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Die Maus im Eis

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10.04.2006
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Die Maus im Eis

© Spalatus

Er war wie immer in seiner Station herumgelaufen, um sich ein wenig Frischluft und Bewegung zu verschaffen. Colin war Wissenschaftler und betrachtete das Leben auf wissenschaftliche Weise. Aber trotzdem durchflutete ihn bei seinen Spaziergängen durch das arktische Eis ein Gefühl der völligen Verbundenheit mit seiner natürlichen Umwelt. Er war als Wissenschaftler in einer Wetterstation in der Arktis beschäftigt. Manchmal kamen andere Forscher und Piloten. Aber sie blieben meist nur ein paar Wochen und verschwanden dann wieder. Nur er hielt es länger aus. Doch er war an sich nie lange richtig allein gewesen. Die Anderen kamen und gingen wieder so rasch, dass er sich nur selten an ihre Namen erinnern konnte. Der einzige ständige Gefährte, den er hatte, war eine kleine Maus. Nie hätte er gedacht, dass sie eines Tages für ihn wichtig werden könnte. Denn er mochte keine Tiere. Sie waren für ihn - ebenso wie Kinder- Wesen, mit denen er nichts anfangen konnte. Er glaubte, er könne keine tiefen Beziehungen zu ihnen herstellen, was er aber auch noch nie ernsthaft versucht hatte. So war diese kleine Maus für ihn nur irgendein Bestandteil dieser Station, in die er sich geflüchtet hatte.
Gegen Mittag ging er wieder zurück ins Hauptgebäude, um etwas zu essen und um die eingegangenen Funksprüche zu sichten. Aber es gab keine Funksprüche. Er glaubte, die Geräte seien ausgefallen oder hätten eine Störung. Es war nichts zu hören als das Pfeifen und Brausen des Windes, der um die Station strich wie ein einsamer Wolf des Nordens – ja, und das Piepsen der kleinen Maus. Er war sich nicht sicher, ob ihn das nun beunruhigte oder nicht. So entschloß er sich, den scheinbaren Defekt der Geräte möglichst rasch zu beheben. Doch bis zum Abend hatte er den Fehler noch nicht gefunden. Colin begann zu bezweifeln, daß es an den Geräten lag. Er fand keinen Fehler - im Gegenteil, sie funktionierten. Außerdem war ihm eingefallen, daß an diesem Tag eigentlich ein Versorgungshubschrauber hätte kommen sollen. Aber der war ausgeblieben.
Er zog sich warm an und ging in das Dämmerlicht hinaus. Das Licht war zu schwach, um die Sterne zu überdecken, und so erschien es Colin, als habe er sie noch nie so klar gesehen.
Es war eisig kalt und ihn fror. Eine klirrende Kälte, die trotz ihrer unangenehmen Seiten wunderbar war, wie es Colin empfand. Die Klarheit des Blicks und das Bild der vereisten Landschaft ergänzten sich phantastisch. Das Meer war tiefblau und klar. Eisschollen jeder Grösse bis hin zu mächtigen Eisbergen trieben ruhig und majestätisch dahin. Und eine wunderbare Ruhe lag über dieser Welt aus Eis und Kälte. Aber genau diese Ruhe war es, die ihn beunruhigte. In diesem Augenblick wollte er keine Ruhe, keinen Frieden. Er hatte das Bedürfnis mit jemandem zu sprechen und wünschte sich die Unruhe menschlichen Lebens. Dies war eine seiner markantesten Eigenschaften: War er inmitten von Menschen, wünschte er sich rasch Ruhe und Frieden. Und wenn er dann eine Weile allein gewesen war, wünschte er sich weder Gesellschaft und Gesprächspartner.
Als es ihm zu kalt wurde, ging er wieder in die Station. Dabei kam er am Käfig der Maus vorbei. Er blieb kurz stehen und starrte die Maus an. Er dachte sich, dass er die Nacht wohl mit dieser Kreatur würde verbringen müssen. Kurz bevor er einschlief, dachte er noch einmal über die funktionierenden, aber nutzlosen Funkgeräte nach, über den ausgebliebenen Hubschrauber, und er versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.
Am nächsten Morgen war er ausgeschlafen und begann sofort, die Funkgeräte zu bedienen. Doch er fing keinen einzigen Funkspruch auf. Er geriet allmählich in Panik. Er fragte sich, was geschehen war. Verzweifelt setzte er einen Funkspruch nach dem anderen ab. Niemand reagierte darauf. Resigniert schaltete er das Gerät auf Empfang und öffnete eine Konservendose. Dabei sagte er sich, dass er wohl kaum würde verhungern müssen. Die Vorratskammern waren bis zum Bersten gefüllt. Nahrungsmittel und Heizmaterial waren in Hülle und Fülle vorhanden – alles, was man zum leben brauchte. Alles? fragte er sich. Er würde sich beschäftigen müssen. Aber zu diesem Zeitpunkt dachte er noch nicht ernsthaft über eine längere Isolation nach. Er war überzeugt, es handle sich sicher nur um eine vorübergehende Störung- einen Sturm vielleicht oder ein Unwetter. Deshalb g1aubte er, er müsse allerhöchstens ein paar Tage aushalten. Er entschloss sich, die Zeit mit Arbeit zu verbringen. Er las Meßinstrumente ab und zeichnete die Daten auf - so, wie er es immer tat. Doch dann war alles getan, was es zu tun gab. So wollte er sich mit einem Buch in seinen Schlafsack verkriechen. Er war schon mit den Füssen hineingekrochen, als er das Fiepen der Maus hörte. Ihm fiel ein, dass er sie noch nicht gefüttert hatte. Er holte das nach und, als er sie betrachtete, fühlte schmerzlich, wie sehr ihm Gesellschaft fehlte. Er nahm das Tier mit in seinen Schlafsack. Etwas Gesellschaft wollte er haben, und wenn es auch nur eine Maus war, die sie ihm leistete.
Auf diese Weise verbrachten sie den ganzen Tag und die folgende Nacht zusammen.
Als Colin sie am nächsten Morgen auf seiner Schulter auf seinen Rundgang durch die Station mitnahm, stellte er fest, dass er das Mäuschen irgendwie ja doch ganz gern hatte. Er ertappte sich bei dem Versuch, ihr einen Namen zu geben.
Um zu verhindern, irgendwie in Abhängigkeit zu dieser Kreatur zu geraten, setzte er sie zurück in ihren Käfig. Er fühlte sich überlegen. Denn wenn er etwas nicht mochte, dann waren es Abhängigkeitsverhältnisse. Er hasste Abhängigkeit. Er liebte seine Unabhängigkeit. Wenn er denn jemals von irgendetwas abhängig sein musste, so sollte es doch wenigstens keine Maus sein, von der er abhängig war. So dachte er.
In diesem Zwiespalt verbrachte er die folgenden Tage und Nächte. Nachts nahm er die Maus mit in seinen Schlafsack, und morgens tat er sie zurück in ihren Käfig, um eine beginnende Abhängigkeit zu unterbinden. Hartnäckig wehrte er sich dagegen, der Kreatur einen Namen zu geben. Nach zwei Wochen gab er die Hoffnung auf, jemals wieder einen Menschen zu sehen. Und nach einer weiteren Woche hieß das Mäuschen Viktor.
Innerhalb weniger Stunden entschloss er sich, die Station zu verlassen. Mit Entsetzen hatte er festgestellt, wie weit die Abhängigkeit von ,,V i k t o r“ schon gediehen war. Er wollte allem entfliehen. Er packte genügend Vorräte und Ausrüstung auf einen Motorschlitten, und brach auf.
Er war morgens aufgebrochen, und so fuhr er bis zum Mittag an der Küste entlang. Er wusste zwar nicht, wie lange er bis zu einer menschlichen Ansiedlung brauchen würde, doch innerlich triumphierte er dennoch. Viktor hatte versucht, ihn kleinzukriegen, ihn abhängig zu machen. Aber er, Colin, war auf der Hut gewesen.
Zufrieden hielt er an, um Mittagspause zu machen. Während er sich seine Fleischstückchen aus einer Dose angelte, fragte er sich, wie lange Viktor wohl mit den Körnern auskommen würde, die er ihm vorsorglich in den Käfig gestreut hatte. Einen Tag? Zwei oder sogar drei Tage lang? Länger bestimmt nicht. Und dann würde Viktor eines jämmerlichen Hungertodes sterben.
Gegen Abend stellte Colin erstaunt fest , daß er mit seinem Motorschlitten wieder vor der Station stand. Er hatte gar nicht gemerkt, daß er gewendet hatte . War es Zufall gewesen, oder hatte er unbewußt gewendet ?
Viktor begrüßte seinen deprimierten, menschlichen Freund mit einem freudigen Piepsen. Wieder war er abhängig von dieser Maus. So empfand es Colin.
Einige Tage vergaß er seine Unabhängigkeitsbestrebungen. Doch dann, eines Nachts, startete er einen Attentatsversuch. Er trug Viktors Käfig hinaus und stellte ihn in die eisige Kälte. Rasch ging er wieder hinein und triumphierte erneut. Aber er hatte ein zu starkes Gewissen, als daß er die Maus tatsächlich hätte erfrieren lassen können. Ihm war es erschienen, als hätte Viktor ihn vorwurfsvoll angeschaut, so als hätte er sagen wollen: „ Na, was machst du jetzt wieder für Unsinn?“
Jedenfalls stand der Käfig innerhalb von zwei Minuten wieder in der Wärme der Station. Nun glaubte Colin, in den Augen des Tiers lesen zu können. Er fühlte, daß die Maus der engste Vertraute war, den er je gehabt hatte. Er war überzeugt. Er nannte Viktor nun wirklich immer Viktor, und nicht nur mehr in Gedanken und manchmal. Und dieser benahm sich so, als habe er immer so geheissen. In seinen Gedanken erschien Colin diese Freundschaft als die innigste, die er je gehabt hatte. Er schlief nun mit der Gewissheit ein, daß er nicht allein war. Er dachte, er sei sehr dumm gewesen, daß er sich früher so ablehnend gegenüber Tieren und Kindern benommen hatte.
Eines Morgens, als er Viktor ausnahmsweise in seinem Käfig hatte schlafen lassen, stand er auf und wollte seinen besten Freund begrüssen. Er war glücklich, obwohl er hier in dieser Einsamkeit gefangen war, denn er fühlte sich nicht mehr allein.
Doch als er seinen kleinen Freund fand, erschrak er zutiefst.
Die Maus lebte nicht mehr.

 

Comment

Ist schon eine etwas ältere Geschichte ... 20 years?
Bin mal gespannt, ob sie jemand liest...;)
lg
Frohe Ostern
Spalatus

 

Hallo Spalatus,

eine flüssig erzählte Geschichte, aber doch sehr vorhersehbar. Dadurch ist sie natürlich auch recht realistisch, doch auch nicht besonders spannend. (Wobei ich mit „spannend“ in diesem Zusammenhang keine Krimi-Spannung meine).
Dein Protagonist findet in der Fürsorge seine Bestimmung, erkennt, dass er ein Gegenüber braucht - du entwirfst (bzw. bestätigst) also das Bild des sozialen Menschen, der eben nicht dem Homo homini lupus entspricht, sondern sogar (in der Not) im Tier einen Partner sieht. Durchaus eine gelungene Botschaft, auch die `Unterbrechung´ durch das Freiheitsstreben des Forschers.


Änderungsvorschläge:


Vielleicht kannst du noch einige „er“ vermeiden?


„Eine klirrende Kälte, die trotz ihrer unangenehmen Seiten wunderbar war, wie es Colin empfand.“

- Vielleicht: war, so empfand es Colin

„vorübergehende Störung- einen Sturm“

- Störung -

„Deshalb g1aubte er“

- glaubte


„Auf diese Weise verbrachten sie den ganzen Tag und die folgende Nacht zusammen.“

- Auf welche Weise? Einmal füttern, dann ins Bett?


„gar nicht gemerkt, daß er gewendet hatte .“

- dass; hatte.

„gewendet ?“

- gewendet? (Wiederholung)

„ Na, was machst du jetzt wieder für Unsinn?“

- „Na


Das Copyright gehört nicht unter den Titel.

L G,

tschüß Woltochinon

 

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