Die Meisen
Die Meisen
80 Jahre hatte sie dem Leben widerstanden, jetzt hatte es sie gebrochen, in viele einzelne Teile, die sie nicht mehr zusammenbrachte zu einem funktionierenden Ganzen. Die Mechanik des Körpers war stellenweise noch einigermaßen intakt; so viel Energie, um das Leben gerade noch in Gang zu halten, wurde erzeugt. Doch die Beine waren wie tot, eiskalt und fast unbeweglich, das Blut fand nur noch mühsam schmale Wege, Verengungen und Verlegungen zwangen es zu manchem Umweg. Haltloses Nahrungsaufnehmen und –ausscheiden beherrschten sie, ihre Sinne hatten sich verbraucht, sie war taub und ohne Geruchsempfinden, nur sehen konnte sie noch etwas verschwommen und eigentümlich verzerrt.
Sie kannte die Welt, in der sie lebte, kaum wieder, fremde Menschen schwebten lautlos wie Geister durch ihr Haus, stellten ihr Essen hin, ergriffen sie und schleiften sie durch die Räume, zerrten ihr die Kleider vom knochigen Leib, tauchten sie in kaltes Wasser, in heißes, gegen Wunsch und lautes Schreien, hantierten mit ihr wie mit einer Puppe, die sich nicht wehren kann. Wenn sie müde war, musste sie aufstehen, und wenn die Sonne schien, fror sie.
Die Welt stand still, es geschah nichts mehr, es wurde zwar hell und dunkel, doch wenn sie allein war, änderte sich das Bild nicht mehr; in der Ferne der Fluss, der ruhig und still dahinfloss, davor große grüne Gebilde auf dicken Stämmen, um sie herum alles blau -, ja, der Himmel, ganz früher, sie konnte es nur noch fahl erinnern, wölbte er sich über ein buntes Leben – Wasser lief aus ihren Augen über die Runen in ihrer Haut, ein warmer Luftzug streifte ihr Gesicht: Sie saß an der geöffneten Tür zur Terrasse im Rollstuhl, mit der linken Hand griff sie in den großen Topf auf ihrem Schoß und warf mit einer müden Bewegung Körner auf die Fliesen zu ihren Füßen, unaufhörlich, irgendetwas in ihr bewegte den Arm in der beschriebenen Form, gönnte ihm keinen Aufschub, eine Welle von Schmerz raste vom Arm in den Leib und zurück und hin und zurück wie der rilkesche schwarze Panther im Käfig; der Schmerz hielt sie am Leben, hielt ihre Augen offen, sonst könnte und würde sie die Augen schließen und versinken im endlosen Schlaf.
80 Jahre Müdigkeit drückten auf ihre schmalen Schultern, die Wirbelsäule war krumm und zusammengestaucht, die Knorpel saftlos und brüchig, der rechte Arm hing leblos an ihrem Körper herab wie etwas Fremdes, er zog an ihrem Schultergelenk, als wollte er aus seinen Sehnen und Bändern irgendwohin, nur hinaus aus dem schlaffen, kalten Verbund. Wenn die Blase sich entleerte, lief es warm ihre eisigen Beine entlang und tat so wunderbar gut. Pausenlos rieb sie die zahnlosen Kiefer aufeinander, um die Körner zu zermahlen, die ihre linke Hand, aus der monotonen Bewegung ausscherend, zwischen die trockenen Lippen stopfte, die sich vergeblich zu wehren suchten. Zu ihren Füßen liefen kleine und größere graue Tier hin und her und lasen die Körner auf, die ständig auf sie herunterrieselten, dazwischen zweibeinige bunteste Tiere, die senkrecht in die Luft hüpfen konnten und manchmal nicht mehr auf die Erde zurückfanden – wie Flugzeuge damals im Krieg – spitze Schnäbel, sie fraßen und fraßen und fraßen. Sie konnte sich erinnern, dass sie früher Töne von sich gegeben hatten.
Das Bild erweiterte sich, ja, Horst, gleich wenn er von der Arbeit gekommen war, war er unter die Dusche gesprungen und dann zu ihr gekommen, ganz ohne Kleidung und dampfend vom heißen Wasser und hatte irgendetwas mit ihr gemacht – warm lief der Urin gerade an ihren Beinen hinunter – dann waren sie hinausgegangen in den kleinen Hof, vor das Gehege mit den vielen Vögeln. Da saßen sie und lauschten und redeten nebensächliche Dinge. Im Winter schauten sie durch das Fenster, sie hatten die eigenen Vögel jetzt in einem Steinhaus untergebracht, das Freigehege ließen sie offen und streuten Futter hinein, da kamen Meisen und Distelfinken und andere, sie wusste die Namen nicht mehr; als es genug waren, schlich Horst hinaus und schloss das Gitter. Jetzt waren sie gefangen, sie gewöhnten sich daran. Im Frühjahr schlossen sie auf und ließen sie wieder frei. Im nächsten Winter kehrten dieselben Vögel zurück und hüpften um die Voliere, sie wollten gefangen werden, Jahr für Jahr. Bis plötzlich die Distelfinken ermordet wurden, mit verrenkten Köpfen lagen sie da, die Hirnschale aufgebrochen und das Gehirn ausgeschlürft. Als der letzte tot war, hatten sie das Geheimnis gelüftet. Wenn es den Meisen zu wohl wird, stürzen sie sich auf Ihresgleichen und fressen die Gehirne. Sie waren zu Kannibalen geworden, das durfte sich niemals vererben, nie in die Freiheit. Sie hatten sich die Meisen geschnappt und ihnen die Köpfe verdreht.
Alle Vögel und alle Geister um sie herum, die sich so mühelos bewegen konnten und irgendetwas am Leben fanden, das sie nicht mehr finden konnte, das ihr abhanden gekommen war, fressen sollten sie, fressen. Und plötzlich fuhr ihre linke Hand über ihren Kopf und verstreute die Körner in ihrer Wohnung und überall hin, fressen, bis sie sich wohlfühlten wie damals die Meisen in ihrem Gehege, so wohl, dass sie, gefesselt an ihren Rollstuhl und voller Schmerzen und nicht wissend, wozu noch in diesem Wachsein, plötzlich allein nur noch wäre, endlich die Augen schließen und einfach nur schlafen könnte; schlafen wollen nach einem langen Leben kann doch nicht zu viel verlangt sein, einfach die Augen schließen und aufsteigen.
Die Körner flogen um sie herum.
marlem