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Die Muse

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13.07.2017
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Die Muse

Die Backsteinfassade leuchtet. Eigens für diesen Abend installierte Strahler heben die ehemalige Fabrikhalle noch deutlicher von den benachbarten Glas- und Betonbauten ab. Es sind fünf Grad unter null. Der Schnee der letzten Tage türmt sich schwarz gesprenkelt neben dem gusseisernen Zaun. Fotoblitze durchzucken den frühen Abend. Über einen langen Teppich strömen Vertreter der internationalen Modewelt durch die geöffneten Stahltüren in die Vorhalle, in der Getränke und vegane Häppchen gereicht werden.
Auf der anderen Gebäudeseite schieben Hilfsarbeiter mehrere Rollständer, an denen pralle, schwarze Kleidersäcken hängen, die Rampe zum Hintereingang hinauf. Das Rattern geht weiter, vorbei am Make-up-Bereich Richtung Bühnenaufgang. Der Widerhall überschlägt sich zwischen den hohen Wänden.

Aufgereiht vor großen Spiegeln toupieren Hairstylisten einigen Models kopfüber die Haare. Make-up Artists pudern andere bereits ab und bestücken ihre Augen mit langen, falschen Wimpern. Ein junger Mann im schwarzen Shirt mit L’Oréal-Aufdruck wartet eine sich setzende Haarspraywolke ab, fotografiert und filmt anschließend. „Für eine Insta-Story“, informiert er die jungen Frauen, die sich kichernd produzieren. An einem der äußeren Plätze dreht Sarah leicht den Kopf hin und her, überprüft im Spiegel den gleichmäßigen Schwung ihrer Brauen. Warum der Visagist bei ihrem Hautton dieses Rouge verwendet hat, ist ihr ein Rätsel. Der Eyelinerstrich ist akzeptabel.
Sie friert. Dabei ist Sarah das Fasten vor einer Show gewöhnt. Die Kälte macht ihr nach den vielen Jahren plötzlich zu schaffen. Sie faltet ihren Pashminaschal auseinander und legt ihn über den Schoß.
Gefolgt von Assistentin, Managerin und dem dreiköpfigen Team eines Boulevardblattes betritt René den Backstagebereich. Er begrüßt den Chefvisagisten mit Wangenküssen, die Models mit Bekundungen über ihre herausragende Schönheit und beneidenswerte Jugend. Der Praktikant fotografiert eifrig aus verschiedenen Perspektiven. Dann dreht sich René zu Sarah, legt die Handflächen aneinander und strahlt. „Meine andalusische Prinzessin.“ Sarah mag es nicht, wenn er sie so nennt. Sie ist stolz auf ihre Herkunft. Rumänische Prinzessin kommt René nicht über die Lippen. Auf dem Weg zu Sarahs Platz, darauf bedacht, seine Begleiter als Zeugen zu wissen, sagt er laut: „Liebling. Schön, dich zu sehen!“ Sarah lächelt ihm im Spiegel zu. „Fragen Sie mich nach dem Quell meiner Ideen!“, fordert René den Reporter auf. „Ohne Sarah wäre da lediglich ein dunkles Loch“, betont er.

Es zieht. Sarah knetet die kalten Hände. Aus dem Zuschauerraum dringen Musik und Gesprächsfetzen. Von beiden Wänden ragen voll behängte Kleiderstangen in den Raum, davor stehen mehrere Paar Schuhe und je ein gepolsterter Stuhl. Im Mittelgang klebt Tanja Polaroids der Models in den festgelegten Outfits an die Metallstangen. Die Ankleidehilfen, ein aufgekratzter Haufen aus Modedesignstudenten und ambitionierten Jungbloggern, versuchen einen Blick auf die prominenten Zuschauer der ersten Reihe zu erhaschen. Tanja schickt sie zurück und weist sie an, alle Reißverschlüsse und Knöpfe zu öffnen, damit das Umziehen schneller geht.
Festen Schrittes tritt Sarah auf Tanja zu. „Mein Platz kann nicht hier mittendrin sein.“
Tanja runzelt die Stirn. In ihren Händen hält sie ein Klemmbrett, auf dem sich Kleiderbügel und Fusselrolle stapeln.
„Mein Platz ist immer ganz vorn“, erklärt Sarah mit leicht nach vorn gebeugtem Körper, als wäre ihr Gegenüber schwer von Begriff.
Tanja nickt und dreht sich zu zwei jungen Mädchen um, die den Outfits gerade passende Schuhe zuordnen. Gemeinsam versetzen sie Sarahs Kleiderständer und Stuhl. Als die letzten Models fertig gestylt aus der Maske kommen und ihre Plätze einnehmen, ruft Tanja: „Noch fünfzehn Minuten bis zum ersten Run.“ Unterdessen scheucht Sarah eine der Anziehhilfen weg, nachdem sie falsch zusortierte Schuhe entdeckt hat. Tanja wechselt sie gegen eine erfahrene Aushilfe aus.

Alle Models stehen angezogen in geplanter Reihenfolge neben dem Bühnenaufgang. Die Visagisten pudern Nasen und legen Haare in Form. Sarah läuft unter leisem Getuschel mit erhobenem Kopf an allen vorbei.
"Ja, René meinte, meine Augen strahlen wie Sterne", plappert ein platinblondes Model hinter Sarah. Eine Brünette bekundet ihren Neid, versichert gleichzeitig, wie froh sie für die andere sei.
"Und das blaue Kleid würde perfekt an mir aussehen", setzt sie nach. "Prinzessin der Nacht, nannte er mich." Die Fersen ihrer Lackpumps klackern aneinander.
Sarah bewegt sich keinen Millimeter, atmet betont ruhig. Schon bei der Anprobe kamen ihr Gerüchte zu Ohren, ein anderes Model sollte sie beim Showhöhepunkt ersetzen. René würde das niemals zulassen.
Der Saal wird dunkel, die Zuschauer verstummen. Scheinwerfer leuchten den Laufsteg aus und Grace Jones‘s I’ve Seen That Face Before beginnt. Sarah zögert es hinaus, noch einen Moment, spürt die Vibration unter den Sohlen der hohen Stiefeletten. Dann tritt sie, in perfekten Schritten, mitten in den Lichtkegel, badet in den Blicken, inhaliert sie, nimmt die erste Pose ein. Mit einer ausladenden Handbewegung bleibt sie seitlich stehen, die linke Schulter zeigt hinunter zum Publikum, der tiefrote Mund ist leicht geöffnet. Die Arme fächert sie grazil übereinander wie Flügel im Schwanensee. Sarah wäre eine große Tänzerin geworden. Für Ballettstunden fehlte es der Familie an Geld.

Sie beginnt den Walk. Seitlich brandet Applaus auf. Die anderen Models reihen sich ein. Nach zwei Durchgängen verlassen sie den Laufsteg über den hinteren Abgang. Zurück an ihrem Platz blinzelt Sarah die Lichtflecken weg. Ihr Hals kratzt von den herumfliegenden Federn der Abendgarderobe. Die anderen Models werden hektisch umgezogen und erneut rausgeschickt. Sarah ist erst wieder zum Schlusslauf dran. Das Kratzen im Hals ist unerträglich. Tanja reicht ihr eine Wasserflasche und verschwindet, bevor Sarah etwas erwidern könnte. In der Ecke krächzt ein altersschwacher Heizlüfter.

Es ist so weit. Alle Spots blenden auf, die Musik startet. Sarah schreitet im blauen Abendkleid den Laufsteg entlang. Hunderte von Hand aufgenähte Kristalle funkeln im Scheinwerferlicht. Um den Hals trägt sie ein Collier, dessen Zentrum ein rautenförmiger Lapislazuli bildet. Von Nahem sieht man, wie dunkel der Stein abseits der grellen Scheinwerfer ist, wie vielschichtig durch Lufteinschlüsse und Spuren vergangener Zeiten, wie goldgefleckt in seinem tiefblauen Inneren. Der Applaus steigert sich, Bravo-Rufe erklingen – am Ende des Laufsteges verbeugt sich René und lächelt zu Publikum und Presse. Seine Assistentin reicht ihm einen großen Blumenstrauß hoch, mit dem er auf die ebenfalls applaudierende Sarah zugeht. Er deutet einen Handkuss an und überreicht ihr den Strauß. Dann drehen sich beide zur Menge, lassen sich feiern.

Unter lautem Geratter rollen die vollen Kleiderstangen vorbei Richtung Hinterausgang. Tanja telefoniert mit dem Fahrer des Transporters. Sie hält sich mit der freien Hand das Ohr zu, während sie mit einer Hüftbewegung den automatischen Türöffner mit dem blau-weißen Rollstuhlsymbol drückt.
Die Platinblonde schubst die Brünette ein Stück vor, Richtung Sarah. „Einige von uns gehen noch was trinken. Willst du vielleicht mitkommen?“, fragt sie lächelnd. Sarah schließt die Augen, damit der Visagist ihr die geklebten Wimpern abnehmen kann. „René und ich feiern gemeinsam. Das tun wir nach jeder Show.“
Fertig abgeschminkt, zieht Sarah ihre Tasche hervor und legt etwas Make-up für den Abend auf. Ihr schwarzes Haar bindet sie straff zu einem tiefen Zopf. Es wird eine kleine, private Feier werden – Renés Ehemann, seine Managerin, vielleicht der Redakteur seines neuen Magazins. Sarah hat Renés Assistentin vorhin ihre Lieblingssorte Champagner bestellen hören.
Als Letzte verlässt Sarah den Backstagebereich und tritt hinaus in die klare Januarluft. Sie sieht sich um. Während der Fashion Week stehen eigentlich immer Taxis bereit. Sarah zieht ihr Handy hervor. In dem Augenblick ertönt das Signal einer ankommenden Nachricht. Das Textfeld öffnet sich: „Liebling, ich mach heute Abend ruhig mit Marc. Wir sprechen uns morgen. Du warst großartig heute! René.“
Sarah liest die Nachricht ein zweites Mal. Ihre Zehen brennen in den hohen Pumps. Unweit von ihr hupt ein Kleinwagen. Sarah klärt zwinkernd ihren Blick, als Tanja neben ihr die Fensterscheibe runterfahren lässt und mit einer Kopfbewegung zum leeren Taxistand deutet. „Ich kann dich ein Stück mitnehmen.“
Sarah strafft sich. „Danke, Liebes.“ Sie hebt kurz ihr Handy. „René schickt einen Wagen. Der Fahrer ist schon unterwegs.“
Tanja schaut ihr einen Moment unverwandt in die Augen. Dann lächelt sie, nickt und startet den Motor.

Als ihr der Fahrer die Autotür aufhält, gleitet Sarah auf den Sitz. Warme Luft umströmt ihre Füße. Auf der anderen Straßenseite dreht sich sacht eine beleuchtete Litfaßsäule. Die Fahrertür schließt. Nachdem Sarah ihre Anschrift nennt, startet der Fahrer das Taxameter.

Es beginnt zu schneien. Zarte Flocken legen sich auf Dächer und Wege, nehmen die Sicht in die Ferne, bedecken Fußspuren, bis diese nicht mehr zu erkennen sind.

 
Verwendete Wörter
Kopfüber, Lapislazuli, Flügel, Rollstuhl, Zeuge

In ihren Händen hält sie ein Klemmbrett, auf dem sich Kleiderbügel und Fusselrolle stapeln.
Ich noch mal,

wegen

oder doch besser zu diesem "Mengenproblem", denn es kann ein Kleiderbügel sein, aber allein schon des "stapelns" wegen eher mehrere "Kleiderbügel", aber nur eine Fusselrolle, ab zwei sind es dann "Fusselrollen".

Ich drück die Daumen!

Tschüss

Friedel

 

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