Die Mutprobe
Samstag, der 23.August 1997
Liebes Tagebuch,
alles fing mit ihrem Brief an. Alles nahm seinen Lauf, nach diesem Brief. Heute ist einer der seltenen Tage, an denen ich meine Gedanken ordnen und zu Papier bringen kann. Ich möchte meinen ganzen Seelenschmerz loswerden, in dir, obwohl ich weiß, ich kann Schmerz nicht einfach auf Papier bannen und ihn somit vergessen. Ich habe es versucht, schon unzählige Male versucht. Warum nur ist dies eine Unmöglichkeit des Lebens, die man ertragen muss? ...
Jeder Mensch hat Feinde. Feinde sind so natürlich und selbstverständlich wie Freunde. Je besser die Freunde, desto gehässiger die Feinde, schätze ich. Wobei ich das nicht einmal weiß. Ich vermute es, hoffe es jedoch nicht, aber die Wahrscheinlichkeit dieser Tatsache lässt mich beinahe erschaudern.
Manchmal überlege ich, wie es wäre, hätte Cynthia mir nicht diesen Brief geschrieben. Hätte ich nicht reagiert. Es wäre alles anders gekommen als es nun ist, ich würde mir keine Vorwürfe mehr machen müssen.
Sie schrieb mir eine Mutprobe. Sie versprach mir, mich nie wieder zu beleidigen, mich nie wieder bloßzustellen, wenn ich diese Mutprobe bestehen würde. Und wäre ich nicht so dumm und kindisch gewesen, hätte ich nie im Leben dieses Gefühl gehabt, mich beweisen zu müssen. Aber vermutlich hätte es nicht anders laufen können. Ich war 15, naiv und wollte gemocht werden. Wie vermutlich alle Kinder in diesem Alter und jünger. Vielleicht auch älter.
Sie schrieb mir, ich sollte auf den Apfelbaum vor Familie Harrison's Haus klettern (Die Harrison's waren Koreaner). Dort in einem Nest (ich weiß nicht mehr, ob es ein Eulen- oder normales Vogelnest war – letztendlich ist es egal) wäre ein Schlüssel versteckt. Ich sollte ihn nehmen und mit ihm das Gartentor der Harrison's aufschließen.
Im Schuppen hinter dem Haus lägen Sprühdosen. Angeblich war der Sohn der Harrison's - Cenneth - Sprayer. Dieses Gerücht verbreitete sie in der gesamten Stadt.
Ich sollte diese Dosen nehmen, über die Wiese durch den Garten laufen, und auf dem Gras schreiben. Ja, schreiben... Ich sollte sie beleidigen, wie ich es normalerweise nie tun würde. Doch ich wollte mich beweisen und schrieb:
Ausländer raus - wir wollen keine Koris hier!
Es stimmte absolut nicht, was ich schrieb. Es stimmte nie und es wird auch nie stimmen. Ich hasste mich selbst. Doch der Drang, Cynthia zu zeigen, wie mutig ich sein konnte, verebbte nicht. Im Gegenteil. Seltsamerweise fühlte ich mich nach dieser Tat merkwürdig berauscht. Ich war - "cool".
Leise schlich ich zurück, verschloss das Gartentor, legte den Schlüssel zurück und stahl mich davon. Ich vergaß die Spraydose in meiner Hand.
Direkt am Abend danach hörte ich von den Nachbarn, dass Mrs Harrison - Lidya - die erste gewesen wäre, die diese Schriftzüge bemerkte. Sie war nicht die Gesündeste, ebenfalls nicht die Jüngste.
Noch heute mache ich mir Vorwürfe, überhaupt auf diese Mutprobe hereingefallen zu sein. Lidya lag nun schon seit mehr als einem halben Jahr im Koma. Niemand wusste, ob sie jemals wieder aufwachen würde.
Doch alle wussten und wissen, wer Schuld hatte. (Nicht wirklich alle, doch ich bildete mir Blicke ein, die mir nie jemand zuwarf, ich glaubte, Getuschel zu hören, das nie erklungen war...)
Meine Mutter kam am Abend des Tages zu mir, wollte mit mir reden, da ich Mrs Harrison doch teilweise kannte. Was entdeckte sie?
Die Spraydosen lagen offen auf meinem Schreibtisch.
Ich weinte, ich bettelte, sie solle mich doch verstehen, doch schweigend verließ sie mein Zimmer.
Um meine Schuld wieder gut zu machen, brachte ich den Harrison's Blumen, sprach mein Beileid aus. Ich freundete mich mit dem 1-Jahr älteren Cenneth an, besuchte mit ihm zusammen seine Mutter, sprach mit ihr und betete, sie möge wieder erwachen.
Und innerlich verfluche ich Cynthia noch immer. Ihre Familie zog fort, ihr wurde keine Schuld zuteil.
Mit der Zeit wurde ich reifer, erwachsener und begriff, was ich angerichtet hatte. Cenneth und sein Vater beschlossen nach einem Jahr, Lidya gehen zu lassen. Ihr Leben abzuschalten. Einfach so...
Nun flehte ich Gott um wirkliche Hilfe an, schwor ihm ewige Treue (wurde jedoch nie gläubig) - und an ihrem letzten Tag, zu der Stunde, als ihr Leben beendet werden sollte, erwachte sie.
Inzwischen weiß ich, was es heißt, zu leiden.
Ich erfuhr viel über Korea, über die Harrison's. Nun wusste ich, dass Cenneth kein Sprayer war, dass Lidya, ihr Mann und ihr Sohn nicht hier waren, um unseren Eltern die Arbeit zu stehlen, wie diese immer gerne behaupteten. Ich lernte, sie zu lieben. Und ich lernte Toleranz. Inzwischen weiß ich nicht einmal mehr, ob ich ohne Cynthia so reif und tolerant geworden wäre. Vielleicht sollte ich ihr danken und ihr ein Bild von meiner Familie schicken.
Mein Name ist Joanne Harrison. Ich bin 24 Jahre alt und habe einen Sohn namens Marcus Cenneth Harrison, benannt nach seinem Vater. Vor einem Jahr schenkte ich ihn der Frau, die ich ins Koma fallen lies. Er hat mehr von seinem Vater als von mir, man erkennt sein koreanisches Blut. Und ich bin stolz darauf, ihn meinen Sohn nennen zu können.
Vielleicht sollte ich ihr wirklich ein Foto schicken...