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Die Macht der Ältesten
Seit fast drei Jahren hat es im Dorf Webede in Somali-Land nicht mehr geregnet. Über die 40° C im Schatten denkt Dieter nicht mehr nach. Seit vier Monaten verbringt er die Tage hier draußen in der Wüste, die auf den meisten Landkarten Äthiopiens ein weißer Fleck ist. Die Region kämpfte lange um die Unabhängigkeit und ist heute immer noch militärisch besetzt. Für Mitarbeiter der Hilfsorganisationen ist es oft nicht ganz ungefährlich hier draußen. Es besteht Gefahr, von Rebellen aufgegriffen und entführt zu werden. Doch nichts desto trotz: Das Dorf braucht Wasser. Männer, Frauen, Kinder und Tiere sterben. Skelette liegen auf dem staubigen Boden. Die Halb-Nomaden des Dörfchens müssen von dem Leben, was sie selbst anbauen. Die zarten Mais-, Bohnen- und Hirsepflänzchen haben es schwer. Was die Trockenheit nicht dahinrafft, wird von Kamelen, Ziegen und Schafe gierig ausgezupft.
Kein Laut ist zu hören, abgesehen vom Summen der Fliegen, die über die entzündeten Augen der Kinder herfallen. Ein paar Alte lehnen apathisch an der Mauer des kleinen Ziegelhauses oder an dem einzigen Wassertank und stützen ihre abgezehrten Körper auf ihre großen Hirtenstäbe.
Als Dieter mit seinem weißen, mit dicken Lagen Staub bedeckten Jeep im somalischen Wüstendorf eintrifft, wird er von Kindern freudig begrüsst und umringt. Duzende brauner Hände strecken sich ihm entgegen. Die großen, runden haselnussbraunen Augen strahlen und die Kinder kreischen durcheinander. Dieter winkt ihnen zu und geht zielstrebig zur Baustelle hinüber. Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel und den Männern läuft der Schweiß in Strömen über die nackten, schwarzen Oberkörper. Mit Pickel und Schaufel heben sie den Brunnen aus der staubtrocknen Erde, der Flusswasser filtern und so das Überleben sichern soll.
„Yusuf, wir machen Schluss für heute.“ ruft Dieter dem Vorarbeiter zu. Der somalische Arbeitstag beginnt früh morgens und endet meist am Mittag, wenn die Sonne am höchsten steht. Die Arbeiter bringen ihre Geräte zur Sammelstelle, wo einer der Guards darüber wacht. Dieters in bunten Stoff gehüllte Assistentin und Dolmetscherin, sitzt schon an ihrem kleinen Holztisch vor dem sich jetzt die müden Männer in einer Reihe aufstellen. Sie erhalten einen Lohn von 15 birr am Tag und eine Portion Mais für ihre Arbeit. Mais deshalb, weil das Geld oft für Kat ausgegeben wird. Die Somalier kauen die Blätter der Kat-Staude und trinken starken Tee dazu. So berauscht entfliehen sie der Not auf ihre Weise. Dieter steigt in den Brunnenschacht hinein und entnimmt eine Wasserprobe. Die Qualität muss immer wieder überprüft werden. Bisher hat das Wasser noch einen zu starken Salzgehalt. Deshalb müssen die Männer tiefer graben. Auch heute stellt er fest, dass es noch nicht ausreicht. Stirnrunzelnd geht er zu Yusuf hinüber. „Wir müssen auf 12 m gehen,“ sagt er zu seinem Vorarbeite, der seinen Unmut nicht verbergen kann. „Wie soll ich das meinen Leuten beibringen? Sie müssen einen Erfolg haben! Du hast gesagt, nur noch 2mal so viel! Jetzt ist immer noch nicht genug“ jammert Yusuf in seinem gebrochenen recht schlichten Englisch und fuchtelt dabei mit den Armen in der Luft herum. Dieter kennt das bereits. Er weiß, langes Lamentieren und ein Palaver wird folgen. Letztlich geht es um mehr Geld, um eine Gabe an die Ältesten des Dorfes, um das ein oder andere, weitere Geschenk, damit die Männer an ihrem eigenen Brunnen bauen. Erklärungen sind zwecklos. Was zählt schon ein Leben hier draußen? Die Ältesten wissen, dass der Helfer aus Deutschland viel Geld mitgebracht hat. Und sie leben mit der Gewissheit der westlichen „Geberländer“. Seit vielen Jahrzehnten kommen Weiße. Sie bauen Schulen, bauen Krankenhäuser, bauen Brücken, bauen Brunnen, zerstören, bauen auf, bringen Medikamente, verteilen Nahrung, zahlen für Unterkunft, zahlen für Arbeit, zahlen für Waffen, ja zahlen sogar für Frauen. Doch es gelten somalische Gesetze. Nichts geschieht ohne persönlichen Vorteil für den einzelnen. Je länger Yusuf auf Dieter einredet und jammert, um so düsterer wird Dieters Miene. Er lässt Yusuf stehen, steigt in seinen Jeep. „Morgen früh um 6.00 Uhr will ich alle Männer arbeiten sehen.“ und fährt in einer Staubwolke davon.
Es ist sehr schwer, sie zu überzeugen, dass all dies nur zu ihrem eigenen Besten geschieht. Oft ist dieses Gefühl der Hilflosigkeit übermächtig und deprimierend. Jeden Tag aufs neue heißt es, Nerven bewahren, auch wenn der Grossteil der Bevölkerung vom Internationalen Roten Kreuz mit Lebensmitteln versorgt wird und trotzdem zahlreiche Kinder sterben. Dieter fährt durch die Wüste. Dornenbüsche, trockene Gräser, Sand, Staub, Hitze. Er schluckt, seine Kehle ist so ausgedorrt wie die Landschaft, die ihn umgibt.
Sein Ziel ist das Hospital in Gode, das nächstgelegen Dorf mit rund 15.000 Bewohnern. Das völlig überbelegte Krankenhaus nimmt Patienten, meist Kleinkinder, die nahezu ausgetrocknet sind, auf. Sehr oft legen die Mütter weite Strecken zu Fuß durch die Wüste zurück, nehmen große Strapazen auf sich und kommen doch viel zu spät. Trotz sofortiger Hilfe durch die wenigen Ärzte und das überforderte Personal überleben die Kinder den nächsten Tag meist nicht mehr. Selbst im Innenhof des Hospitals sitzen Patienten. Die Zimmer sind restlos überbelegt. Sehr oft hat der Deutsche schon beobachten müssen, wie der Arzt einem Kind die Flüssigkeitszufuhr entfernt und der Mutter trostspendend die Hand drückt. Gleich hinter dem Hospital befindet sich ein Friedhof, auf dem täglich bis zu 8 Kinder begraben werden. Ja, es ist klar: ohne Wasser - kein Leben.
Dieter bleibt bis zum Abend. Er hofft auf einen ruhigen Moment des leitenden Arztes Mario, um mit ihm sprechen zu können. Der Mediziner kommt aus Italien und ist seit gut einem Jahr in Gode. Für Dieter bedeuten die Besuche im Hospital viel. Sie geben ihm neue Kraft, Mut und Antrieb, durchzuhalten. Auch für Mario sind die Gespräche wichtig. So schöpfen beide Helfer aus dem Erlebten des anderen. Doch Dieter wartet heute vergeblich. Der Arzt wird zur Behandlung einer Schußverletzung gerufen. Dieter verlässt das Hospital und fährt zurück nach Kalafo, wo er einen Compound mit weiteren, internationalen Helfern bewohnt.
Durch die Straßen fahren tagsüber Militärjeeps und quietschende Garis, die landesüblichen Pferdekarren. Mittags steigen die Temperaturen bis auf über 40 Grad Celsius. Doch auch jetzt am Abend hat es noch nicht abgekühlt. In seiner Behausung in einem kahlen, weiß getünchten Raum, liegt Dieter auf dem Bett und versucht sich auf sein Buch zu konzentrieren. Die Fenster sind weit geöffnet aber zum Schutz vor Eindringlingen vergittert. Draußen sind die Stimmen der afrikanischen Nacht zu hören. Ein paar meckernde Ziegen, das Wiehern der Kamele, zirpende Grillen und der monotone Somali-Sänger aus dem Radio im Haus gegenüber, lassen das Land nicht wirklich ruhen. Die Luft ist extrem schwül und stickig. Selbst der über seinem Bett kreisende Ventilator bringt kein bisschen Erfrischung. Ruhelos wälzt er sich hin und her. Doch plötzlich ist er hellwach. Ein donnerndes Grollen und ohrenbetäubendes Krachen lässt ihn aufschrecken. Draußen vernimmt er laute Stimmen. Blitzschnell springt er aus seinem Bett. Durch die immer wiederkehrenden Kämpfe zwischen den Clans ist Dieter zur sofortigen Flucht bereit. Er schnappt seinen gepackten Rucksack mit allen wichtigen Habseligkeiten. Aufgeregt trommelt jemand an seine Türe. „Degdeg! Tahktar! Degdeg!” Ali, der Sohn seiner Köchin, ruft und klopft erneute an die dünne Holztür. Die Menschen hier im Ort nennen ihn einfach „tahktar“. Das ist somalisch und bedeutet so viel wie „Doktor“. Natürlich ist er das nicht, aber ist das wirklich wichtig? Vieles wird hier einfach symbolisch oder bildhaft betrachtet. Dieter öffnet die Tür und Ali ist schon den Gang hinunter gelaufen. Als Dieter ins Freie tritt, sieht er die Menschen des Dorfs versammelt. Die Frauen in ihre bunten Tüchern, die Kinder in zerfetzten T-shirts und Schuhen aus alten Autoreifen und die Männer mit schmutzig-weißen Hemden und ausgebeulten und schmutzigen Tuchhosen. Die Ältesten, die Frauen der Ältesten und die Kinder und Kindeskinder, rufen und kreischen durcheinander. Dieter versteht den Aufruhr nicht. Keine Kampfhandlung. Keine Schüsse. Keine flüchtenden Menschen. Doch da hört er es. Das tiefe, dumpfe Grollen und ein heftiges Zucken am Himmel. Ein Gewitter. Dieter versteht jetzt auch, was die Menschen rufen: Dayr! Dayr! Dayr! Die Regenzeit ist da! Ali, der Sohn der Köchin, Yusuf, der Vorarbeiter, und all die anderen schreien, tanzen, singen. Dieter wird mitgerissen von der ausgelassenen Stimmung. Selbst als die schweren, dicken Regentropfen vom Himmel fallen, flüchten die Menschen nicht in ihre Häuser. Sie breiten die Arme aus, öffnen die Münder und spüren den Regen am ganzen Körper. Endlich, endlich ist er da, der langersehnte Regen. Ein Freudenfest von ungeheurer Gewalt bricht los. Die Feiern für die Ältesten. Nur sie alleine haben die Macht über die Sterne, die den Regen bringen. So ist und war es seit vielen Generationen: Alle Macht den Ältesten.