Die Mahlzeit
Freitag Abend, schöne Zeit. Endlich ist es wieder so weit. Feierabend. Während der Woche wurde ordentlich geschafft. So manches wurde geregelt, so einiges in die Wege geleitet. Aber nun ist es Zeit, sich die wohlverdienten Brötchen schmecken zu lassen. Mit Butter, wenn es geht.
So ungefähr durfte Otto Birkenhauer an diesen für ihn so verhängnisvollen Freitag Abend gedacht haben. Er war sechsundfünfzig, schwäbischer Landsmann und hatte durchaus ein Herz für Tiere. Ein einfacher Mann, der seine Pflicht schon seit Jahren in dem Amt für Lebensmittelkontrolle tat, und als solcher sein eigenes Schicksal nicht vorsehen konnte. Denn er war, wie gesagt, ein einfacher Mann und kein Gott.
So beeilte er sich nach Kräften seine Bahn zu erwischen. Er polterte die Treppe zum Bahnsteig hoch, durchbrach mit Unbehagen die Reihen lärmender Schulkinder und ließ sich , von so vielen Sportivitäten keuchend, auf seinen angestammten Platz im Wagon nieder. Die Linie Sechs brachte ihn zuverlässig in ein ansehnlich begrüntes Stadtteil, wo er in einem Reihenhaus eine Zweizimmerwohnung bezog. Zufrieden vor sich hin brummend ging er Heim, dem Wochenende entgegen. Leider war die Woche nicht das einzige, was an den Tag ein Ende finden sollte.
Im Treppenhaus vernahm Herr Birkenhauer etwas, was ihm ein ehrlich gemeintes, wonniges „Mmmmm“ entlockte. Es war der Geruch einer außergewöhnlichen Mahlzeit. Köstlich, deftig und delikat zugleich, schwebte dieser Duft im Raum und machte Appetit auf mehr. Auf viel mehr. Er war fast greifbar und so lecker, dass man sich am liebsten sofort eine dicke Scheibe davon abgeschnitten und auf dem Teller gelegt hätte. Mit ölig glänzenden Augen stieg Otto die Treppe hinauf. Es war ein langer Weg bis in den dritten Stock. Als er in der Mitte des Aufstiegs angelangt war, spürte er einen schmerzhaften Stich in der linken Brusthälfte. Das war sein Herz, das ihn wieder mal ermahnte.
Vor seiner Haustür verstärkte sich der Geruch zusehends. Es schien, als würde das köstliche Versprechen, das er im Treppenhaus vernahm, unmittelbar ihm gelten und gleich eingelöst werden. Frohen Mutes durchschritt Herr Birkenhauer die Pforte.
Die Wohnung selbst überraschte ihn mit einer ungewöhnlich angespannter Stille. Aber vollkommen still war es doch nicht. Undeutlich und leise, fast an der Grenze der des menschlichen Gehörs, konnte man einige unappetitliche Laute ausmachen. Etwas wie schmatzen und irgendwelche Geräusche, die meistens die Verdauung begleiten. Otto wurde auf einmal kalt ums Herz. Dann erschien Caroline, seine Cousine zweiten Grades, im Flur. Sie lebten zusammen in der Wohnung, aber ihre nicht immer eindeutige Beziehung ist hierbei von keinerlei Bedeutung . Sie war fürchterlich blass und mit einer Suppenkelle bewaffnet. Ihr Kinn zitterte.
„ Meine Güte, Caro, wie siehst du denn aus? Was ist geschehen?“, fragte Otto und dämpfte dabei unfreiwillig seine Stimme, wie man es für gewöhnlich angesichts eines großen Unglücks tut.„ Ich... ich kann nicht“, schluchzte sie, „ es ist so...widerlich, so...“ Sie begann wieder zu schluchzen und Otto tätschelte tröstend ihre Schulter. „Es wird schon wieder, ich kümmere mich darum. Nun hör` doch auf zu weinen, ist ja gut. Wo liegt denn das Problem?“Wortlos deutete sie mit der Suppenkelle in Richtung Wohnzimmer.
An der Türschwelle zum Wohnzimmer blieb Otto Birkenhauer wie angewurzelt stehen. Der Anblick, der sich ihn da bot, war in der Tat nur schwer verdaulich. Das ganze Zimmer war von einer Horde kleiner, hässlicher Wichte bevölkert. Man sah flache, breite Köpfe, gelbe Schlitzaugen, dicke, faltige Bäuche und spindeldünne Ärmchen und Beinchen mit jeweils drei Fingern, die mit Saugnäpfen versehen waren. Die Kniegelenke der kleinen Scheusale zeigten nach Hinten, wie bei den Heuschrecken, was deren Bewegungen etwas groteskes und höchst unanständiges verlieh. Dieser Eindruck wurde durch die riesigen Genitalien der Wesen, die man, egal wie man sich auch bemühte, nicht übersehen konnte, noch verstärkt. Einige der Wichte krabbelten eidechsenartig an den Wänden und an der Decke herum, aber der größte Teil von ihnen hat sich um die Sitzecke versammelt. Sie rissen daraus Brocken, und fraßen sie auf. Daneben lagen die Reste des Journaltischchens, der schon aufgezehrt wurde.
Obwohl er vor Entsetzen ganz starr wurde, brachte Herr Birkenhauer so viel Mut auf, um sich zu räuspern. Sein Verstand und seine Sitzecke standen auf dem Spiel, so zwang er sich, wie ein Mann, Maßnahmen zu ergreifen. Und das blieb nicht ohne Folgen. Ein größeres Männchen watschelte auf ihn zu, nahm Haltung an und brach in einem Schwall fiepender und grunzender Geräusche aus. Anschließend machte er eine Bewegung, die vermutlich so etwas wie eine Verbeugung sein sollte und begab sich wieder zu der Sitzecke zurück, zufrieden, wie jemand der getan hätte, was sich gehört. Otto rührte sich nicht von der Stelle, diese abartige Höflichkeit hat ihn vollständig vernichtet. Ein leiser, hysterischer Aufschrei ertönte hinter seinem Rücken. Das war Caroline, die über seine Schulter in das Zimmer lugte, und die Szene mit angesehen hat. Ihr Gefühlsausbruch blieb von den Wichten auch nicht unbeachtet. Eines der Weibchen lief an der Wand entlang zu ihr und berührte mit ihren Saugnäpfen Carolines Wange in einer Geste wahren Mitgefühls. Das war zu vie für die arme Frau. Sie wich entsetzt zurück, rutschte aber dabei unglücklich auf einem Vorleger aus. Sie stürzte und stand nicht mehr auf. Abwesend betrachtete Otto, wie sich um ihren Kopf rasch eine Blutlache bildete. Als ihn klar wurde, was geschehen war, rannte er weg, so schnell es ging. Er sehnte sich nach einem stillen Ort, wo er wieder er selbst sein konnte und wo kein absurdes Grauen jemals Zutritt erhalten würde. Dort angekommen, verriegelte er die Tür und drehte den Wasserhahn auf, um sich zu erfrischen . Doch aus dem Hahn kam kein Wasser, sondern eine zähe Flüssigkeit, die am meisten dem Käse ähnelte. Doch er bemerkte das in seiner Aufregung nicht und rieb sich damit ein. Die Flüssigkeit verklebte sein Gesicht, er konnte nicht mehr atmen. Panik ergriff ihn, er brach die Tür auf und fiel hinaus in den Flur.
Das letzte was er fühlte, waren weiche Lippen, die zärtlich sein Ohr anknabberten