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Die Methode ist übertragbar
Die Methode ist übertragbar
Heute sage ich stolz: Das Experiment war erfolgreich, mein Leben ist entrümpelt.
Ab jetzt reihen sich die Tage übersichtlich aneinander, alles Überflüssige wurde eliminiert.
Ich habe den Durchblick, erkenne das Wesentliche. Ein klarer Kopf macht selbstsicher.
Wahrlich, ein gutes Gefühl.
Das war nicht immer so.
Viele Jahre verhedderte ich mich in Nebensächlichkeiten. Attribute, die ich für Bereicherungen hielt, waren purer Ballast, sonst nichts. In meinem neuen Leben spare ich Zeit, die ich früher vergeudete. Es kommt vor, dass ich am Ende eines Tages noch Stunden übrig habe; das nenne ich den sichtbaren Erfolg der Effizienz!
Die Methode, die ich anwende, wurde ursprünglich für Autoren entwickelt. Sie schärft den Blick des Schreibenden für Überflüssiges in seinem Text: Adjektive und Adverbien die sich in Massen einschleichen, Wiederholungen oder Dopplungen die den Leser stolpern lassen, wenn er nicht schon vorher entnervt aufgegeben hat.
Heute kann ich sagen: Der engagierte Volkshochschuldozent hat gute Arbeit geleistet, indem er mir eine vollkommen neue Welt des Schreibens erschloss. Doch nicht nur dafür bin ich ihm dankbar.
Auslöser der Radikalveränderung war eine Bemerkung meiner Freundin Claudia vor einem Jahr. Claudia ist Bühnenbildnerin und zudem meine unbestechliche Erstleserin.
An jenem Tag vertiefte sie sich in meine neueste Kurzgeschichte. Mit angezogenen Beinen hockte sie in der rechten Couchecke. Ich saß stocksteif in der linken und ein mulmiges Gefühl beschlich mich, als sie nach höchstens zwei Minuten gequält seufzte. Claudia runzelte die Stirn, wühlte in den Blättern, schüttelte schließlich den Kopf und sah mich an. In ihrem Blick lag eindeutig Mitleid. Mein Mund trocknete sofort aus. Bis jetzt hielt ich diese Kurzgeschichte immer noch für meine beste, sie beinhaltete praktisch schon den Plot für den großen Roman, den ich in Kürze beginnen wollte.
„Was ist?“, fragte ich mit Mühe.
„Ach Ricki“, sagte Claudia - ich heiße Richard, aber so nennt mich nur meine Mutter -,
„ich blicke da überhaupt nicht durch.“ Sie starrte auf einen Fleck an der Wand; offensichtlich suchte sie nach einem bildhaften Beispiel für ihre Verwirrung. Mir wurde schlecht, ein Schweißausbruch folgte.
Claudia rückte näher an mich heran.
„Es ist, als würde ich alle Requisiten aus dem Fundus auf die Bühne schmeißen und dann den Schauspielern sagen, sie müssten irgendwie damit klarkommen. Verstehst du, Schatz?“
Wenn Claudia ‚Schatz’ sagt, läutet sie die Trostglocken. Es musste also schlimm sein.
„Nenn mir mal ein Beispiel“, sagte ich lahm. Sie nickte und blätterte.
„Hier, Seite drei:
’Der weltgewandte, weitgereiste Olaf Rabenkamp kam an einem trüben, windigen Regentag Anfang November, direkt aus der kalifornischen, samtweichen Wärme, nach einem turbulenten, anstrengenden Flug, der ihm nicht erlaubt hatte, auch nur für kurze Zeit die Augen zu schließen, im ruppigen, unfreundlichen Hamburg an’.“
Ich fühlte mich vernichtet.
Claudia warf die Blätter in den Raum, setzte sich auf meinen Schoß, knöpfte mein Hemd auf und mäanderte mit ihrer Zunge in meinem Ohr. Ihre Art des Trostes war durchaus angenehm, nur half sie mir literarisch keinen Schritt weiter.
Ich wollte Schriftsteller werden, unbedingt. Da war dieses Drängen, diese Kraft, die nur Berufene spüren. Der Kellnerjob in Babsis Bistro konnte allenfalls ein Übergang sein.
So führte mich mein Weg in die hiesige Volkshochschule. Claudia spornte mich an. ‚Meine Texte, rank und schlank’ hieß der Kurs und er hielt Wort. Bereits nach der vierten Doppelstunde waren meine Geschichten auf die Hälfte zusammengeschrumpft; einige überlebten das Abspecken nicht, weil sie am Ende der Reduktion keine nennenswerte Handlung mehr aufwiesen.
Ich arbeitete wie besessen und spürte, wie sich gleichzeitig in mir selbst eine ungeheure Wandlung vollzog: Je mehr ich meine Texte kürzte, desto freier fühlte ich mich. Es kam mir vor, als rodete ich einen Dschungel. Mein Kopf wurde klar, die Gedanken ordneten sich auf wunderbare Weise. Die Figuren meiner Geschichten tummelten sich auf riesigen Spielwiesen und vollführten die tollsten Kapriolen. Olaf Rabenkamp sah mich aus dem PC dankbar an, nahm ein Taxi, fuhr ins Hilton und schlief zehn Stunden am Stück; schließlich hatte er einen turbulenten Flug vom sonnigen Kalifornien in den Hamburger Schmuddelherbst hinter sich.
Die Methode begeisterte mich dermaßen, dass ich beschloss, sie in meinem Alltag ebenfalls anzuwenden. `
Wie viel Lebenszeit hatte ich vor dem Kleiderschrank vergeudet? Da lagen rote, blaue, gestreifte, karierte, gelbweiße, fliederfarbene Shirts und Pullover, Krawatten mit schrillen Mustern, die mir nun absolut geschmacklos erschienen, bunte Hemden und sogar eine knallrote Jeans. Weg damit! Nie mehr Grübeleien über die farbliche Harmonie meiner Kleidung. Ich schaffte mir eine komplette Jahresgarderobe in Schwarz und Weiß an. Eine Minute, länger brauche ich nicht mehr zum Anziehen.
Vor dem Spiegel betrachtete ich meinen Schnäuzer. War er nicht auch ein fauler Kompromiss, ein überflüssiges Attribut, wie so manche Textstelle? Entweder Vollbart oder glatt rasiert, sagte ich mir entschlossen. Wieso sollte ich weiter Nahrungsreste aus dem kitzelnden Gestrüpp auf meiner Oberlippe pulen und wöchentlich mit der Nagelschere daran herumschnippeln? Nach fünf Minuten strahlte mir ein freundliches Jungengesicht entgegen. Ich erinnerte mich vage, dass es damals der Grund für den Schnauzbart war.
In der Küche sah ich die Berge schmutzigen Geschirrs aus einer neuen Perspektive. Der Aufwand, den Claudia hier betrieb, stand in keinem Verhältnis zu den mickrigen Ergebnissen, die sie erzielte, und die manchmal die zusätzliche Anforderung des Pizzataxis unumgänglich machten. Die Stapel verkrusteter Teller mutierten vor meinem geistigen Auge zu Adjektiven und Adverbien.
Ich beschloss, wie früher bei meiner Mutter zu essen. Sie kocht hervorragend, freut sich über meine regelmäßigen Besuche und steckt mir nicht selten einen Geldschein zu.
Gemeinsam glauben wir an meinen Durchbruch.
Claudia reagierte tief gekränkt. Sie sagte etwas von ‚Reduzierte Scheiße wird auch nicht zum Parfüm’, doch ich verstehe ihre Enttäuschung und nehme es ihr nicht übel. Sie wird zurückkommen, sobald mein Bestseller da ist.
Im Job nahm ich ebenfalls eine Radikalstraffung vor: Ich schwatze nicht wie früher mit den Gästen, kommentiere kein Fußballspiel mehr und habe meine Effizienz dermaßen gesteigert, dass Babsi die pummelige Marlene entlassen konnte. Marlene war verständlicherweise entsetzt, sie brauchte den Job so nötig wie ich, obwohl sie keine Schriftstellerin werden wollte. Ich habe sie zur Seite genommen und ihr gesagt, sie soll nicht traurig sein, denn es kann ja nicht mehr lange dauern, bis mein Roman wie eine Bombe einschlägt; dann sorge ich persönlich dafür, dass sie ihre Stelle zurückbekommt und meine dazu.
Außerdem soll sie das erste, handsignierte Exemplar erhalten.
‚Für meine liebe, fleißige Kollegin Marlene aus der guten alten Zeit’ könnte auf der zweiten Seite stehen…oder einfach ‚Für Marlene von Richard’.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich den schwungvollen Schriftzug, mit schwarzer Tinte schräg über das Blatt geworfen.
Beflügelt von dieser Vorstellung, beschließe ich, noch heute Abend anzufangen.