kurz vor dem unteren Pol der Beere riß das Häutchen, um sich zu kringeln wie ein Stück Pergament. Auf diesem Stückchen kaute sie ein wenig herum, dann verschluckte sie es und legte die Lippen auf die entblößte Stelle der Weintraube, um kurz und gezielt daran zu saugen: dabei öffnete sich das gallertige Fruchtfleisch und gab das Innere frei, ein Gemisch aus Pulpa und kleinen Kernen. Es strömte ihr in den Mund, bevor sie mit der Zunge seitlich in den Spalt glitt und das Innere ausleckte, um dann, unerwartet und mit einem Hochgenuß, die ganze Beere in den Mund zu nehmen und alles zu zerkauen und zu zerbeißen, wobei die Kerne knackten und ein herrlich bitteres Gemisch entstand, das sie verschluckte und bereits nach der nächsten Beere griff.
Er beobachtete sie dabei, ein Entzücken durchfuhr ihn und er wagte nicht, sie dabei zu stören. Sie tat es Beere um Beere, konzentriert, vorsichtig. Manchmal riß die Haut zu früh, dann legte sie die Beere weg. Das war sein Moment: er griff danach und schwupp war sie in seinem Mund. Er lutschte daran, bis sie nicht mehr bitter schmeckte, sondern glatt war, ganz und gar, Osmose: die Traube nimmt Flüssigkeit des Speichels in sich auf, wird praller. Er nimmt sie zwischen die hinteren Zähne und drückt langsam und gemächtlich, bis sie zerspringt unter dem Druck, ein vernehmbares Geräusch. Wann immer sie dieses Geräusch hörte, war es ein Grund zum Lachen. Sie schaute ihn glücklich an, und er lächelte zurück.
Dutzende Arten, eine Traube zu essen, so ging es Mal um Mal.
Sie war wunderschön dabei, er legte die Hände auf den Hinterkopf, um sie anzuschauen dabei, sie war wie Muskat, dunkel und fein, Anna war eine Frau geworden, und sein stoppeliges Haar raschelte dabei vor Wonne. Sie saß da mit hängenden Brüsten, große Höfe, winzige Warzen, man erkannte es durch die Bluse, die Haare hingen ihr in fürstlichen Locken ins Gesicht, über Augen und Stirn, dazwischen der kauende Mund, die Lippen, die Muskulatur ihres Halses. Dazu Licht aus einer Lampe am Tisch, es roch nach Bier, es roch frischen Kissen, nach vertrauter Haut, man hörte das nahe Nachtfest, der Mond ...
Wie er da lag und die seitlichen Muskeln seines Rückens sich wölbten. Er war jetzt 40, prachtvoll wie ein Walnussbaum, große Sommersprossen auf dem Rücken, aber mit braunen Augen, die ein wenig grün waren, wenn man genau hinsah. Wenn man ihn massierte, so liefen seine Ohren rot an, er drehte sich dann auf den Bauch, damit man sich auf seinen Rücken setzen konnte, der groß und voller Berge und Gruben war, in die man die ihre Hände graben konnte. Sein Nacken, diese kleinen Falten in seinem Nacken, in denen der Schweiß schwimmt. Seine Haare sind rot an diesen Stellen. Und je kräftiger ich in diesen Nacken beiße, der etwas Leckeres ist, feucht, salzig, desto lauter brummte er, er mag es wohl, er mag das immer wieder, dann lacht er manchmal laut, bis sein Nacken übersäht ist von rötlichen Kränzen.
Er richtete sich auf: sie hatte ihn gekitzelt. Und mit einer heftigen Bewegung zog er sie an den Beinen über die glatte Bettwäsche, von der Mutter gewaschen und aufgezogen, noch bevor sie zur Klinik gefahren war, um einem Kind in die Welt zu helfen, und er schnaufte ihr dabei ins Gesicht, bis sie keine Luft mehr bekam.
Sie war jetzt 17 …
Erst durch diese gegenseitige Bedingtheit ist jede einzelne Regel richtig. Wird eine Regel missachtet, so verursacht sie durch den Verstoß ihrer Bedingtheit zu einer anderen Regel Fehler.
„Mutter?“, sagte Anna. Die Oberschwester drehte sich um. Durch Schleier flüssigen Schlafs erkannte Anna jetzt ihren Vater, der sie mit rotem Gesicht und unendlich langsam wieder ins Bett gelegt hatte, und ihre Mutter mit einer weißen Haube auf dem Kopf. Eine fremde Frau hielt ein gewickeltes Baby in den Händen.
„Ist das mein Kind?“
Die fremde Frau nickte.