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Die Mahagonizwerge
Ich hatte mein Taschenmesser gut geschliffen. Das hundertundelfte ‚P‘ ließ sich ebenso leicht in einen Birkenstamm ritzen wie das erste. Mein Fußstapfen und die Abdrücke meiner Krücke auf dem feuchten Waldboden genügten mir nicht. Sie waren vergänglich. Doch sollte man sich viel später noch erinnern: »Durch diesen Wald ist Peter einst gegangen, der einfüßige Vagabund. Das wissen die Rinden der Bäume.«
Jedes Mal sollte man sich bewusst machen, wie Waldwanderungen die Seele erfrischen. Mache ich mir Sorgen – was nicht gerade oft geschieht –, dann weiß ich, wo ich sie loswerden kann. Andere tauchen ihre Probleme in den Wein, aber sie kommen immer wieder zur Oberfläche. Ich riet den Leuten unermüdlich: »Tragt eure Sorgen zu den Krähen, die sie mit in den Tod nehmen«. Sie tippten sich stets an die Stirn. So gab ich es irgendwann auf. Viel Geduld habe ich nicht. Sollen sie doch in rauchige Kneipen flüchten, ich gehe in den Wald. Übrigens log ich, das sind gar nicht die Krähen. Ich sehe selten welche im Wald. Es ist vielmehr die Musik, das Gezwitscher der Vögel, das Geraschel des Reisigs, der Duft dazu, worin alle Leiden verschwinden. Doch halsen sich die Leute lieber Aberglauben auf.
Denn um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, brauchten sie schon ein bisschen Mut.
»Herrgott, was machen Sie denn da!«, rief jemand.
Es war der Förster, der, zwischen den Bäumen stehend, einen Detektor in jede Himmelsrichtung streckte. Unauffällig ließ ich mein Messer in die Tasche gleiten und lächelte.
»Nichts. Was sollte ich schon machen – durch Ihren schönen Wald wandern?«
Das war eine überaus kindische Lüge. Aber der Förster war wieder mit seinem fiependen Gerät beschäftigt. In seinem Gesicht lag schwere Besorgnis.
»Was suchen Sie?«, fragte ich.
»Wild. In letzter Zeit hat mein Bestand dramatisch abgenommen. Orten kann ich im ganzen Wald nur noch fünf bis sechs Rehe und Hirsche.«
Das tat mir natürlich leid. Zu einem richtigen Wald gehört eben Hufwild genauso wie die Schale zum Ei. Ich konnte ihm leider nicht helfen, so machte ich mich verlegen davon.
Vor mir stand, so hoch, dass ich die Krone kaum ausmachen konnte, eine mächtige Eiche. Ihren Stamm vermochten drei Mann nicht zu umspannen. Er war innen hohl und bot eine Öffnung, die wie eine kleine Tür geformt war. Ganz einladend, vielleicht wohnte hier ja eine kleine Waldelfe. Schon hatte ich meine drei Wünsche zurecht gelegt: Einen neuen Wanderschuh, eine dicke Lederjacke gegen den nahenden Herbst, und zehn Taler für die Einkehr ins nächste Wirtshaus.
Bei einem näheren Blick zweifelte ich jedoch, ob da drinnen wirklich jemand hauste. Gleichwohl hatte dieser Ort etwas sehr Befremdliches. Dafür bin ich gern zu haben, wo sich doch mein früherer Lesespaß auf Märchen beschränkte.
Ich betrat den Höhlenraum und erschrak. Unter meinem Fuß hatte es geknarrt, als stünde ich auf Holzdielen. Es handelte sich um eine Falltür, doch das wusste ich erst mit Sicherheit, als mein Schicksal schon besiegelt war.
Hunderttausend steinerne Treppenstufen bissen mich ins Kreuz, schlugen mir den Schädel ein und schabten mir die Haut vom Fleische. Ich Dummkopf! Warum musste ich auch hüpfen, um die Verlässlichkeit der Falle zu prüfen. Jedenfalls hatte sie ihren Zweck erfüllt. Endlich fiel ich auf einen Absatz und kam dort zur Ruh.
Es war gar nicht sicher, ob ich immer noch lebte, oder »wiederauferstanden« war. Doch ließen die Schmerzen allmählich nach und meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Dabei war ich nicht arg tief gefallen. Nach oben zählte ich acht Fackeln an den Wänden, nach unten hin nicht weniger als zwei Dutzend, wobei die entferntesten, kaum größer als ein Punkt, nur noch mit Mühe zu erkennen waren.
Dann kam von unten her ein greller Schein. Eine kleine, gedrungene Silhouette hatte die Tür geöffnet. Dann herrschte wieder kärglich erleuchtete Finsternis. Flinke Schritte und unverständliches Gebrabbel näherten sich.
»Ei shaygú?«
»He?«
»Ei shaygú, hai?!«
»Tut mir leid, ich verstehe Sie nicht.«
In Märchen kamen zwar auch Ungeheuer vor, aber diese sprachen wenigstens meine Sprache.
Die Brummstimme fuhr daraufhin eine ganze Palette fremder Laute und Worte auf. Sie zischte, spuckte und fauchte, dass meine Ohrläppchen zitterten. Er musste erkannt haben, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Eine Schweißperle auf meiner Stirn widmete ich dem Gedanken, als Beute in ihrem Topf zu landen.
Er nahm mich bei der Hand, die sich merkwürdig hölzern anfühlte, half mir auf die Beine und zog mich hinter sich her, treppabwärts.
Die Tür wurde geöffnet. Ein Schwarm Stimmen drang an mein Ohr. Der Geruch gebratenen Fleisches kroch in meine Nase. Aber ich blinzelte. Glotzte dann. Die Kreaturen vor mir auch. Zwerge! Aber nicht etwa von der Art, wie man sie kannte, mit einer Zipfelmütze auf dem Kopf, sondern stattdessen mit einer vollblättrigen, stammlosen Baumkrone, deren Wurzel sich an ihre Schädel klammerte. Überhaupt schienen sie ganz und gar aus dunklem Holz zu bestehen, welches jedoch genauso biegsam und lebendig war wie Menschenhaut.
Jener Baumzwerg, der mich hierher geführt hatte, hieß schroff einen anderen: »Túnit eaj qoróima, anáqh!«
Der sehr viel ältere Zwerg murrte und setzte sich unwillig in Trab. Hinter der Tür brachte er ein Werkzeugköfferchen zum Vorschein. Sodann stapfte er hinauf.
Mit dem Zeigefinger lockte er noch einen herbei, der mir jünger schien, fast noch jugendlich. Er ahnte wohl seine Aufgabe –
»Gúten Daaqh!« sagte dieser und streckte mir seine Hand entgegen. Ich erwiderte.
Er unterschied sich von den anderen durch die vereinzelten dunkelblonden Haarsträhnen, welche sich ihren Weg durchs Wurzelwerk bahnten.
»Ehze tûmni zag jéblodh!«, riefen sie ihm zu.
»Was ist dáin Name?«, fragte er.
»Peter. Nennt mich einfach Peter. Meinen Nachnamen weiß ich selbst nicht mehr.« Meine Stimme zitterte wie eine Kaulquappe.
»... bhe tûmni zans ejb-táuwa galh!« Sie stellten ihre Fragen an ihn und er übersetzte sie mir. Er war der einzige, der Deutsch konnte. Ihr Glück, mein Glück.
»Was ist mit dáin óne-Fus, mit dáin – ?«
»Mit meinem Stumpf? Ehm, das war ein Unfall mit einer fallenden Kreissäge – ... ein Zeugnis jugendlicher Unvorsichtigkeit.«
Man staunte und raunte einander Geheimnisse ins Ohr.
»Bhe tûmni ... –«
»Póu! Póu! Vûkhuta máth‘e!«, gellte es von weiter hinten. Dort stand wohlbeleibt ein anderer Zwerg und klatschte in die Hände. Alles wandte sich von mir ab und strömte in einen schwarzen Tunnel. Wie groß war nur die Höhle?
»Eaj nâtj. Komm, es gibt Essen«, sagte der junge Zwerg. Wir bildeten die Nachhut des Hungrigen-Zuges. Die Zwerge machten auf mich einen sehr freundlichen Eindruck und so brauchte ich wohl nicht befürchten, für eine gute Mahlzeit das Leben zu lassen. Im Gegenteil, es könnte alles ganz interessant werden.
Mein Magen meldete sich tatsächlich zu Wort. Das Buffet war eben nicht gleich nebenan, wie ich zuerst glaubte.
Welch dummes Gesicht würde der Förster machen, säh‘ er dies. Auf einem großen ovalen Mahagoni-Tisch, der mindestens fünfzig Mahagoni-Zwergen Platz bot, lag ein saftig gebratener Hirsch auf einem Bett aus Ananasscheiben und Sauerampfer. Ich betrachtete es als Zeichen der Höflichkeit, mich als Letzter zu setzen, aber da griff mich schon ein Zwergenweib beim Arm und wies mir unmissverständlich einen Platz zu.
Es war ganz gut, dass sich der Sprachgenosse an meine Seite gesellte, denn so bestand Aussicht auf ein lehrreiches Pläuschchen. Als jemand das Nöhlen der Kleineren niedermahnte, sagte er zum Beispiel: »Sie muégen dieses Fláisch nicht. Sind an Känguruhs gewähnt.«
»Känguruhs? Aber die gibt es doch nur in Australien!?«
»Aus Austrálien. Daher kommen wir auch. Als der verruckte Zauberer sich in sáin Búkh verirrte und wirns versehentlich nach Oiropa verhexte, hatte er láider nicht an Vorrát gedacht.«
Oh. Diese Zwerge wurden aus den australischen Wäldern hierher gezaubert. Irr-tüm-lich! Wenn das mein Onkel wüsste, der war nämlich Journalist mit großem Elan ...
»Hier scheint sich niemand um eine geordnete Vorstellung zu kümmern«, bemerkte ich leise.
»Auch wenn du mit uns zu Abend issd, bist du noch frend. Ein Gast, der die geheimen Námen nicht wissan muss.«
Die Gnomin von eben legte mir ein Stück von der Schulter auf den Teller, tat etwas Sauerampfer, Sellerie und Brot hinzu und watschelte weiter.
»Soso, hm. Aber deinen Namen kannst du mir doch verraten, oder?«
»Ich bin Vîmn Gávipel«, antwortete er.
»Aber mit diesem Namen bist du nicht geboren, nicht wahr?«
Er schien meine Anspielungen sehr gut zu verstehen, was seine Miene jedoch verschweigen wollte. Nach einer Weile, während der ich genüsslich von meinem Stück Fleisch abbiss (die kichernden Kleinen mir gegenüber drehten sich angeekelt um), holte er tief Luft und sagte:
»Nein, du hast Recht. Aber lass uns meinen richtigen Námen vergessen. Seit vier Jahren gehére ich zu den Mahagoniern. Siehst du die Stoppeln auf meinem Kopf? Langsam machen sie mich zu einem von ihnen. Mit Teebaumöl. Ihr dort oben habt doch nur Prügel und Knete im Sinn, das richtige Leben ist euch fremd.« Und dann sagte er noch fast zornig, als ob ich nur gekommen wäre, um ihn zurück zu holen: »Ich fühle mich hier wohler, tut mir leid!«
Bis zum Ende der Mahlzeit gingen wir dem Schweigen nach. Genauso still, wie die anderen unsere leise Unterhaltung hingenommen haben, befreiten wir Bissen für Bissen die Knochen vom Fleisch. Überraschenderweise rieben wir schließlich als gleichzeitig unsere satten Bäuche.
Die Zwerge hatten auch einen Alten, sowas wie einen Stammvater, der sich nun erhob und zu einer Rede Luft holte. Vîmn dolmetschte mir: »Ich begruüße im Namen von allen unseren Gast, Peter. Es geschah durch Zufall, dass er zu uns gestoßen ist. Aber es würde meinem Stamm sehr helfen, wenn er ein Weilchen bei uns bleibt und sich als Vermittler zwischen uns und den europäischen Menschen versucht. Wir bieten an, dass ihm Éia Rávuk, der Zwerge Zaubermeister, einen zweiten Fuß ansetzt – als kleines Willkommensgeschenk sozusagen.«
Es war nun nicht so, dass sie meine Zustimmung erwarteten. Schweigend wurde ich in ein anderes Zimmer geführt. Dort fierte ich abermals meinen Unterkiefer ab. Dass das Holz Borsten hatte wie ein Teppich, verwunderte mich nicht so sehr wie das Plateau, das in der Mitte des Raumes an der Decke hing und etwa einen Fingerbreit über dem Boden schwebte. Darauf stand ein Fass, worin ein Zwergenmännchen mit geschlossenen Augen hockte und sang. Aus der Tonne quoll schwerer Dampf heraus, und unter dem Plateau züngelten türkisfarbene Flammen empor. Der Kopf des Zwergs war nicht einfach grünbelaubt wie die der anderen. Seine Blätter schillerten metallisch in gelb, rot, grün, blau und seifenblasenbunt. Doch sein Körper wurde nach unten hin, zum nietenbeschlagenen Rand des Fasses, immer durchsichtiger, unwirklicher.
»Ehzin zans táuwa q‘ûmope, Eia Rávuk!«, sagte einer der vorderen.
Der Zwerg im Nebelbad schaute wie erschrocken zu uns auf, fluchte etwas in seinen Bart, hüpfte sodann aus der Tonne heraus und trat in voller Montur vor uns. Mir wurde flau im Magen. Beinahe unsanft schob man mich zu ihm hin. Der Zauberer hieß mich auf einer Pritsche in der Ecke des Raumes Platz nehmen, und schlug ein großes, angestaubtes Buch auf.
»Wollen doch mal sehen, was sich da machen lässt«, sagte er, ohne den Mund zu öffnen. Davon hatte ich schon immer geträumt, einfach – fernab aller Sprachbarrieren – meine Gedanken zu übertragen. Ich hörte hier etwas, was wohl niemand anders im Raum vernahm.
Er fegte regelrecht durch die Seiten, bis er die richtige Stelle gefunden hatte. Dann sog er viel Luft in sich hinein und sprach mit großer Feierlichkeit:
»Aréhit oghù pom inge pan. Lias táuwa-bel aréhinda oghù pom inge pan, qoróimene.«
Dies wollte er mich offenbar nicht verstehen lassen.
Ein tiefes, gleichmäßiges Donnergrollen machte sich im Raume breit. Trotz seiner Tiefe, das wusste ich plötzlich, würden niemals die vielen Gläser und Bottiche erzittern, welche die Regale zierten. Hören konnte nur ich es. Mein ganz persönliches Donnergrollen. Das beruhigte mich auf eigenartige Weise.
Doch der Donner wurde lauter und lauter. Ekel fühlte ich langsam in mir aufsteigen wie Faulgas im Morast. Aus meinem Stumpf quoll eine Tausendarmee giftgrüner Ameisen und umschwärmte diesen mit atemberaubender Geschwindigkeit, erfüllte ihn mit heißem Kribbeln. Um mich herum wütete bald ein Donnersturm, durch welchen ich nur noch den summenden Chor hören konnte; lauter und schneller rief man: »Oghù pom inge pan!«, »Oghù pom inge pan!«. Durch den Schwarm konnte ich schemenhaft meinen neuen Fuß erkennen, aber jetzt wollte ich diesem walpurgischen Wahnsinn nur noch entfliehen. Aber dann ...
»Oghù pom – Aréhun!« Ein dumpfer Paukenschlag und Stille.
Inzwischen war ich wohl bewusstlos geworden, da ich in einem ganz anderen Zimmer erwachte. Man reichte mir einen Krug Wasser. Während ich ihn in eiligen Zügen leerte, schielte ich zu meinem neuen Fuß. Selbstverständlich war er aus Mahagoni, fortan nenne man mich Pinocchio! Sollte ich mich ärgern oder darüber freuen? Immerhin war ich bisher ganz gut mit nur einem Fuß ausgekommen. Aber ich nahm mir vor, dankbar zu sein.
»Habt vielen Dank!«, sagte ich und bekam eine wegwerfende Geste zur Antwort.
»Zaubern wäre ja nicht schwer«, verriet mir Vîmn später.
»Was bedeutet eigentlich dein Name, wenn er denn überhaupt etwas heißt?«
»Natürlich heißt er was!«, empörte er sich. »Ich bin ‚der Einzige Gávipús‘. Gávipú ist diese etwas dicke Frau mit dem Zweigloch am Kinn. Sie hat mir einmal gesagt, sie könne leider keine eigenen Kinder bekommen, weshalb sie sich meiner angenommen habe.«
Es dauerte eine Stunde, bis ich wieder ganz bei Kraft und Sinnen war. Als ich aufstand, war es schon ein gutes Gefühl. Den neuen Fuß nahm ich genauso wahr wie den, der schmerzhaft der Säge zum Opfer gefallen war.
Vîmn erschien abermals in der Tür, jetzt mit einem ganz kleinen Zwerg auf dem Arm, und amüsierte sich über meine zweibeinigen Gehversuche.
»Komm«, ereiferte er sich, »Ich muss auf die Kleine hier aufpassen. Lass uns ins Theater gehen.«
»Ins Theater? Keine Angst vor den Journalisten? Die werden dich auspressen wie einen Schwamm.«
»Nein, nein. Theater heißt bei uns der untere Aufenthaltsraum, der kaum mehr genutzt wird, er wird seit längerem nämlich vom Zauberer beansprucht. Er vertraut mir, und so habe ich den Schlüssel.«
‚Unten‘ hieß bei den Mahagonizwergen wohl irgendwo neben dem Erdkern. Was mich in dieser Vermutung bestätigte, war die dort herrschende Hitze. Außerdem hatte ich schon wieder Magenknurren, als wir da ankamen.
Der Raum schien tatsächlich zu einem Theater zu gehören. Alles war vollgestellt mit Requisiten, Kostümen und anderem Gerümpel, und wir gingen im Storchenschritt durch den Raum.
»Müsste mal wieder unseren werten Herrn Intendanten besuchen«, kicherte ich.
»Das wirst du nicht tun!«, funkelte mich Gávipel an.
Wir setzten uns mit der Kleinen in eine Ecke, und Vîmn Gávipel klaubte ein paar Spielsachen herbei, die ihr sichtlich Freude bereiteten. Die Babies der Mahagonizwerge waren natürlich sehr viel kleiner als die unseren, meine Hand könnte ihnen durchaus als Wiege dienen. Von ihrem Kopf standen rechts und links zwei einblätterige Ästelchen ab, die federnd dessen Bewegungen folgten.
Vîmn hatte wohl auch sein Spielzeug. Er hielt einen scharfkantigen, metallisch glänzenden Handwürfel in der Hand und betrachtete seit einiger Zeit nur eine bestimmte Seite.
»Diese Seite ist neu. Ich kenne sie noch nicht.«
Gespenstische Stille. Nur das Baby plappert.
Ich setzte mich zu ihm. »Darf ich mal sehen?«
Die Seite stellte sowas wie ein Symbol dar. Ein kleines, in eine Ebene eingesenktes ‚v‘ mit einem schwarzen Punkt obendrauf.
»Der Zauberer sagte mir einmal, dass der Würfel Neues zeigt, wenn ein wichtiges Ereignis bevorsteht. Erst sehr abstrakt, aber dann, wenn alles vorbei ist, ein richtiges Relief.«
Die anderen Seiten stellten tatsächlich Bilder dar, allerdings konnte ich mir zu ihrem Inhalt keinen Reim bilden. Es war müßig, mich zu erkundigen. Ich verspürte gerade keine Lust, von verlorenen Mythen, Helden und Legenden, in aller Fülle ausgebreitet, erschlagen zu werden.
»Übrigens kann der Würfel sprechen. Zu einem Bild kann er dir eine ganze Geschichte erzählen, auch kann man einen Einblick in die Zukunft erhaschen. Du brauchst nur mit der Handfläche über die gewünschte Seite zu reiben und ihn in die Luft setzen, wo er schweben und sprechen wird. Je mehr du die Seite erhitzt, desto ausführlicher. Das heißt: Wenn du es dürftest. Niemand vom Stamm der Mahagonier hat die Erlaubnis, ihn zu berühren, außer ich, der Gehilfe des Zauberers. Reden lassen darf aber auch ich ihn nicht.«
Nachdenklich betrachtete Vîmn den Würfel. Plötzlich schaute er nach drüben zur Tür. Seine Miene verriet Hadern, den ewigen Kampf zwischen dem Trieb und dem Gewissen. Sein Trieb war die Neugier, die auch mich zu plagen begann: Was steckte hinter diesem Symbol?
»Nichts will ich«, sagte er im Flüsterton, »außer ihn einmal sprechen hören. Einmal in die Zukunft sehen, nichts weiter. Aber ich mag mir die Strafe nicht vorstellen, wenn mich Eia Rávuk ertappt. Übrigens ... eigentlich hat er mir ausdrücklich verboten, diesen Würfel je einem Menschen zu zeigen.«
»Was soll er schon groß tun? Als ich noch klein war und in meiner Neugier von einem Fettnäpfchen ins nächste trat, haben die Erwachsenen immer nur gelacht und mich gehätschelt. Außerdem: Wenn es ein so gravierender Fehler wäre, würden sie kaum einen Menschen wie dich schon soviel anvertrauen. Wenn der Éia Rávuk dir etwas tut, kann er sich mit einer Männerfaust verabreden!«
»Hehe, na dein Wort in Holz geschnitzt... Das Vertrauen wird so und so dahin sein. Nein, ich mache es nicht! Es ist zu gefährlich.«
Das träumtest du so. Während du das sagtest, hatte deine Hand, ob du nun wolltest oder nicht, schon die neue Seite des Würfels liebkost. Sie haftete ihm förmlich an; es schien, als hättet ihr beide einen Kampf geführt. Du hast jedenfalls verloren.
Dann ließ er den Würfel los, der fiel, aber nur ein kleines Stück. Er hielt sich tatsächlich in der Luft und begann, sich langsam um seine Achse zu drehen. Vîmn lächelte; seine Augen leuchteten auf. Er lauschte wohl der Stimme des Würfels, doch ich hörte nur ein sehr leises Singsang von ihm ausgehen. Er lächelte nicht lange, sondern zog die Stirn kraus, als ob er nicht verstünde, was der Würfel sprach. Vîmn seufzte, während das Ding müde seine Rede fortsetzte.
Der Zauberer war da. Der Würfel weg. Vîmn stand wie versteinert da, seine Lippe zitterte. Er sprang auf und ging rückwärts zur Wand, während der Hexer ihm lauernd entgegen schlurfte.
»Weshalb bist du hier unten?«, fragte er Vîmn. Ich verstand ihn zwar, erkannte aber sehr gut, dass er doch nur Schabernack mit mir trieb. Ich sollte ihn verstehen.
Ich war mir bei der Antwort Vîmns nicht sicher: War es »Weil ich auf Lipûndu aufpassen musste«? Oder eher: »Entschuldigt Meister, ich war der Neugier erlegen und hörte Eurem Schicksalswürfel zu. Eine Seite ist neu«? Ich wusste nicht einmal, ob ich beides zugleich hörte oder nur eine Mischung aus beidem. Und so zitterte auch ich. So wie die beiden Zwerge da standen, die Tatsache, dass sie sich – zumindest für meine Ohren – meiner Sprache bedienten, oder dass der Säugling weder der Situation noch seinem Spielzeug Achtung schenkte, sondern mich mit seinen schwarzen Augen unverwandt anfunkelte, all diese Umstände jagten mir plötzlich Angst ein.
»Söhnchen, jetzt da du, wie vorausgesagt, einen Schritt zu weit gegangen bist, wisse eines«, rief der Zauberer und ließ seine Blätter auf dem Kopfe rascheln. »Der Würfel unserer Geschichte weiß um deine unersättliche Neugier. Er kennt dich. Freilich, ja! hat er nur sechs Seiten. Doch das ist Schein. In Wahrheit enthält er viele, mir scheint unendlich viele – nenne mir nur ein Volk auf der Welt, dessen Geschichte nicht mehr als sechs Seiten hat.«
Der Zauberer stand nun dicht vor Vîmn. In solchen Gegebenheiten war es in den Märchen Gang und Gäbe, dass der Bedrängte klein wird, wurmklein, während sich sein Peiniger auf die doppelte Größe aufplustert. Bei den Mahagonis gab es hier eine interessante Besonderheit: Zwar wird Vîmn zu einem kleinen Nichts unter der Gewalt des Magiers. Aber dem Zauberer hätte ich nach wie vor auf den Kopf spucken können. Doch eben dieser, sein Kopf, wurde groß und kugelrund, wie der Mond, der Wächter der Nacht. In Nächten, denen ich mit Fußmeilen konterte, fühlte ich mich oft vom Mond beobachtet, und ich wurde nervös. »Den Würfel darf kein Mensch sehen, da er ihn mit seinem gierigen Blick in seinem Inneren zerstören würde. Doch wir brauchen ihn, denn er ist unser Geheimnis, und sein Geheimnis sind wir. Wird dieser Geheimnisbund gebrochen, ist dies ein großer Fehler. Du jedoch hast deine Schutzpflicht vernachlässigt, und nun ist, durch dich, durch di allei unse Verahenheit un unee Uunf ahin ...«
Der Zauberer sprach immer undeutlicher, während sich seine Gesichtzüge aufzulösen schienen, wie auch der Rest seines Körpers die Konturen verlor. Aber nicht nur der Zauberer zerging wie ein Stück Käse in der Nachmittagssonne. Das ganze Volk, welches sich zwischenzeitlich in diesem Raum versammelt hatte, verschwand mehr und mehr im Nirgendwo.
Ich war schließlich mit meiner Angst allein in dieser nun dunklen Höhle. Hörte keinen Laut, nicht einmal das Tropfen von Grundwasser. Wie Moor kroch die Stille durch meine Gehörgänge. Humpelte vorsichtig in der Dunkelheit herum, denn mein neues Bein war ich wieder los. In meiner Hand fühlte ich plötzlich eine Form aus Pappe. Es war eine Streichholzschachtel; eilig zog ich sie auf, entnahm ein Hölzchen und rieb es an der Seite entlang. Ein Funke – der Raum wurde hell, und ich sah mich an einer ebenen, anthrazitgrauen Wand stehen, die sich in der Dunkelheit verlor. Ich lief an ihr entlang, aber sie wollte kein Ende nehmen. Mein Streichholz erlosch. Ich entzündete ein neues und schickte mich an, einfach weiter zu gehen (irgendwann würde ich zumindest einen Lichtschalter finden), aber dann sah ich plötzlich einen schwarzen Punkt in der Wand – der sich als Loch erwies, und ich sah hinein. Ein kleines grünes Licht, irgendwo darin. Es wurde größer. Und größer. Fasziniert schaute ich es an, es pulsierte und war heiß, das spürte ich am Auge. Es begann zu schmerzen, und ich sah weg.
Es war ein großer Schwarm Glühwürmchen, der aus diesem Loch in den dunklen Raum hineinschoss. Ich humpelte dem Haufen hinterher, hörte es lieblich aus tausenden von Stimmchen wispern und flüstern, kam aber nicht nach, und er entfernte sich. Wie groß musste dieser Raum sein? Und keinerlei Echo, die Stille wurde schier unerträglich. Ich versuchte mich zu beeilen, denn der Schwarm war entfernt vor mir anscheinend zur Ruhe gekommen und erhellte etwas, was ich noch nicht erkennen konnte. Mühsam hüpfte ich mit schlechten Einbeinsprüngen voran.
Ein Schreibtisch. Er bestand aus Mahagoniholz, vielleicht war er das einzige Überbleibsel des Zwergenvolkes? Über dem Tisch bildete der Glühwürmchenschwarm eine Lampe, aber die Tierchen waren nicht mehr einzeln auszumachen, hatten sich vielmehr zu einer unermüdlich flüsternden, wispernden Masse verschmolzen. Um den Tisch herum türmten sich haushoch Stapel von Papier. Neben dem Schreibtisch stand ein Fass auf dem Steinboden, auf dem Schreibtisch lag eine Feder und ein Blatt Papier, das schon mit Buchstaben beschrieben war. Ich erschrak – die Buchstaben zitterten, kaum sichtbar, aber dennoch schauerte mir. Mühselig las ich laut vor mich hin:
»Mein Retter (hoff... hoffentlich), du be... bist im Würfel ange...kommen. Die ...Menschen ... sind – zu – unkreativ, ...ich bitte dich, Mahagonizwerge, tse! Wie oft habe ... ich schon von Maha... Mahagonizwergen gelesen in diesen drei... dreiein...halb Millllioonen Jahren! Schreeeiiib maal was O...Originelles.
In diiieesem Saaal giiebt es geeenug fffrischsche Luft. Schreib mir ... schreib mir eine Geschichte, ers...sinn mir eine neue, andere Welt.
Bitte, beeiil dich. Der Trick, sich frei... freizauubern zu lassen, isst jetzt übriiigens bekannt!«