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Die Melodie der Schneeflocken

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24.02.2005
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Die Melodie der Schneeflocken

Die Melodie der Schneeflocken​

Es ist so lange her, dass ich das letzte Mal aus diesem Fenster sah. So lange, da ich zuletzt hier stand, hier an diesem Fenster, und in die Weite blickte. Die weite Schneelandschaft, die sich vor mir erstreckte und nun, fast zwanzig Jahre später, erneut in ihrer glänzenden Unschuld vor mit liegt und die es in zwanzig Jahren wohl wieder wird und auch immer noch, wenn ich längst nicht mehr hier weilen werde.
Dennoch, in diesem Augenblick kommt es mir vor, als hätte sich die weiche Schneedecke nur meinetwillen über das kleine Dorf und dessen Umgebung gelegt, nur um mich zu erinnern.
Wie hatten wir damals immer heimlich unsere Oma ausgelacht, wenn sie von der „guten alten Zeit“ zu erzählen anfing. Wir, meine Brüder und ich. Heute beginne ich zu verstehen, was sie meinte, was sie empfand. Nur heute kann ich es ihr nicht mehr sagen.
Wieso ich zwanzig Jahre lang nicht daheim war? Warum ich nicht da war, als mein Vater seinen ersten Schlaganfall hatte? Das frage ich mich selbst manchmal.
Ich wollte Kapitän werden. Seit ich diesen einen Piratenfilm im Kino gesehen hatte – ich habe den Namen vergessen, ich weiß nur noch, dass mein Lieblingsschauspieler mitspielte und super sexy aussah – war ich von diesem Berufswunsch wie besessen.
Ich hatte es kaum abwarten können, das Abitur in der Tasche zu haben und als es dann endlich so weit war, musste ich einfach weg. Der Wind, welcher von fernen Ländern kündete, hatte mich gerufen und ich war diesem Ruf gefolgt. Zum Meer hin, das ich seit Kindheit an so sehr liebte.
Sicher, ich wusste vorher, dass ich viel unterwegs sein würde und kaum Zeit für meine Familie hätte. Doch wer denkt schon länger darüber nach, wenn gerade ein Kindheitstraum in Erfüllung geht? Ich habe es sogar geschafft, obwohl sie alle sagten, dass ich es nicht weiter als bis zum Schiffsmechaniker bringen würde.
Ich wurde also Kapitän und durchsegelte die sieben Ozeane. Doch wie so oft im Leben stellte sich auch dieser Traum als ebendies heraus: Ein Traum! Und Träume können zerplatzen wie Seifenblasen. Man versucht, einen zu greifen, ihn zu erreichen, anzufassen… und dann zersplittert er in tausend Scherben wie ein Spiegel.
Fakt ist, der Beruf des Kapitäns ist nicht halb so aufregend, wie ich es mir vorgestellt hatte. Keine abenteuerlichen Piratengeschichten, wie Hollywood es immer darstellt. Kein Seemannsgarn, den die alten Kapitäne erzählen, abends, wenn die See unruhig ist, bei Kerzenschein oder meinetwegen auch Öllampen…
Zunächst dachte ich, ich lebe einfach nur in der falschen Zeit. Damals wäre alles so gewesen, wie in meinen Träumen. Auch wenn der Spiegel zerbricht bleiben kleine Splitter übrig, die das Licht ebenso reflektieren wie der Spiegel im Ganzen. Dieser Gedanke war wohl so ein Splitter, der von meinem einstigen großen Traum übrig blieb. Einfach nur die Hoffnung, weiterträumen zu können.
Ich bin ein Pirat, eine Prinzessin, ein Musketier, eine Elbe, ein Waldgeist… Ich bin immer das, was ich mir selber vorstelle, was ich mir in meinen Gedanken zusammenspinne. Was wäre die Welt ohne Fantasie?
Ich lernte meinen Beruf also auf andere Art zu schätzen, als ich es ursprünglich gedacht hatte.
Ich hatte kaum Kontakt zu meinen Eltern und Geschwistern. Nicht, weil ich sie nicht liebte, sondern weil es nach der Geburt meiner ersten Tochter schwer wurde, mich neben meinem Beruf um zwei Familien zu kümmern, die noch dazu so weit entfernt wohnten.
Irgendwie ist in dem Leben alles nichts als ein Kreislauf. Ich erinnere mich noch, als meine Mutter mir erzählte, dass ihre Eltern nie mit ihr nach Bayern zogen wollten, als sie meinen Vater geheiratet hatte. Doch auch sie selbst gab mir nie nach, zu mir an die Nordsee hoch zu ziehen. Ob ich mich eines Tages weigern werde, zu einer meiner beiden Töchter zu ziehen, wenn diese von hier weggehen werden?
Es beginnt wieder zu schneien. In dicken, langsamen Flocken. Sie spielen eine Melodie aus längst vergessenen Zeiten. Ich verstehe sie nicht. Sie singen zu leise, zu viele Flocken durcheinander. Wie die Zeiten, ist auch die Melodie vergessen und eine vergessene Melodie lässt sich schlecht singen. In meinem Fall lässt sie sich noch nicht einmal hören.
Schon damals liebte ich es, wenn so große Schneeflocken direkt auf mich zufliegen, um dann am Fenster aufgehalten zu werden, wo sie auf der Scheibe zerschmelzen. Man denkt, man befinde sich in einer riesigen Schneekugel.
Ein Junge spielt Klavier… die Schneeflocken tanzen dazu draußen zum Rhythmus am Fenster vorbei… Weihnachten! Ein Mädchen spielt dazu auf dem Cello… Das Mädchen bin ich. Wie hatte ich es nur vergessen können?!
Der Winter! Und wir waren alle Kinder. Kinder, die im Schnee spielen. Kinder, die Schneemänner bauen und Schlitten fahren und Schlittschuh laufen… Kinder, die in dieser Gegend gemeinsam groß geworden sind. Jahr für Jahr, Winter für Winter…
Kinderlachen, das fast vergessen ist.
Ich sehe uns da draußen, vor dem Fenster, Iglus bauen und Schneeballschlachten machen und so grotesk es sich auch anhören mag, nichts täte ich lieber, als in diesem Moment hinauszurennen, meinen Erinnerungen entgegen, und dort mit ihnen zu spielen. Mit meinen Geschwistern, so wie damals.
Andere Kinder spielen nun dort. Kinder, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Kinder, deren Eltern ich vielleicht irgendwann einmal gekannt hatte. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfchen und furchtbar roten Backen schaut zu mir. Nur kurz. Dann dreht sie sich wieder weg, um mit ihren Freunden weiterzuspielen. Ich glaubte, einen Moment lang ihren Blick ganz deutlich gespürt zu haben. Ich weiß nicht, was sie sich dachte in diesem Sekundenbruchteil. Vermutlich dachte sie nicht daran, was wäre, wenn sie eines Tages so am Fenster stehen und fremden Kindern beim Spielen zusehen würde.
Zwanzig lange Jahre war ich kein einziges Mal hier gewesen. Und ausgerechnet zu einem so traurigen Anlass sind wir wieder vereint, meine Brüder, meine Mutter und ich. Es ist schon seltsam: Wenn wir einen Termin suchen würden, an dem jeder zu einem Familientreffen kommen könnte, so würden wir nie einen finden. Der eine hätte zu arbeiten, der nächste wäre auf einem Familienausflug und der dritte hätte ein krankes Kind… Doch in Extremsituationen kommen sie alle angehastet. Sofort findet sich der Termin. Alles andere ist unwichtig. Wichtig ist nur die Beerdigung. Keiner hat abgesagt. Wir sind alle hier noch einmal – vielleicht ein letztes Mal vereint.
Was würde ich dafür geben, wenn David, mein Lieblingsbruder, jetzt hereinkommen würde, hierher, in mein ehemaliges Zimmer, und mich, ganz so wie damals, fragen würde, ob wir nicht Schlittenhunde spielen wollen. Ich würde lachend meine leicht gelockten Haare aus dem Gesicht werfen und schon würden wir gemeinsam losflitzen, hinaus in die Unbekümmertheit der kindlichen Existenz.
Ich spüre, wie mir langsam eine warme Träne über die linke Wange läuft. Ich halte sie nicht auf.
Die spielenden Kinder vor meinen Augen verwandeln sich in meine Brüder, das kleine blonde Mädchen bin ich. Warum kann man die Zeit nicht zurückdrehen?! Vor meinem inneren Auge kann ich es.
Ich presse meine Hand gegen die Fensterscheibe, kann die Kälte dort draußen förmlich spüren. Mein Atem beschlägt das Fenster, doch ich achte nicht darauf. Das Mädchen – ich? – schaut nicht noch einmal herüber. Sie ist zu sehr in ihr Spiel vertieft.
Ich höre gar nicht, wie die Tür aufgeht und jemand das Zimmer betritt. Erst, als mir jemand die Hand auf die Schulter legt, fahre ich herum. David. Der Anblick ist mir noch immer fremd, hatte ich ihn doch vor zwei Tagen das erste Mal seit so langer Zeit wieder gesehen, und dennoch ist da diese Vertrautheit, die schon immer zwischen uns Bestand gehabt hatte. Eine Vertrautheit, welche selbst zwanzig Jahre nicht zerstören können. Egal welcher Zeitraum, egal welche Entfernung…
Er grinst mich an, so wie er es auch damals immer getan hat und ich lächele zurück. Wir waren schon immer gut darin gewesen, uns ohne Worte zu verständigen. Sein Blick fliegt zu den Kindern da draußen, vor dem Fenster, anschließend zu mir zurück. Und dann diese vier Worte: „Wollen wir spazieren gehen?“ Diese Gabe, meine Gedanken zu lesen und darauf in seiner bestimmten Art zu reagieren hatte stets nur David gehabt.
Ich nicke, dankbar, hier herauszukommen. Dankbar, doch noch in den Schnee hinausgehen zu können. Doch als David das Zimmer schon verlassen hat, drehe ich mich noch einmal um und werfe einen letzten Blick aus dem Fenster zurück in das Schneetreiben. Und jetzt verstehe ich, was die Schneeflocken mir zuflüstern. Ich erfasse ihre Melodie plötzlich ganz deutlich: Es war einmal im Dezember…

 

Hallo Loreley,

herzlich Willkommen auf Kurzgeschichten.de!

Ich bin etwas zwiegespalten, was deine Geschichte angeht. Grundsätzlich mag ich Geschichten, die etwas aus der Vergangenheit erzählen und auf Erinnerungen basieren. Leider mag ich Geschichten, die innerhalb einer Seite versuchen ein ganzes Leben zu erzählen, weniger.
Auf mich hätte die Geschichte viel stärker gewirkt, wenn du nicht die halbe Lebensgeschichte deiner Prot. erzählt hättest. Diese Schnelle wirkt auf mich immer oberflächlich, und das sollte sie sicherlich nicht sein.
Besser hätte ich gefunden, wenn du einfach nur erwähnst, dass sie ihre Geschwister lange nicht gesehen hat, weil sie in ihrem Job so eingespannt war. Sie könnte sich dort am Fenster stehend fragen, ob es das wert war.
Die Erinnerungsbilder erscheinen mir ein wenig wirr - auch die ausführliche Beschreibung der JETZT draußen spielenden Kinder war mir zu ausführlich und etwas zu gewollt. Verstehst du was ich meine?

Stilistisch fand ich deinen Text an weiten Teilen gut. Was mich gestört hat war die ständige Erwähnung von "Wie er das früher immer getan hat, wie das früher immer war". Wenn das in einem so kurzen Text dermaßen oft vorkommt, dann stößt es mir etwas auf.
Was ich auch nicht so toll fand war, dass du manche Sachverhalte etwas zerredet hast. Hierzu in meinen Textanmerkungen einige Beispielte.

Ich hoffe ich konnte dir weiterhelfen.

So lange, da ich zuletzt hier stand, hier an diesem Fenster, und in die Weite blickte. Die weite Schneelandschaft, die sich vor mir erstreckte und nun, fast zwanzig Jahre später, erneut in ihrer glänzenden Unschuld vor mit liegt und die es in zwanzig Jahren wohl wieder wird und auch immer noch, wenn ich längst nicht mehr hier weilen werde.

Wortwiederholung
mir

Den Satz finde ich etwas umständlich. Die Tatsache, dass der Schnee dort schon immer gelegen hat und immer wieder liegen wird, kannst du viel einfacher ausdrücken.

Man versucht, einen zu greifen, ihn zu erreichen, anzufassen… und dann zersplittert er in tausend Scherben wie ein Spiegel.

Dieses zweite "Bild" würde ich streichen. Das erste reicht meiner Meinung nach aus.

Ich erinnere mich noch, als meine Mutter mir erzählte, dass ihre Eltern nie mit ihr nach Bayern zogen wollten, als sie meinen Vater geheiratet hatte.

ziehen

QUOTE]Kinder, die Schneemänner bauen und Schlitten fahren und Schlittschuh laufen…[/QUOTE]

Vorschlag: Kinder, die Schneemänner bauen, Schlitten fahren und Schlittschuh laufen...

Ich weiß nicht, was sie sich dachte in diesem Sekundenbruchteil. Vermutlich dachte sie nicht daran, was wäre, wenn sie eines Tages so am Fenster stehen und fremden Kindern beim Spielen zusehen würde.

Würde ich komplett streichen.

Wir sind alle hier noch einmal – vielleicht ein letztes Mal vereint.

Würde ich umstellen: Wir sind alle noch einmal hier - vielleicht zum letzten Mal vereint.

Eine Vertrautheit, welche selbst zwanzig Jahre nicht zerstören können. Egal welcher Zeitraum, egal welche Entfernung…

Würde ich streichen. Das gleiche sagst du einen Satz weiter oben schon, wenn auch in anderen Worten. Es nervt mich als Leser alles so vorgekaut zu bekommen.

LG
Bella

 

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